All the lonely people“
Einsamkeit macht krank – und ist politisch gewollt. Das Wort kennt jeder, das Gefühl auch. Dennoch ist Einsamkeit als Gegenstand der Gesundheitsfürsorge unerschlossenes Terrain. Im Gegensatz zu Depressionen, Alkoholsucht und Übergewicht hat man es einfach nicht auf dem Schirm, wenn es darum geht, die drängendsten Probleme unserer Zeit zu benennen. Zu Unrecht, denn Einsamkeit breitet sich aus, macht krank und erhöht die Wahrscheinlichkeit, früher zu sterben. Politik und Wirtschaft sollten endlich was dagegen tun. Tun sie aber nicht, denn einsame Menschen halten still und sind die besseren Konsumenten. Roland Rottenfußer
Eleanor Rigby ist eine einsame alte Dame, die in der Kirche den Reis aufsammelt, der bei der Hochzeit anderer Leute heruntergefallen ist. Pfarrer McKenzie schreibt an den Worten einer Predigt, die niemand hören will. Schließlich spricht er auf ihrer Beerdigung, zu der niemand kommen will. Viele kennen dieses erschütternde Lied, das Paul McCartney für die Beatles komponiert hat: In knappen Strichen skizziert er das hoffnungslose Leben zweier Einsamer, und zuletzt bleibt die bittere Erkenntnis „No one was saved“ – keiner wurde gerettet.
Jeder von uns kennt Figuren wie diese beiden, Menschen die man bedauert, die man vielleicht belächelt. Randfiguren, mit denen man lieber nicht zu lange in Kontakt ist, aus Angst die Schwärze ihrer trostlosen Situation könne auf einen selbst abfärben. Einsame finden wir besonders oft unter alten Menschen, speziell wenn sie verwitwet sind und es ihnen buchstäblich den Boden unter den Füßen wegzieht. Einsamkeit findet sich auch in der Jugend, wenn sich Kinder in ihren Zimmern einschließen – in jener Zwischenwelt, nachdem sie sich von ihrer Ursprungsfamilie entfremdet haben, neue, feste Bindungen aber noch nicht eingehen konnten. Eine Phase übrigens, in der viele physisch unberührt bleiben und sich in einer Coolness-Attitüde einkapseln, die nur ein schwacher Ersatz ist für verstohlen herbeigesehnte Wärme.
Einsamkeit hat viele Facetten
Einsam sind die Fremden in unserer Gesellschaft. Es werden mehr, rechnet man jene hinzu, die sich auch als Deutsche fremd fühlen in eine Gesellschaft, die systematisch Solidaritätsabbau betreibt. Einsam sind diejenigen, die eine schmerzhafte Scheidung zu spät erwischt hat, die keiner mehr haben will oder die in ihren Marotten zu sehr eingemauert sind, um noch für jemand anderen die Zugbrücke herunterlassen zu können. Es gibt eine Einsamkeit der Pflegenden, die sich durch ihr Opfer von einer leichtlebigen Mitwelt zunehmend isolieren. Es gibt eine Einsamkeit der Verkrochenen und der Traumatisierten, die, obwohl sie dem Tod entronnen sind, nicht wirklich ins Leben zurückfinden. Es gibt eine Einsamkeit der Süchtigen – auch jener für die das Starren auf flimmernde Bildschirme Gemeinschaftsersatz geworden ist. Es gibt eine Einsamkeit mitten in tosenden Menschenmengen, eine Einsamkeit selbst in Ehen und Familien, die von außen „intakt“ scheinen. „All the lonely people“.
Einsamkeit ist keine „Charaktereigenschaft“, sondern etwas was jedem passieren kann. Für viele ist es eine Phase ihrer sozialen Biografie, die sie überwinden konnten. Es gibt Eigenschaften, die Einsamkeit begünstigen. Ein eher schroffes, wenig verbindliches Wesen gehört dazu. Armut, Menschenscheu oder gar eine depressive Erkrankung (die vielfach nicht als solche erkannt wird). Nicht zuletzt kann es eine Rolle spielen, wie jemand aussieht. Zumindest bei der „Akquise“ des wichtigsten Sozialkontakts, des Partners oder der Partnerin, ist es hinderlich, wenn jemand als unattraktiv gilt. Die Strafe für dieses „Verbrechen“, das keines ist, ist oft unbarmherzig. Denn verfügt jemand über ein schmuckes Äußeres, finden sich immer etliche, die sich einreden, nun auch in wahrer Liebe zu der schönen Person entbrannt zu sein; fehlen die begehrten körperlichen Reize, wird dem Betreffenden beschieden, man finde ihn zwar nett, aber auf rätselhafte Weise wolle sich Liebesglut nicht so recht einstellen.
Die Wunde der Ungeliebten
Man erkennt Einsame, selbst wenn man ihren Lebenshintergrund nicht kennt, an bestimmten Verhaltensweisen. So wird der Einsame beim Nicht-Einsamen häufiger um einen „Termin“ nachsuchen als dies umgekehrt der Fall ist. Er wird jedoch – wenn er feinfühlig ist – auch schnell zurückweichen, wenn die Resonanz ausbleibt. „Natürlich nur, wenn du nichts Besseres zu tun hast, ich möchte nicht stören“. Kommt es dann doch zu einem Treffen, bricht häufig ein Redeschwall hervor, dem man anmerkt, dass er lange Zeit „angestaut“ worden war. Es ist als ob eine bestimmte Anzahl an geäußerten Worten dem Naturbedürfnis eines Menschen entspräche. In Paarbeziehungen wird der Grundredebedarf durch viele kürzere Kontakte gestillt.
Nicht geliebt zu werden, dauerhaft mit seinem Körper und Charakter nicht „anzukommen“, schlägt der Seele eine dauerhaft schwärende Wunde. Es ist die Kränkung schlechthin, und der Einsame erprobt dann oft abweisende Verhaltensweisen, die dazu dienen, einer erwarteten Zurückweisung zuvorzukommen. Wer „niemanden braucht“, kann auch von niemandem verletzt werden. So passiert es nicht selten, dass man sich von jemandem, der wenig Kontakte hat, aus scheinbar nichtigem Anlass zurückgewiesen sieht, während einen der Vielgeliebte mit routiniertem Charme seinem Freundesharem hinzufügt. Selbst die Klage über „sexuelle Belästigung“ – wenn sie nicht kriminelle Formen annimmt – muss dem Einsamen als Luxusproblem erscheinen: als Gejammer derjenigen, die zu viel von etwas abbekommen, was sie selbst schmerzlich entbehren.
Die Geborgenheit der Herde
Manfred Spitzer, Autor von „Einsamkeit – die unerkannte Krankheit“ sagt: „Einsamkeit ist nicht ‚nur‘ Symptom, d.h. ein Krankheitszeichen, sondern sie ist selbst eine Krankheit.“ Stimmt das, so gehört sie zu den Krankheiten, die am wenigsten als solche erkannt werden, und die Gefahr dabei ist, dass man sie nicht ernst nimmt. Spitzer sammelt in seinem Buch eindrucksvolles Datenmaterial, das sich als Grundlage jeder Diskussion über Einsamkeit eignet. So ist die Zahl der Singlehaushalte von 2000 bis 2014 von ca. 14 Millionen auf 17 Millionen gestiegen, während die Zahl der Haushalte mit mehr als drei Personen von 12 Millionen auf 10 Millionen sank.
Spitzer warnt auch davor, die gesundheitsschädliche Wirkung von Einsamkeit zu unterschätzen. Er führt an, dass Einsamkeit und Schmerz im gleichen Gehirnareal abgebildet würden und somit eng miteinander verwandt seien. „Das Unangenehme am Schmerz wird mithin genau dort im Gehirn repräsentiert, wo auch das Unangenehme des Abgelehntwerdens repräsentiert ist“. Wie brisant das Thema Einsamkeit ist, führt Spitzer darauf zurück, dass Eingebundensein in eine Gemeinschaft für das Individuum stammesgeschichtlich überlebenswichtig war. Aus der „Herde“ ausgeschlossen zu sein, war früher noch stärker als heute lebensgefährlich, denkt man etwa an die gemeinsame Nahrungssuche, die Verteidigung gegen Raubtiere und das gegenseitige Sich-Wärmen in der Nacht. Die unbewussten Spuren dieser existenziellen Bedeutung von Gemeinschaft trägt jeder noch in sich.
Gefährlicher als Rauchen
In einem anderen Versuch, den Spitzer referiert, verringerten sich Schmerzen, dargestellt durch Magnetresonanztomographie, wenn man der Versuchsperson ein Bild des geliebten Partners zeigte. Wer also lindert den Schmerz des Ungeliebten? Die Tragweite des Problems wird auch klar, wenn wir uns bewusst machen, dass Einsamkeit Stress verursacht. Und die körperlichen Folgeprobleme von Stress sind gut erforscht. Sie reichen „von Atemwegserkrankungen, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Infektionskrankheiten oder Krebserkrankungen bis zu Störungen der Wundheilung nach Unfällen oder Operationen.“ (Spitzer) Unter Stresseinfluss werden kurzfristig entbehrliche Körperfunktionen wie Immunabwehr, Sexualtrieb und Verdauung „abgeschaltet“, bei Dauerstress wie chronischer Einsamkeit können sie zumindest beeinträchtigt sein.
Schon nicht mehr überraschend ist nach allem bisher Gesagten der eigentlich schockierende Befund: Wer einsam ist, stirbt eher. Eine Metaanalyse, basierend auf 148 (!) Studien mit insgesamt 308.849 Probanden zeigt, wie sich die Sterbewahrscheinlichkeit bei Einsamkeit im Vergleich zu anderen Risikofaktoren erhöht. Ausgedrückt auf eine Skala zwischen 0 und 0,7 gibt die Studie folgende Werte:
Luftverschmutzung: 0,08
Bluthochdruck: 0,13
Übergewicht: 0,21
Bewegungsmangel: 0,23
Alkohol: 0,32
Rauchen: 0,53
Einsamkeit: 0,64
Großes Problem, kleines Medienecho
Während die anderen Risikofaktoren aber in ihrer Bedeutung mehr oder weniger deutlich erkannt wurden und in unzähligen Ratgeberbüchern sowie -Artikeln ausgebreitet werden, befindet sich die Öffentlichkeit in puncto Einsamkeit nach wie vor im Dämmerschlaf. Man betrachtet Einsamkeit als Bagatelle und das Im-Stich-Lassen von Einsamen als eher lässliche Sünde – sofern die Gedanken der Vielgeliebten deren deprimierende Existenz überhaupt streifen. Der oder die Betreffende möge sich einfach zusammenreißen und sich jemanden suchen, schließlich ist jeder seines Glückes Schmied. „Es gibt Gesetze und Kampagnen gegen das Rauchen, Initiativen für gesundes Essen und ausreichende Bewegung etc. Öffentliche Mittel werden verwendet, um diese Risiken für die Volksgesundheit zu bekämpfen bzw. einzuschränken. Dies ist im Hinblick auf Einsamkeit und soziale Isolation (noch) nicht der Fall.“ (Manfred Spitzer)
Manfred Spitzers Buch trägt eine bemerkenswerte Datenfülle zusammen. Eines jedoch fehlt: eine gesellschaftliche Einordnung der Einsamkeit, die Erkenntnis, dass Isolation politisch gewollt ist – mögen Sonntagsreden auch noch so oft Gemeinsinn und Familie beschwören. Sozial eingebundene, in ihren emotionalen Bedürfnissen gesättigte Menschen kaufen weniger Handys, streamen seltener Content und suchen nicht in Markenklamotten einen kläglichen Identitätsersatz. Zufriedene fallen als Wirtschaftsfaktor weitgehend aus. Da Zufriedenheit – es steckt das Wort „Frieden“ darin – stört, musste sie von denen, die von seelisch verkrüppelten Menschen zu profitieren suchen, gleichsam mit der Wurzel ausgerissen werden. Und die Wurzel des seelischen Gleichgewichts ist nun einmal Gemeinschaft.
Die Einsamkeitsprofiteure
Die Methoden der Einsamkeitsprofiteure sind: Entsolidarisierung im sozialen Leben und Verführung zur Selbstisolation im privaten Leben. Im Beruf ist es der Wettbewerb, der die Menschen auseinander und gegeneinander treibt, der Zwang, in einer Welt aus Wettkampfgegnern und allmächtigen Punktrichtern zu überleben. Die Vereinzelung des Arbeitenden, seine Herauslösung aus gewerkschaftlichen Solidargemeinschaften, scheint geglückt. Im Homeoffice ist keine Zeit für die Tasse Kaffee oder den kollegialen Plausch am Fax-Gerät. Auch zuhause wartet die technologisch hochgerüstete Einzelzelle. Man chattet, aber redet nicht mehr miteinander; man wird geliket, aber von niemandem wirklich gemocht. Facebook-„Freunde“ missbrauchen einander gegenseitig als Teil einer Beliebtheitssimulation zur Aufwertung des eigenen Profils.
Manfred Spitzer schreibt (und belegt) in seinem Buch: „Die Digitalisierung bringt Menschen nämlich nicht, wie oft behauptet wird, zusammen, sondern bewirkt eine Zunahme von Unzufriedenheit.“ Dies gelte insbesondere für die Nutzer „sozialer“ Netzwerke wie facebook, Twitter und Instagram. Eine Studie des American Journal of Preventive Medicine (2017) unter 1787 jungen Erwachsenen zeigte „einen klaren Zusammenhang zwischen dem Erleben von Einsamkeit und der Nutzung von sozialen Online-Medien“. Als mitverantwortlich dafür sieht Spitzer auch den wachsenden Trend zur Selbstbezogenheit, Selbstzurschaustellung und Selbstoptimierung. Der amerikanische Publizist Christopher Orlet spricht von einer „Generation der Millennials, die mit einer Überdosis an Selbstüberschätzung und Technologie zur Eigenwerbung aufwuchs, was in der Kombination einen perfekten Sturm des Narzissmus entfesselt hat.“
Einsamen die Hand reichen
Sieht man also diesen Zusammenhang zwischen Digitalisierung und Einsamkeit, dann wären die Hersteller dieser Technologien wie auch ihre innovationsopportunistischen Unterstützer in der Politik dringend aufgefordert, gegenzusteuern. Dies aber ist kaum zu erwarten. Denn den einen winkt als Lohn für ihre Vermarkungsanstrengungen üppiger Profit, den anderen eine mit Chipstüte und Spielen gefügig gehaltene Menschenherde, von deren isolierten, niedergedrückten, geistig mehr und mehr verschwimmenden Mitgliedern sie ernsthaften Widerstand nicht zu befürchten haben.
Den Kampf gegen die Einsamkeit werden wir schon selbst aufnehmen müssen – jedoch nicht jeder für sich allein. Betroffene müssen alles tun, um sich selbst aus dem Strudel befreien, was umso schwieriger ist, je tiefer man in ihn hineingeraten ist. Vor allem müssen Nicht-Einsame (die ja selbst auch potenzielle Einsame sind) ihnen die Hand reichen und zum Teil eines unterstützenden gesellschaftlichen Umfelds für sie werden. Auf den Umfang oder die Perfektion dieser Unterstützung kommt es nicht in erster Linie an, solange sie aufrichtig ist und – bitte, bitte! – auch mal offline erfolgt.
Buchtipp:
Manfred Spitzer: Einsamkeit – Die unerkannte Krankheit, Verlag Droemer, 317 Seiten, € 19,99
Vielen Dank für diesen schönen und wichtigen Artikel.
„Einsamkeit ist wie ein Regen.
Sie steigt vom Meer den Abenden entgegen;
Von Ebenen, die fern sind und entlegen,
geht sie zum Himmel, der sie immer hat.
Und erst vom Himmel fällt sie auf die Stadt.
Regnet hernieder in den Zwitterstunden,
Wenn sich zum Morgen wenden alle Gassen
und wenn die Leiber, welche nichts gefunden,
enttäuscht und traurig voneinander lassen;
Und wenn die Menschen, die einander hassen,
in einem Bett zusammen schlafen müssen,
dann geht die Einsamkeit mit den Flüssen.
(Rainer Maria Rilke / Aus “ Buch der Bilder“)
Schwer umgehen kann ich mit Menschen, die gar nichts lernen wollen, sondern einfach nur stur oder beleidigt ihre Ansichten und ihre Vorteile erzwingen wollen. Letztendlich tröstet mich im Moment, dass alle Menschen ihre Lebensfrist zur Verfügung steht und dass ich lange Zeit ein relativ schönes und reiches Leben hatte.