Alexanders CD-Tipp der Woche: Shekib Mosadeq – Der Deserteur
Afghanistan, dieses südasiatische Land: seit Jahrzehnten in den Schlagzeilen, Einmarsch der UdSSR 1979, Sturz der Regierung durch US- und saudi-arabisch gestützte Mudschaheddin, dann die Machtübernahme der fundamentalistischen Taliban, schließlich der Sturz der Taliban als eine der Folgen des 11. September 2001, seit 2004 eine islamische Republik. Weltgeschichte, die man chronologisch auflisten und immer wieder (etwa bei wikipedia) aktualisieren kann, lapidar hingeschrieben.
Und doch, das Eigentliche, das Wesentliche: Wo bleiben die Menschen, die einfachen Menschen, die in so ein Land hineingeboren werden, die im Krieg aufwachsen, die nichts anderes kennen als ein Leben im Krieg? Was richtet so ein Leben mit den Menschen an? Wie können sie das tägliche Entsetzen überhaupt bewältigen? Wie „funktionieren“ das Alltagsleben, die Erziehung, die Herzensbildung in so einem Land?
Shekib Mosadeq wurde 1982 in diese Welt hineingeboren. Als er sechs Jahre alt war, wurden seine gebildeten Eltern arbeitslos und er und sein älterer Bruder hatten plötzlich die Familie mit Arbeit auf der Straße zu versorgen. Man stelle sich vor, Hamburg, München, Berlin, Frankfurt, Wien, Zürich – stelle dein sechsjähriges behütetes Kind auf die Straße und lasse es Geld verdienen, und das Wohl der ganzen Familie hängt davon ab, wieviel dieses Kind heimbringt. (Alexander Kinsky)
Shekib Mosadeq schaffte es, auch unter dem Taliban Regime sein aufbrennendes künstlerisches Talent weiter zu entwickeln. Er schrieb als die Taliban entmachtet waren einen Film und spielte darin die Hauptrolle und komponierte die Musik dafür. Und er fasste Fuß mit eigenen Songs. Zentrales Anliegen von Anfang an: Hilfsbedürftige Menschen unterstützen, etwa schwerkranke und behinderte Waisenkinder. Hier manifestiert sich Konstantin Weckers Leitspruch aus dem „Weiße Rose“ Lied „Es geht ums Tun und nicht ums Siegen“ eindrucksvoll ins „Es geht ums Tun und um möglichst erfolgreiche Hilfe im Einzelfall“.
Als Shekibs Songs ab 2006 politisch konkreter wurden, war er bald gezwungen, Afghanistan zu verlassen. 2010 auf 2011 reiste er mit seiner Frau und seiner dreijährigen Tochter nach Europa und landete schließlich in Deutschland, wo ein radikaler Neuanfang bewältigt werden musste, Shekibs Engagement gegen den Krieg sich aber auch hier rasch Bahn brach. Versuche, nach Afghanistan zurückzukehren und dort erneut Konzerte zu geben, scheiterten zunächst leider, ein Konzert wurde von der Polizei mit Gewalteinsatz abgebrochen. Erst 2015 schaffte es Shekibs künstlerischer Einsatz für Flüchtlinge, auch in Afghanistan wieder anerkannt zu werden. Nichtsdestotrotz wurde er bedroht und musste erneut ausreisen.
Im November 2017 hat Shekib nun auf Konstantin Weckers Label „Sturm & Klang“ die CD „Der Deserteur“ veröffentlicht (S & K 028). Das Thema der Lieder auf dieser CD ist der Mensch, der im Krieg aufwächst und leben muss. Shekib gibt hier künstlerisch eingekleidet sehr persönliche, authentische Antworten auf die weiter oben gestellten Fragen – zur trotz des täglichen Entsetzens möglichen Überwindung der Angst, zu den Facetten der Liebe im Krieg für den nach wie vor feinfühligen Menschen (als darin Lebender, etwa auf der Suche nach der Geliebten nach einem Bombenanschlag in Kabul, und auch als Flüchtling), zur eigenen Situation als Deserteur und Waffenverweigerer, und zu Extremsituationen, die schon allein in der Vorstellung nicht auszuhalten sind – die Taliban haben Zivilisten geköpft, darunter ein achtjähriges Mädchen.
Wie bietet man so ein Thema musikalisch an? Wie bringt man das eigentlich Unsingbare an die Menschen? Shekib wählt den Weg einer musikalisch leicht zugänglichen Sprache, musikalisch wie textlich. Er singt die großteils von ihm selbst geschriebenen Songs nicht auf Deutsch, sondern auf Farsi. Die Liedtexte sind auf Deutsch im Booklet abgedruckt, incl. kurzer Einführungstexte. Indem sie Shekib musikalisch mit eingängigen Melodien, suggestivem Pop-Rock, Pop-Chansons, Pop-Balladen aufbereitet und zu Herzen gehend singt und man sie somit „einfach hören kann“, wird die Aussage keineswegs entschärft, aber sie dringt leichter fassbar zum Hörer durch, ja animiert sogar dazu, die auch besonders ausdrucksstark und kräftig arrangierten Songs vielfach mehrmals hören zu wollen.
Mehrmals hören wollen, wie jemand mit einer suggestiven Popballade, die sich von einer Klage zum Aufschrei steigert und wieder zur Klage zurückkehrt, deutscher Titel „Abgetrennter Kopf“, die Fassungslosigkeit, das Entsetzen einfängt, dass ein achtjähriges Mädchen geköpft wurde? Shekib schafft den Spagat – indem er den suggestiv schreitenden Grundduktus des Songs nahezu sogartig durchzieht, und vor allem, indem er auf Farsi singt. Der Song wäre wahrscheinlich, auf Deutsch gesungen, nicht nur der Text mitgelesen, ungleich schwerer zu verkraften – und andererseits mit einer anderen Klangsprache, stilistisch noch härter, vielleicht ins Atonale gehend, zu pädagogisch direkt, zu vordergründig, zu plakativ auf das Thema hinweisend. Auch „Leichen“, versuchend, die Folgen eines Bombenanschlags zu beschreiben, ist als eindringliche Ballade angelegt, einige andere Songs mit härterem Rocksound, melodisch vielfach die afghanischen Wurzeln nicht verleugnend.
Das ist eine CD, die diejenigen, die (wenn es auch große familiäre oder soziale Probleme geben mag) nicht in einem Kriegsland aufgewachsen sind, sehr, sehr nachdenklich machen sollte – wie geht es anderen Menschen auf dieser Welt, nichts ist selbstverständlich, was können wir als Einzelne tun, was tun wir nicht schon längst als Einzelne. Ansätze: Desertieren, Spenden, nicht wegschauen wenn Einzelne im Umfeld Hilfe benötigen, achtsam bleiben im Nahen wie im Fernen, zur Bewusstseinsschärfung immer wieder auch Shekibs CD hören…
Weitere Infos und Bestellmöglichkeit:
https://de-de.facebook.com/shekibmosadeq/
https://www.jpc.de/jpcng/poprock/detail/-/art/shekib-mosadeq-der-deserteur/hnum/7804193