Alte Kirchen, neuer Glaube

 In FEATURED, Politik, Spiritualität

Unabhängig vom jeweiligen politischen System erwiesen sich die großen Kirchen immer als verlässliche Partner der Macht — zuletzt auch in Zeiten der Corona-Religion. Sie standen fest zu Königen und Zaren, verdammten die Freiheitsbestrebungen von Bauern und Arbeitern als gottlos, gaben sich „deutsch“ und rassistisch unter Hitler, demokratisch, solange die Demokratie noch halbwegs intakt war, und hygienisch, as der Hygiene-Totalitarismus längst das Zepter schwang. Sie sprachen vom Frieden zu Weihnachten und segneten Kriegswaffen, wo dies opportun schien. Wenn man die Frage stellt, worin eigentlich die Weltanschauung der Kirchen besteht, so muss die Antwort lauten: Es kommt darauf an. Es hängt ganz davon ab, woher der Wind der Macht gerade weht. Ein Bibelzitat und eine smarte Interpretation der Lehre Jesu findet sich mit etwas Fantasie immer. Für die Religion der Liebe wurde getötet, man verbrannte Hexen im Kampf gegen den Satan. Über diese dunkle Historie könnte man mit etwas Großzügigkeit hinweggehen, würden nicht heutige Kirchenfürsten teilweise den Eindruck erwecken, dass ihre maßgeblichen Propheten Lauterbach und Selenskyj heißen. Eine derartige geistig-spirituelle „Flexibilität“ lässt für die Zukunft des Christentums Schlimmes ahnen. Ralf Rosmiarek

 

Umsonst ist nur der Tod, heißt es oft. Beerdigungen und Sterbebegleitung indes sind teuer. Mancher Begleitprozess verursacht Kosten unverschämten Ausmaßes. Zwar liegen der geistige und geistliche Exitus der Kirche(n) schon länger zurück, doch die Physis des Kadavers, der sich noch immer katholisch und evangelisch nennt, zeitigt weiterhin Spuren eines schwachen Pulses. Lebensverlängernde, somit kostenintensive Maßnahmen sollten allerdings gut überlegt sein. Seit August 1919, mit Annahme der Weimarer Reichsverfassung, überlegt nun die deutsche Öffentlichkeit, wie umzugehen ist mit den Resten eines „Monstrums, das ungezählte Menschen (Brüder, Nächste, Ebenbilder Gottes) verfolgt, zerfetzt und gefressen hat, mit dem besten Gewissen und dem gesündesten Appetit …“, so Karlheinz Deschner, der bekannte Kirchenkritiker.

Der Verfassungsauftrag in Artikel 140 des Grundgesetzes formuliert es in Verbindung mit Artikel 138 Absatz 1 der Weimarer Reichsverfassung klar und deutlich: „Die … Staatsleistungen an die Religionsgesellschaften werden … abgelöst.“ Seitdem wird von Seiten des Staates das Problem schlafwandlerisch missachtet, die Kirchen erfreuen sich am gut sitzenden Mantel des Schweigens. Hundert Jahre der Missachtung des Verfassungsauftrages ließen dann freilich doch ein stärker werdendes Grummeln bei den Zahlenden vernehmbar werden.

Die amtierende Bundesregierung, die „Ampel-Koalition“, sieht inzwischen einen gewissen Handlungsdruck und schrieb sich in den Koalitionsvertrag 2021 auf Seite 111: „Wir schaffen in einem Grundsätzegesetz im Dialog mit den Ländern und den Kirchen einen fairen Rahmen für die Ablösung der Staatsleistungen.“ Im Dialog mit den Kirchen? Muss denn tatsächlich tagtäglich neu erinnert werden?

Seit der Reichsverfassung (Artikel 137,1) gilt: „Es gibt keine Staatskirche.“ Auf kirchlicher Seite ist trotz des Siechtums der Appetit noch reichlich vorhanden.

Der kirchliche Standpunkt zählt denn auch rasch die Therapiemaßnahmen auf, die doch zu berücksichtigen seien und so hört man von einer „Bestandsgarantie“, von „Pachtersatzleistungen“, man hört von einem „rechtsbegründenden Herkommen“ und von „Parität“ und überdies haucht man mit zarter Stimme und gefährlichem Unterton von einem „freundschaftlichen Einvernehmen“.

Exodus

Wer in diesen Tagen einen Krankenbesuch unternimmt, ob aus nostalgischen, historischen, religiösen, gar spirituellen Gründen, den mag das Siechtum ehrlich entsetzen. So lag im Jahr 1956 der Anteil der Katholiken an der Bevölkerung in Westdeutschland bei 45,9 Prozent und 50,1 Prozent waren evangelisch. Somit waren 96,0 Prozent der Deutschen nominelles Mitglied einer der beiden Kirchen. Auf dem Gebiet der entstehenden DDR mit 17,3 Millionen Einwohnern waren im Jahre 1946 etwa 14,2 Millionen, also 82,1 Prozent evangelische und rund 2,1 Millionen, das entspricht 12,2 Prozent, römisch-katholische Kirchenmitglieder zu zählen. Noch runde 21,6 Millionen Menschen halten 2021 an ihrer Mitgliedschaft in der Katholischen Kirche in Deutschland fest, im selben Jahr zählte man durchschnittlich etwa 920.000 katholische Gottesdienstbesucher.

1955 weist die Statistik fast 12 Millionen Gottesdienstbesucher deutschlandweit an einem Sonntag aus. Wer durch Taufe und Elternhaus in die Kirche gezwungen wurde, nahm längst seinen Abschied. Das spürte sehr deutlich auch die evangelische Kirche. Sie rechnet für das Jahr 2021 noch ungefähr 19,73 Millionen Menschen zu ihren Mitgliedern. Der Besuch eines evangelischen Gottesdienstes wird für das Jahr 2019 mit rund 683.000 Besuchern ausgewiesen.

Kirchlich-finanzieller Heißhunger

Allem Desinteresse, aller Ermüdung und allem rasanten Mitgliederschwund zum Trotz wird der Kirchenkadaver noch weiter mit enormen Summen aus der Staatskasse befördert. Ermüdet ist die interessierte Seite hinsichtlich der Finanzen denn auch gar nicht, betont vielmehr stetig, dass die staatlichen Leistungen an die christlichen Kirchen sich als Ausgleich für die Säkularisation und die damit einhergegangenen Enteignungen der Kirchen verstehen. Von 1949 bis 2021 haben die Kirchen insgesamt über 19,6 Milliarden Euro nur an Staatsleistungen eingestrichen. Staatsleistungen verstehen sich als Zahlungen ohne Zweckbindungen. Sie haben nichts mit den kirchlichen Einnahmen aus der Kirchensteuer — über die wäre ohnehin extra zu sprechen — zu schaffen und sollten keinesfalls verwechselt werden mit staatlichen Subventionen, die von der öffentlichen Hand zur Erreichung eines bestimmten öffentlichen Zweckes gezahlt werden.

Die Zahlungen der Bundesländer, außer Hamburg und Bremen, an die evangelische und katholische Kirche sind für Jahr 2021 mit rund 581 Millionen Euro, exakt 580.997.900 Euro, ausgewiesen. Für 2022 beläuft sich nach dem Informationsportal Staatsleistungen die Gesamtsumme der Zahlungen auf 594 Millionen Euro 594.017.50 Euro. Wer also wollte hier schon Verzicht leisten? Nur natürlich scheint es also, den ‚Status quo‘ — mit allen finanziellen Vorteilen — so lange wie möglich zu erhalten. Natürlich ist dabei ebenso: Je länger die Kirchen sich einer gesetzlichen Regelung verweigern, desto höher die geforderten Summen. Doch wäre nicht endlich sehr anders zu fragen, vor allem danach, wie die Kirche(n) zu ihrem ungeheuren Vermögen überhaupt kam(en)?

Die blutige Religion der Liebe

Hilfreich zeigt sich dann immer ein Blick in die Kirchengeschichte: Erinnert sei an einen Vernichtungsexzess aus dem Jahre 1349 an jüdischen Einwohnern in mehr als 350 deutschen Städten und Dörfern. So wurden in Nürnberg die Häuser der Ermordeten beschlagnahmt, ebenso ihr Vermögen. Der Bischof von Bamberg kassierte kräftig, in seiner eigenen Stadt übernahm er nahezu vollständig die Immobilien.

Neben den Juden brannten freilich auch Hexen und Ketzer, Frauen wie Männer. Dieses Brennen war freilich „das Gute“ und der Religion der Liebe angemessen mit ihrem besonderen Menschenbild.

Der Einzelne war dabei immer zur Freiheit und gar in die doppelte Verantwortung Gott und der Schöpfung gegenüber gerufen, gilt schließlich: „Man muß Gott mehr gehorchen als den Menschen.“ Wer hält sich wohl schadlos? „Ihr Hab und Gut verfällt dem Fiskus Ihrer Fürstlichen Gnaden des hochwürdigsten Herrn Marquard Bischofs zu Augsburg und Domprobstes zu Bamberg“, lautete die Beschlussformel unter den Todesurteilen. Jüdisches Vermögen löste immer klerikale Reiz- und Neidzustände aus, so hatte 1931 Oberhirte Michael Buchberger von Regensburg sein Auge auf das „übermächtige jüdische Kapital“ geworfen, ein „Unrecht am Volksganzen“ natürlich.

Der Vertreter der deutschen Bischöfe bei der Reichsregierung, Hermann Wilhelm Berning, ließ sich im April 1933 von Adolf Hitler unterrichten: „Die katholische Kirche hat fünfzehnhundert Jahre lang die Juden als Schädlinge angesehen, sie ins Getto gewiesen. (…) Ich gehe zurück auf die Zeit, was man fünfzehnhundert Jahre lang getan hat (…) und vielleicht erweise ich dem Christentum den größten Dienst.“ Der Preußische Staatsrat und Bischof von Osnabrück protestierte nicht, schickte Hitler vielmehr — „als Zeichen meiner Verehrung“ — sein Machwerk Katholische Kirche und Deutsches Volkstum und unterschrieb stets „Mit deutschem Gruß und Hitler Heil!“. Moralisches Blähen seitens der Kirche? Unangemessen, mehr als das. Entschädigungsforderungen: bodenlos unverschämt.

Wenn der Staat seines Amtes waltet …

Apropos Moral. Betonte Erzbischof Conrad Gröber von Freiburg, Förderndes Mitglied der SS zumal, nicht 1937, dann 1940, nach der Reichspogromnacht, wiederholend und mit „Empfehlung des Gesamtepiskopats“ im Handbuch der religiösen Gegenwartsfragen?:

„Unsere Zeit geht mit Recht darauf aus, die blutleere, entwurzelte, außerhalb der Bindungen stehende Geistigkeit des Liberalismus und Marxismus zu überwinden (…). Daher wird die katholische Erziehung nachdrücklich alle Bestrebungen unterstützen, die darauf abzielen, einen gesunden, starken, geschickten, leistungsfähigen Menschen heranzuziehen. Sie steht positiv zu einer gesunden Erb- und Rassenpflege (…). Noch mehr als früher wird sie das Leben in den natürlichen Ordnungen zum Gegenstand ihrer Bemühungen machen: (…) die Erziehung zum deutschen Menschen mit seinen Grundeigenschaften des Heldischen, des Kämpferischen, der Aufgeschlossenheit für Ehre und vor allem der opferfrohen Einsatzbereitschaft für die Gemeinschaft. Sie stellt sich damit freudig in den Dienst der nationalpolitischen Erziehung; sie sieht im Einsatz für Heimat, Volk und Staat eine zuletzt religiös begründete Verpflichtung.“

Auch bleibe eine protestantische Stimme aus dieser Zeit nicht unbeachtet: „Ein neuer Anfang staatlicher Geschichte steht immer irgendwie im Zeichen der Gewalt. Denn der Staat ist Macht. Neue Entscheidungen, neue Orientierungen, Wandlungen und Umwälzungen bedeuten immer den Sieg des einen über den anderen. Und wenn es um Leben und Sterben der Nation geht, dann muss die staatliche Macht kraftvoll und durchgreifend eingesetzt werden, es sei nach außen oder nach innen. Wir haben von Dr. Martin Luther gelernt, dass die Kirche der rechtmäßigen staatlichen Gewalt nicht in den Arm fallen darf, wenn sie tut, wozu sie berufen ist. Auch dann nicht, wenn sie hart und rücksichtslos schaltet. Wir kennen die furchtbaren Worte, mit denen Luther im Bauernkrieg die Obrigkeit aufgerufen hat, schonungslos vorzugehen, damit wieder Ordnung in Deutschland werde (…). Das muss die doppelte Aufgabe der evangelischen Kirche auch in dieser Stunde sein. Wenn der Staat seines Amtes waltet gegen die, die die Grundlagen der staatlichen Ordnung untergraben, gegen die vor allem, die mit ätzendem und gemeinem Wort die Ehe zerstören, den Glauben verächtlich machen, den Tod für das Vaterland begeifern — dann walte er seines Amtes in Gottes Namen!“, so der Generalsuperintendent der Kurmark Otto Dibelius in seiner Festpredigt zur Eröffnung des Reichstages am 21. März 1939.

Walten solle er, der Staat, auch weiterhin und unbedingt auch im Jahre 2022 und so ruft der Oberhirte von Bamberg, Ludwig Schick, als Erstunterzeichner, ihm erneut in der „Bamberger Erklärung“ gegen „rechtes Gedankengut und Verschwörungstheorien rund um die Corona-Proteste“ zu: „die Einhaltung von Auflagen bei Versammlungen sicherzustellen und auch konsequent durchzusetzen“. Wäre es nicht aber die Aufgabe gewesen, die „Seelsorge“ zu gewährleisten und „konsequent durchzusetzen“: Gottesdienste zu feiern, Sakramente zu spenden? Sakramente sind jedenfalls digital nicht zu spenden.

Wäre nicht einzuschreiten gewesen gegen die Totalisolation und die damit einhergehende Vereinsamung und das Dahinvegetieren von Sterbenden, Kranken, Pflegebedürftigen? Die Legende geht, einst habe ein Heiliger sogar Leprakranke umarmt.

Der jetzige Papst trägt den Namen des Heiligen nun — immerhin zur Erinnerung noch — als Künstlernamen. Ach, die Hirten. „Der Herr ist mein Hirte“, heißt es im Psalter. Das Bild der Schafe und der Hirten findet sich bezeichnenderweise sowohl in der politischen Philosophie als auch im Sprachgebrauch der Kirchen. Der Hirte kümmert sich um die Schafe, doch am Ende sind sie Nutztiere und werden geschoren, gemolken und geschlachtet, ihrerseits fehlt es dann an Zeit zum Bekümmertsein. Der Ausgang des Menschen aus der selbstverschuldeten Schaf-Eigenschaft geht also nur durch eigene Initiative und mit der Rückgewinnung von Kontrolle. „Nicht die Diktatoren schaffen Diktaturen, sondern die Herden“, so der französische Schriftsteller Georges Bernanos.

„Die Frage nach unserer Theologie!“

Nun aber ist es einmal mehr Zeit für „die Frage nach unserer Theologie!“ Der Kirchenkadaver bedarf offensichtlich — in unregelmäßigen Zeitabständen — des Austausches seines Füllstoffes, das Glaubenssystem ist einmal mehr oder weniger gründlich durchzuspülen, um die Gefäße einigermaßen geschmeidig zu halten. So bunt ist unser Glaube hieß denn auch zu Anfang der 1980er Jahre eine katechetische Handreichung zur katholischen Glaubenslehre. Da der Titel auch im katholischen St.-Benno Verlag zu Leipzig erschien, mochte die vermeintliche Buntheit gegenüber der marxistischen penetranten Rotlackierung manchem reizvoll erscheinen.

Doch Routine, Gewöhnung oder Ermüdungserscheinungen lassen am jeweiligen Glauben bei geistlichem Personal wie den Gläubigen das Desinteresse wachsen. Drängend wird das Hauptproblem der Kirche angesichts der Abwendung vom Evangelium in Inhalt und Sprache, das Schwinden von Transzendenz, der vergessenen Rede von den Letzten Dingen, der Verhunzung der menschlichen Dimensionen von Liebe und Tod. Wie also umgehen mit dem Erbe? Und es scheint als wollten die Kirchen — Synodaler Weg und „in die Zukunft aufbrechen, zeitgemäß werden“ — sich auf die Programmatik von Reichs- und Landesbischof Ludwig Müller aus dem Jahre 1935 besinnen: „Gefordert wird von uns … in der Kirche eine neue Theologie! … Wir müssen dann auch die Folgerungen ziehen – ohne Furcht! … Dazu ist erforderlich, daß wir unser ganzes bisheriges Denken auflockern und in Frage stellen. Wir dürfen dabei auch nicht haltmachen vor festen Begriffen und Denkbahnen. Wir müssen ganz neu denken und auch formulieren!“

Abschied vom Vater, dem Allmächtigen …

Es scheint überhaupt, dass die christliche Kirche aktuell nicht mehr an ihrem Fundament interessiert ist. „Auflockern“ plärrt das Gebot der Zeit. Betonte vor ein paar Jahren schon der ehemalige Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und der amtierende bayerische Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm: „Wir müssen Abschied nehmen von einem Bild von Gott als einem, der alles unter Kontrolle hat.“ Doch ist ein Gott, der nicht allmächtig ist, noch ein Gott der Christenheit? Wer Gott seiner Allmacht, seiner Allwissenheit beraubt, der schafft Substanzlosigkeit, der ist vor allem nicht mehr Christ. Bekennen Christen nicht aber im Nicänischen — dem großen — Glaubensbekenntnis: „Wir glauben an den einen Gott, den Vater, den Allmächtigen, der alles geschaffen hat, Himmel und Erde, die sichtbare und die unsichtbare Welt?“*

Bekennen sie nicht ferner, „den einen Herrn Jesus Christus, Gottes eingeborenen Sohn, aus dem Vater geboren vor aller Zeit: Gott von Gott, Licht vom Licht, wahrer Gott vom wahren Gott, gezeugt, nicht geschaffen, eines Wesens mit dem Vater; durch ihn ist alles geschaffen. Für uns Menschen und zu unserm Heil ist er vom Himmel gekommen, hat Fleisch angenommen durch den Heiligen Geist von der Jungfrau Maria und ist Mensch geworden“? Liegt hier nicht für den Christen die Botschaft von Weihnachten, die ihn glauben lässt, dass Jesus Christus, „wahrer Gott vom wahren Gott“ ist und Fleisch angenommen hat und zum Heil des Menschen auf die Erde kam? Niemand muss das glauben, der Christ allerdings schon.

Von gerechter Sprache zu gerechter Strafe

Vorbei sind die Zeiten, als eine Kirche selbstbewusst schmetterte: „Ein feste Burg ist unser Gott“ und mahnte: „Das Wort sie sollen lassen stahn“. Transformationen nun, schleichende Distanzierung vom Glaubensbekenntnis. Mancher gar sieht im Koran ein drittes Testament. Der lateinische Begriff „Sola scriptura“ („allein durch die Schrift“) galt lange Zeit als Alleinstellungsmerkmal der evangelischen Kirche. Lutherisches Fundament: die Bibel als die einzige Quelle und Norm des christlichen Glaubens. Die Reformatoren wollten zurück „zu den Quellen“ („ad fontes”) und orientierten sich an den humanistischen Bildungsidealen zu Beginn der Neuzeit. Die Betonung der Heiligen Schrift als alleinige Autorität war immer auch die Abgrenzung zur römisch-katholischen Kirche.

Im Mittelalter war es üblich, dass die Heiligen Schriften durch die Brille der Kirchenväter und Konzilsbeschlüsse gelesen wurden. Doch Luthers Fundament bekommt zunehmend erhebliche Risse. Bibelausgaben nun in vermeintlich „gerechter Sprache“, in „einfacher Sprache“. Der Journalist und bekennende Christ Peter Hahne betonte bereits 2012: „Das feministisch-ideologische Allotria wirkt wie der Todeshauch über Luthers Kirche. So wird die gerechte Sprache zur gerechten Strafe einer entvölkerten Volkskirche.“

„In der Kirche eine neue Theologie!“ heißt nun zudem: „Tanzen gegen Rassismus“, „diversitätssensibler Geschichtsunterricht“, „Gendertalk“. „Rassismuskritisches Lehren und Lernen“ soll endlich auch im Religionsunterricht Platz finden. Nietzsches These vom toten Gott wird immerhin noch widersprochen. „Gott ist queer“, verlautbart man nun. Wer lacht denn da?

Zwischendurch sei erinnert an die staatliche Verschwendung von Steuermilliarden für die Vorfeldorganisationen rot-grüner Parteiungen, sogenannter christlicher Kirchen, die in „enger Abstimmung mit zivilgesellschaftlichen Partnern die eigenen Angebote … profilieren, … konzentrieren und gegebenenfalls … reduzieren“ wollen. Es braucht dann eine „lesbisch-schwul-bi, inter- und trans-inklusive Theologie“, betont die Theologin Kerstin Söderblom und wird prompt prämiert. Die christliche Religion unterliegt der Wandlung zur neuheidnischen Natur-, Gender-, Medizin-, Wissenschafts-Religion. Bereits 1958 erhob Joseph Ratzinger schwere Bedenken gegen eine „Kirche von Heiden, die sich noch Christen nennen“. Auch die manichäische Denkungsart bleibt beliebt. Oder wie sonst sind die Äußerungen der amtierenden Ratsvorsitzenden der EKD, Annette Kurschus, zu deuten, die sich für die Ausgrenzung von Christen ausspricht, wenn sie nicht rot-grüner Gesinnung sind?

Vor dem letzten Kirchentag stellte sie heraus: „mit denen, die das demokratische System in seinem Kern angreifen möchten, gilt es nicht den Dialog zu suchen, sondern ihnen ist entschieden entgegenzutreten“. Aber weder waren tapfere Schulschwänzer vom Klub Fridays for Future gemeint, die nach eigenem Bekunden den „Systemwechsel“ wollen, noch war es die Linkspartei, die als SED über reichlich Know-how bei der Errichtung eines „antifaschistischen Schutzwalls“ verfügte und hinsichtlich der Ausgrenzung mit diktatorischem Können brillierte, sondern die AfD.

Das alte Jesus-Wort „Kommt her zu mir, alle … “ wird ebenfalls neu übersetzt, sogar in evangelisch-katholischer Einheitsübersetzung, nur weit genug entfernt vom überlieferten Urtext: „Kommt her zu mir, alle, die ihr geimpft und genesen seid, denn dann, aber nur dann will ich euch erquicken.“

Im Dezember 2021 wird die Ratsvorsitzende Kurschus gegenüber der Welt betonen: „Alle, die in diesem Jahr zu Weihnachten einen Gottesdienst feiern wollen, werden dazu die Gelegenheit haben“, dabei nicht vergessen hinzuzufügen: „Dies allerdings nach 2G- beziehungsweise 3G-Regeln, inklusive Prüfung von Impfzertifikaten.“ Im Deutschlandfunk dann ihre die staunenmachende Erklärung: „Und wir wissen auch mittlerweile doch gesichert, dass keine erkennbaren gesundheitlichen Schäden von einer Impfung ausgehen.“ Die Einspritzung mit zweifelhaften Stoffen hält sie für „eine Pflicht aus christlicher Nächstenliebe heraus“. Von einer „moralischen Impfpflicht“ schwafelt ebenso Erzbischof Ludwig Schick gegenüber der Zeitung Fränkischer Tag und spinnt die Märchenerzählung ungeniert weiter, die Impfung hätte auch oder sogar vor allem mit dem Fremdschutz zu tun. Überdies wollte der ehemalige Vizepräsident des evangelischen Kirchenamts, Thies Gundlach, nur noch Menschen erreichen, „die kirchliche Arbeit von der Verkündigung über die Diakonie bis zum Rettungsschiff richtig finden und unterstützen wollen“. „Wenn nur die Leute nicht wären! Immer und überall stören die Leute. Alles bringen sie durcheinander“, so Hans Magnus Enzensberger.

Schließlich stellt in einem Interview mit dem Magazin Zeitzeichen der Zeitgeistliche Bedford-Strohm heraus: „von den bisherigen Gemeinden, von unserem bisherigen Kirchenleben“, ist Abschied zu nehmen, denn wieder einmal müsse man „viel radikaler als bisher hinhören und fragen, was in der Gesellschaft gebraucht wird“. Man darf versichert sein, ein Bill Gates, ein Klaus Schwab werden Antworten haben, kleinere Zwischenfragen beantworten dann ein Olaf Scholz und ein Robert Habeck. Wer Zeitgeist predigt ist sicher: Die Zuschüsse aus dem allgemeinen Steueraufkommen fließen weiter. Offensichtlich wird hier freilich das alte Problem mit dem — wie auch immer gearteten — Glauben, das meine Großmutter trefflichst auf den Punkt brachte: „Wer‘s glaubt, wird selig, wer nicht, der auch.“ Der Tod mag sich so bannen lassen. Sterben zu müssen, ist nur Sache der Sterblichen. Die klerikalen wie auch die säkularen Kleriker sind sich bewusst: Wir sind unsterblich. Mag die Kirche alt sein, ihr Glaube ist neu.

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Dank an den Rubikon, www.rubikon.news, wo dieser Artikel zuerst erschienen ist.

Anzeigen von 3 Kommentaren
  • Jürgen Schwerdt
    Antworten
    Mein Vater, Jahrgang 1925, hat immer wieder kopfschüttelnd von seiner Konfirmationsprüfung berichtet. Gefragt worden ist er damals: “Was für einen Glauben hat unser Führer?” Die erwünschte Antwort war: “Er hat einen Berge versetzenden Glauben!”
    Wie in der Politik lässt sich auch bei den Amtskirchen viel Übel meines Erachtens auf Narzissmus und Co-Narzissmus zurückführen.
  • Hope
    Antworten
    Früher habe ich mal an Gott geglaubt, an den Weihnachtsmann, an den Nikolaus und an Jesus. Und heute? Glaube ich immer noch an alles.

    Einige Psychologen/ Psychiater nennen das heute auch eine PTBS-Persönlichkeitsstörung, welche bei mir zu einer Schwerbehinderung geführt hat.

  • Hope
    Antworten
    Kirche und Staat:

    Sind Sie eigentlich auch dafür, dass die Verjährungsfristen bei sexualisierter Gewalt komplett abgeschafft werden? Die Bundesregierung jedenfalls will das nicht. Viel Zeit bleibt nicht mehr für die ÜBERLEBENDEN nach dem 2.Weltkrieg. Sie, die Bundesregierung, will jedenfalls die jetzt noch leidenden Opfer sexualisierter Gewalt nach dem 2. Weltkrieg einfach nicht entschädigen und will sie einfach verrecken lassen.

    Ach was, wovon redet der denn hier: Ich rede davon:

    https://www.youtube.com/watch?v=j3sUibSUnu0

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