Alexanders CD-Tipp der Woche: Hermann Reutter – Chamber Music Lieder Piano Works
Immer wieder nehmen sich engagierte Interpretinnen und Interpreten auch unbekannterer Werke der Musikliteratur an – hier Maria-Elisabeth Lott (Violine), Andreas Beinhauer (Bariton), Sontraud Speidel und Anna Beinhauer (beide Klavier) des deutschen Komponisten Hermann Reutter (1900-1985). (Alexander Kinsky)
Der Komponist und Pianist Hermann Reutter, geboren 1900 in Stuttgart, gestorben 1985 in Heidenheim an der Brenz, war in den 20er Jahren mit zeitgenössischer Musik unter anderem in Donaueschingen und Baden-Baden aktiv und damals auch mit Paul Hindemith in Kontakt. Ambivalent die Zeit des Nationalsozialismus – Reutter war NSDAP-Mitglied mit der Möglichkeit einer Opern-Uraufführung, seine Musik wurde aber auch als „entartet“ eingestuft. Nach dem Krieg war Reutter unter anderem Direktor der Hochschule für Musik in Stuttgart und galt vor allem auch als anerkannter Liedbegleiter.
Eine im März 2018 erschienene CD (Capriccio 5336), aufgenommen im Wolfgang-Rihm-Forum in der Hochschule für Musik in Karlsruhe von 20. bis 25.7.2016, fasst Klaviermusik, Kammermusik und Klavierkunstlieder von Hermann Reutter zusammen.
Energisch legt der 1. Satz von Reutters 1926 uraufgeführter Sonate für Violine und Klavier op. 20 los, um mit dem 2. Thema in eine Traumwelt einzutauchen – man kennt das aus unzähligen Werken der Musikgeschichte, aber einmal mehr kann man staunen, wie individuell inspirierte Komponisten Neues aufzuwerfen imstande sind. Reutters Tonsprache ist spätromantisch konzertant klassizistisch, von keineswegs überschwänglicher Klarheit und Strenge gezeichnet. Speziell die spröde Innigkeit in den zurückhaltenden Passagen (2. Satz!) hat etwas reizvoll Anziehendes. Stilistisch erinnert das etwas an Hindemiths Klangsprache. Die Violinsonate op. 20 hat drei Sätze (1 Äußerst lebhaft und feurig, 2 Benedictus: Sehr langsam und feierlich und 3 Gespenstisch, im Marschrhythmus) und dauert bei Marie-Elisabeth Lott (Violine) und Sontraud Speidel (Klavier) ca. 19 Minuten.
Eindringlichkeit ohne zu forcieren prägen sowohl Komposition als auch Interpretation der auf der CD enthaltenen Klavierkunstlieder vom Hermann Reutter. Er komponiert ganz am Text, jedes Wort wird in subjektiv empfundener Bedeutung erfasst und musikalisch umgesetzt, für die Gesangsstimme wie für den Klavierpart. Das Lautmalerische und Psychologische trumpft aber nie überdeutlich auf. Es singt der im Opernensemble Chemnitz engagierte Bariton Andreas Beinhauer facettenreich wohltönend, am Steingraeber Flügel spielt einfühlsam und vollkommen auf den Sänger abgestimmt Anna Beinhauer.
Die Vier Lieder op. 54 nach Gedichten von Friedrich Rückert entstanden 1940. Auf ein „Herbstlied“ folgt Reutters Fassung von „Liebst du um Schönheit“ – wieder ganz anders als bei Clara Schumann und (wohl die bekannteste Vertonung dieses Textes) bei Gustav Mahler. Wie Reutter hier linear fließend beginnt – das gibt der Vertonung einen ganz eigenen Zauber. Auch „Mitternacht“ hat man wenn dann von Mahler vertont im Ohr, um hier bei Reutter die doch etwas zurückhaltendere Exaltiertheit zu konstatieren, die jedoch keineswegs weniger eindringlich wirken muss (die Interpretation belegt es). Den vierten Rückert-Text „O Sonn, o Meer, o Rose” hat vor Reutter (dieser ganz leidenschaftlich!) schon Robert Schumann vertont.
Reutters 1928 veröffentlichte Tanz-Suite op. 29 für Klavier bezieht neben Konventionellem auch damals modische Tanzrhythmen ein – sechs kurze Salonstücke sind das, betitelt Ländler, Walzer aus der Ferne, Tarantella, Spanischer Tanz, Valse Boston und Shimmy. Beim Shimmy mag man an Joplin und Gershwin denken. Sontraud Speidel verzichtet auf überbetonende Romantizismen und stellt die Stücke klar und direkt vor.
Die Gesänge op. 56 Nr. 1-3 aus dem Jahr 1943 (An die Parzen, Hälfte des Lebens und Abendphantasie) entstanden nach Texten von Friedrich Hölderlin. Noch stärker komponiert Reutter hier charakterlich am Text, die psychologischen Subtexte genau ausleuchtend, ohne vom Musikalischen ins Akademische zu driften. Das sorgt manchmal für intensivierende Brüche im musikalischen Fortlauf. Speziell die fast sechseinhalb Minuten lange „Abendphantasie“ ist ein atmosphärisch ganz starkes Lied, da bleibt die Zeit stehen. Vom Liedgestaltungsduo Anna und Andreas Beinhauer möchte man gerne mehr hören, etwa eine Schubert „Winterreise“ auf CD.
Den Abschluss der CD macht Reutters ganz eigen eindringliches Epitaph für Ophelia für Solo-Violine und Klavier aus dem Jahr 1979. Hamlet-Welt also, Ophelia, die wahnsinnig wird, subtil mehr nach innen gesteigert hier, auch mit einer Violinkadenz, mit den Abschnitten Thema mit Variation: Schnell – erregt, Nr. 1 „Wie erkenn ich dein Treulieb vor den anderen nun?“: Ruhig, Nr. 2 „Auf morgen ist Sankt Valentinstag“: Ganze Takte, Nr. 3 „Sie trugen ihn auf der Bahre bloss“: Rasch und Elegie: „Es neigt ein Weidenbaum sich übern Bach“: Langsam, insgesamt ca. 20 Minuten lang. Auch hier erzeugen Komposition wie dezent klare Interpretation von Lott/Speidel speziell in den (noch) ruhigeren Abschnitten eine starke Innenspannung, die den sich abzeichnenden Wahnsinn als ganz eigene Traumwelt einfängt.
Die CD beim Label Capriccio: https://naxosdirekt.de/items/kammermusik-lieder-klavierwerke-430749
Die Homepage von Andreas Beinhauer: https://www.andreasbeinhauer.com/