Alexanders CD-Tipp der Woche: C.A.P. – Lyriklieder live

 In CD-Tipp

Bedeutende Lyrik vertonen – das haben schon viele versucht. C.A.P. bringen Lyrik von Borchert, Kästner, Nietzsche und anderen mit Rockmusik in Einklang. (Alexander Kinsky)


Die großen Gedichte – oft sind sie ähnlich großer Musik unbegreiflich. Man staunt ehrfurchtsvoll bis fassungslos, wie Menschen Worte derart aneinanderfügen können und Reime finden, schlichte oder raffiniert Erdachte, die die Sprache weit über den Alltag zu heben vermögen, Türen ins Universum öffnen.

Ob philosophische Gedichte, ob Balladen, ob große, ob kleine lyrische Weisheiten – es empfiehlt sich, nach und nach durch die Türen die so ein Gedicht öffnet zu gehen:

Es still lesen.

Es laut lesen.

Es andere laut lesen lassen.

Aufnahmen mit Schauspielerinnen oder Schauspielern anhören.

Den persönlichen Bezug finden.

Eine persönliche innere (Sprech- oder Gesangs-)Melodie dazu finden.

Vertonungen suchen.

Falls möglich zunächst nur die Noten studieren.

Falls möglich die Vertonung einstudieren.

Mehrere Aufnahmen der Vertonungen anhören.

Etwa Erich Kästners „Die andere Möglichkeit“ – was wäre, hätte Deutschland den Krieg gewonnen? Ein nachdenklich stimmendes Nachkriegsgedicht, das erschaudern lässt angesichts der Militärdikaturperspektive. Welche Vertonung „passt“ hier? Eine Klavierballade mit Marschrhythmus?

C.A.P. rund um den Ruhrgebietsrockkeyboarder Uli West überraschen musikalisch mit einer Deep Purple Reverenz, so wie C.A.P. auf der im November 2015 in der St. Nikolaus Kirche in Wattenscheid aufgenommenen selbst produzierten CD „Lyriklieder live“ 70 Minuten lang überrascht mit dem selbstbewusst durchgezogenen verblüffenden Bekenntnis, große Lyrik lasse sich eine nach der anderen mit erdiger Rockmusik vereinen.

Trübes Wetter (Gottfried Keller) als Rocksong mit E-Gitarrensolo, Das Lied von der Moldau (Bertolt Brecht) als Bluesrockballade gleich zu Beginn mit dem nächsten E-Gitarrensolo, später auch mit einem Klaviersolo, Herbst auf der ganzen Linie (Erich Kästner) als treibende, nahezu anklagende, aufschreiende Rocknummer, Das trunkene Lied (Friedrich Nietzsche), manchen vielleicht bekannt durch Gustav Mahlers 3. Symphonie, hier ein „ewiger“ Bluesrock, Das graurotgrüne Großstadtlied (Wolfgang Borchert) als Rockballade mit Gitarrensolo wie in Pink Floyds „The Wall“, das Liebeslied (Wolfgang Borchert) als Hardrock, Sagt ihm, dass er zu mir komme (Hugo Wolf) eine weitere Rockballade, Vereinsamt (Friedrich Nietzsche) als fließende Jazzrockballade, Der Fischer (Johann Wolfgang von Goethe) als vollblütig funkige Ballade, Die andere Möglichkeit (Erich Kästner) mit „Smoke on the Water“ Groove und „Jon Lord Orgelsolo“ sowie auch einem Schlagzeugsolo, das Abendlied (Wolfgang Borchert), das mit überhitztem Jazzrock die beklemmende Atmosphäre des Textes noch verstärkt und schließlich Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren (Novalis), gar nicht weit entfernt von Konstantin Weckers Vertonung für das Album „Ohne Warum“, hier eine sanfte Rockballade auch mit Harfe. Am Ende bleibt die Zeit stehen und Kirchenglocken läuten.

C.A.P. nehmen sich für jedes Gedicht (Rock)Zeit. In der erdig mitreißend live aufspielenden Band gibt es zwei Sänger und eine Sängerin, Schlagzeug, Gitarre, Fagott (ungewöhnlich bei Rockmusik, hier großartig integriert!), Bass, Tasteninstrumente und eben auch eine Harfe.

Man mag für sich andere Musik, andere Melodien, andere innere musikalische Charakterzüge für die gewählte Lyrik finden – mit C.A.P. (es gibt noch eine zweite CD mit Lyrikvertonungen, endymion) lyrisch mitzurocken ist, so meint der Schreiber dieser Zeilen, den Versuch wert.

Die C.A.P. Homepage: https://www.lyriklieder.de/

 

Anzeigen von 4 Kommentaren
  • Andreas Pasieka
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    Das hört sich sich ja sehr interessant an. Ich bin immer auf der Suche nach „neuen“ Klängen oder wie in diesem Fall „neuen“ Symbiosen. Werde ich mir besorgen. Vielen Dank für die detaillierte Besprechung!
  • Bettina
    Antworten
    Wirklich eine tolle Truppe, ich habe sie live erleben dürfen.
    So engagiert, symphatisch und homogen, da überträgt sich sofort die Freude an der gemeinsamen Sache. Wann und wo ist der nächste Auftritt??

     

  • Horst
    Antworten

    Alle Achtung vor Euch und Eurer Musik! Was ich da gelesen habe, zeigt mir, dass ich viel verpasst habe. Ich hoffe, es auf Eurer CD zu finden und bin hochnotiviert, Euch mal wieder live zu erleben

  • Jörg Wollenberg
    Antworten
    Die Lyriklieder verbinden so viele Elemente, dass man sich als Zuhörer erst einfinden muss. Sowohl die lyrischen Texte als auch das umfassende Musikkonzept fordern Aufmerksamkeit; doch diese lohnt sich, weil man dann ein Erlebnis feiern kann. Uli West hat zudem bei den Live-Auftritten die bildende Kunst mit ins Boot geholt, wo ich seit der ersten Stunde dabei sein durfte. Gemälde, Filme und Lesungen in einem Live-Konzert – anfangs war ich skeptisch, nachher angezündet, denn es ist ein kulturelles Ereignis. Die Entwicklung bleibt dabei niemals stehen und so bin ich gespannt auf die nächsten Schritte. Weiter so, lieber Uli!

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