Alexanders CD-Tipp der Woche: Miriam Green – Wanderlust

 In CD-Tipp, FEATURED

Das Coverfoto hat etwas sanft Kämpferisches, „es stellt sich dem harten Leben“, während die Bookletfotos ein vollkommen naturverbundenes Daseinsja ausstrahlen. Damit unterstreicht die in München lebende Künstlerin auch optisch ihre Liedsprache der am 12.4.2019 auf Konstantin Weckers Label Sturm & Klang erschienenen CD „Wanderlust“ (S&K 039).  Alexander Kinsky

„Diese Welt hat für alles eine Schublade und für jeden eine Uniform und meistens ist es leichter im Stechschritt neben anderen herzulaufen, als in Schlangenlinien alleine durch den Wald zu irren. Aber ich wünsche Euch allen da draußen, dass ihr die Chance habt, euch selbst zu erfinden. Dass da nichts und niemand ist, der euch sagt, wie ihr zu sein habt oder wie ihr eure Zeit nutzt. Ohne Vorstellungen und Normen, die euch in eine Rolle zwingen, die ihr nicht spielen wollt.“

Gefunden auf Miriam Greens facebook Seite…

Es gibt die Idee, der Mensch wird als vollkommenes Wesen geboren und das ganze Leben ist eine Desillusionierung. Wertschätzung von sowie sensibel konstruktive Arbeit an der ganzheitlichen Natur sowie der von Menschen geschaffenen Kunst wären dieser Idee folgend zwei zentrale Möglichkeiten, der zumal im Turbokapitalismus vehement forcierten Desillusionierung und Destabilisierung allen Seins ganz selbstverständlich mit einem einfachen Ja zu begegnen.

Tausenderlei Kunst ist aus der Desillusionierung geboren, diese Kunst rüttelt auf, sie mag verstören, aber sie ist so unendlich wichtig, sie gibt kalten Fakten eindringliche Emotion, denn das Ja leidet entsetzlich und wir dürfen nie vergessen dieses Leid wahrzunehmen und ganz verinnerlicht sensibel zu bleiben, nicht wie es die Zeit vielfach verlangt völlig zu erkalten. Man denke an Munchs „Schrei“ oder an Schönbergs „Überlebenden aus Warschau“.

Und dann gibt es die Kunst, genauso wie die eben beschriebene aus dem grundsätzlichen Ja geboren, die aber ganz verinnerlicht vom Menschen als vollkommenes, zunächst einmal nur unschuldiges und absolut liebendes Wesen auszugehen scheint, zumindest dies zu vermitteln vermag. In ihr schwingt durchgehend eine Weltgeborgenheit mit. Freilich schläft auch hier der Teufel keineswegs, das ist gleichzeitig eine vom System vereinnahmte und gemästete Riesenindustrie und es gilt ganz tief nach innen zu hören und für sich zu entscheiden was ist Masche, was authentisch.

(Und aber: Jemanden anderes Vorlieben als „Hereinfallen auf eine Masche“ zu erkennen heißt bitte nicht diesen verurteilen zu müssen, sondern vielleicht ihm vergleichend das vorzustellen was man selbst als authentisch annimmt und Überzeugungsarbeit zu versuchen.)

Miriam Greens sanfte, melodische, auf ihre Art ganzheitlich vollkommen naturverbundene Liedermacher-Deutschpopballaden, großteils vom Klavier getragen, sprechen zur Hörerschaft mit einer zweiten, in diesem Genre bisher ungewohnten Stimme, mit Miriams Oboespiel. Was für ein Wunder sind doch die von Menschen geschaffenen Musikinstrumente, hier die Oboe mit ihrer ganz eigenen Klangfarbe. Jedes Musiksolo der Welt erzählt seine eigene Geschichte, die sich nicht exakt einordnen lässt, die jede, jeder für sich individuell aufnehmen und interpretieren mag. Miriam singt ihre sanften und lebensweisen Texte auf Deutsch und Englisch, von Titel 1 bis Titel 9 gegen Zwänge, für die Großeltern, über die Religionen, von der Authentizität, von der Solidarität, vom Glauben, von der Wesentlichkeit eines Tages und über die Zeit, und die eingestreuten Oboensoli erzählen das ihre dazu.

Zum Lied „Der Astronaut“ schreibt Miriam auf facebook: „Wir alle haben diese globale Welt erschaffen, wir leben in ihr und hier, in Deutschland, profitieren wir auch von ihr. Grenzen zu ziehen, wenn es darum geht, den Menschen aus anderen Ecken dieser Erde diese Privilegien nicht zuzugestehen, kann niemals gerecht sein.

Manchmal muss man die Dinge aus der Ferne betrachten. Wir haben die Erde aufgeteilt und nennen Länder, Städte und Wiesen unser Eigen. Aber wie kann das sein, wenn alles, was man aus dem All sehen kann, eine kleine, blaue, runde Kugel ist, ohne Grenzen, ohne Zäune und ohne Besitzer?“

Im Zentrum der CD, Track 5, steht die auch der ganzen CD den Titel gebende „Wanderlust“, und da singt Miriam nicht, da spielt sie nur Oboe. Und da öffnet sich die Oboe als Erzählerin noch persönlicher, noch beseelter, noch individueller. Hier braucht es keine menschliche Stimme, keinen ausinterpretierbaren Text, um alles zu sagen was zu sagen ist, um einen Blick zu gewähren ins Vollkommene des Geborenwerdens und allen Seins.

Zwei der acht durchwegs selbst geschriebenen und genauso durchwegs ungemein sensibel arrangierten Lieder sind englischsprachige Songs. „Enticing Surrender“ entspricht insofern den Gesetzmäßigkeiten idealer Vermarktung wie man sie im Jahr 2019 erwartet, als dazu ein erstaunlich aufwändiges vielschichtiges, ungemein liebevoll erstelltes Musikvideo mit der multiplen Miriam vor allem auch als mit Herz und Seele solidarische Vertreterin alles Guten der verschiedener Religionen in Erscheinung tritt. „Invisible Slaves“ hingegen entstand 2009 und sah unheimlich hellsichtig das Jahr 2015 voraus.

„Invisible Slaves“ und der letzte Titel der CD „Zeitweise“ heben sich im Arrangement etwas von den anderen (vom popballadesken Klavier und den vielfach eingestreuten Oboensoli bestimmten) Titeln ab. „Invisible Slaves“ überrascht mit Streicherkammermusik und Gitarrenbegleitung, während „Zeitweise“ auf das E-Piano-artige Harmoniumspiel Miriams setzt.

Ganz profan hier auch noch erwähnt, empfindet der Schreiber dieser Zeilen für sich die Titel „Der Wahrheitssucher“, „Wanderlust“ und „Zeitweise“ als seine absoluten Lieblingstitel der CD.

Deutschsprachige Lieder zum Thema Zeit gibt es etwa auch bei den Liedern eines postmodernen Arschlochs von Wortfront (ZeiT, 2008; Wortfronts Roger Stein ist ja mittlerweile auch ein Sturm & Klang Labelkünstler) – und bei Udo Jürgens, der 1971 „Wer hat meine Zeit gefunden“ veröffentlichte, auf einen Text der damals 15jährigen Katharina Gerwens. Dieses Lied hat Udo Jürgens 1996 in einem kommerzielleren Arrangement neu aufgenommen, und im September 2014 erklang es im ZDF in der Show zu seinem 80. Geburtstag, dort gesungen von Annett Louisan, die ja auch eine eher mädchenhafte Stimme hat, ähnlich Miriam Green. Assoziationsketten aus der Künstlerwelt…

„Zeitweise“ vollkommen? Nein, hoffentlich immer. Und immer weiter, zumindest auch, naturverbunden.

Da kriegt man richtig Wanderlust.

Miriam Greens Homepage: https://miriamgreen.de/

Die CD im Sturm & Klang Shop: https://sturm-und-klang.de/product/wanderlust-miriam-green

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