Am Correctness-Marterpfahl

 In FEATURED, Kultur, Politik, Roland Rottenfußer

„Woke“ Aktivisten wüten gegen „Kulturelle Aneignung“, traditionelle Kunst und Kinderbuch-Klassiker. Die Musikerin Ronja Maltzahn musste es bitter erfahren: Fridays for Future verbot ihr einen Auftritt auf einer Demo, weil sie Dreadlocks trug. Eine traditionelle Haartracht schwarzer Jamaicaner. Als Weiße. Warum aber sollen Menschen heutzutage nur noch aussehen dürfen, wie es angeblich der eigenen Hautfarbe bzw. Kultur angemessen ist? Und wer bestimmt überhaupt darüber, was „erlaubt“ ist? Der Zeitgeist ist mittlerweile so aufgeheizt, dass ein Shitstorm im Wasserglas dazu führen kann, dass Auftritte gecancelt werden oder gar berufliche Existenzen ins Wanken geraten. Der Ravensburger Verlag hat kürzlich wegen „vieler negativer Rückmeldungen“ zwei Bücher zu dem bisher als harmlos geltenden Thema „Winnetou“ zurückgezogen. Die Bücher schürten kolonialistische Vorurteile und seien ein Fall von „kultureller“ Aneignung. Dürfen also nur noch Indianer über Indianer schreiben? Oder ist schon die Verwendung des „I-Worts“ sträflich? Es ist derzeit nicht leicht, sich öffentlich zu äußern, ohne dass an allen Ecken und Enden Correctness-Fallen lauern. Manche finden es richtig, im Umgang mit Minderheiten etwas sensibler zu sein, als es früher üblich war. Andere betonen, es sei einer freien Gesellschaft unwürdig, nur noch darüber zu verhandeln, „was man noch darf“. Es wird Zeit, sich die Argumente für und wider genauer anzuschauen. Roland Rottenfußer

 

In Nordkorea sind nur 28 verschiedene Frisuren erlaubt. In Deutschland, so könnte man meinen, ist das anders. Da darf doch jeder die Frisur tragen, die er will. Das dachte auch Ronja Maltzahn, Songwriterin aus Münster, die bei einer Veranstaltung von „Fridays for Future“ am 25. März 2022 ein paar Lieder für die Umwelt vortragen wollte. Doch da hatte sie sich zu früh gefreut. Die Veranstalter luden Ronja kurzerhand aus. Der Grund: ihre Rasta-Lockenpracht. Damit hätte sie sich ein Symbol der schwarzen Bürgerrechtsbewegung angeeignet. Dies sei mit der antirassistischen Überzeugung von „Fridays“ nicht vereinbar. Die Sängerin könne schon auftreten, jedoch nur, wenn sie sich die Haare abschneiden ließe. Es gebe wichtigere gesellschaftliche Probleme, erklärte die Sängerin.

Nach Ansicht vieler Aktivisten gibt es die aber offensichtlich nicht. Kulturelle Aneignung – darunter versteht Wikipedia die „Übernahme von Ausdrucksformen oder Artefakten, Geschichte und Wissensformen von Trägern einer anderen Kultur oder Identität“. Dies scheint auf den ersten Blick nicht skandalös zu sein. Mehr noch: Es wirkt sympathisch, Zeugnisse „fremder“ Kulturen einmal auszuprobieren. Gerade in der bunten Welt der neueren Spiritualität und Esoterik ist „Aneignung“ Teil eines gern gepflegten Lifestyles. Man denke nur an tibetische Gebetsfahnen im Garten, an Klangschalen (fernöstlich), Traumfänger (indianisch) sowie Zimmerschmuck wie die Thangkas, tibetische Rollbilder, auf denen Gottheiten dargestellt sind.

Auch bestimmte gern praktizierte, aus Indien stammende Meditationstechniken sind „Aneignung“, ebenso Yoga, Qi Gong, Feng Shui oder Ayurveda. Wenn’s hilft… Hinzu kommen Speisen und Getränke aus Übersee, wie sie etwas in „Weltläden“ zu haben sind: Tee, Schokolade oder Gewürze. Die wenigsten, die sich für dergleichen in Deutschland interessieren, dürften „echte“ Tibeter oder Inder sein. In bestimmten Milieus in Deutschland findet man eine ernsthafte, langanhaltende Beschäftigung mit den „angeeigneten“ Kulturen, verbunden z.B. mit dem Studium buddhistischer oder islamischer Schriften. Es scheint, als neigten gerade weltoffene, vielseitig gebildete Westler zur „Aneignung“, während dumpfere Charaktere bei Currywurst, Bier und Gemälden röhrender Hirsche im Wohnzimmer bleiben.

Weiße „Rosinenpickerei“

Ich habe die spirituelle Szene hier als Beispiel gewählt, weil ich sie recht gut kenne. Natürlich gibt es auch andere Anlässe für „kulturelle Aneignung“, etwa den Fasching, in dem Verkleidungen als „Indianer“, „Chinese“ oder „schwarzer Eingeborener“ durchaus zu beobachten sind – oder vielmehr waren. Ich erinnere mich etwa an einen Auftritt meines Vaters als „Othello“ bei einem Motto-Fasching, der der Welt der Oper gewidmet war. „Blackfacing“ also – heute ein Sakrileg. Ein Sündenpfuhl „kulturellen Aneignung“ ist natürlich die Musik- und Performance-Szene, die Stile sowohl musikalisch als auch visuell adaptiert und mit eigenen Impulsen vermischt. In der Kunst fühlte sich etwa Picasso von afrikanischen Masken fasziniert, der Rock-Musiker Peter Gabriel von afrikanischen Klängen. Soll dies alles nun auf einmal böse sein – Rassismus?

Es empfiehlt sich, sich die Klagen „woker“ Aktivisten einmal genauer anzuschauen. Schließlich geht es um ein wichtiges Gut: Minderheitenschutz, also den Versuch, alles zu vermeiden, wodurch sich die Angehörigen gesellschaftlich diskriminierter Gruppen missachtet, verhöhnt oder bestohlen fühlen könnten. Der Fairness halber muss festgestellt werden: Correctness-Wächter geißeln beispielsweise nicht den Verzehr einer Pizza durch einen Deutschen. Hier findet ja ein Austausch von Essgewohnheiten zwischen zwei Völkern des reichen Nordens statt, beide einer privilegierten Kultur angehörend. Kritisiert wird vielmehr die Aneignung von Artefakten oder Verhaltensweisen einer unterdrückten durch Angehörige einer dominanten Kultur. Gegeißelt wird u.a. „Rosinenpickerei“. Weiße könnten mit Versatzstücken der afrikanischen Kultur spielen, ohne selbst die diskriminierenden Alltagserfahren von Menschen schwarzer Hautfarbe in Europa teilen zu müssen – so der Vorwurf. Es bestehe in der Regel kein Mitspracherecht der „Bestohlenen“ über das Ob und Wie derartiger kultureller Assimilation. Vielfach wird in solchem Verhalten sogar eine Verharmlosung der kolonialistischen, also rassistischen, Vergangenheit gesehen.

Alles ist „Rassismus“

Es müssen nun aber ein paar gewichtige Einwände gegen das Konzept des „kulturellen Aneignung“ formuliert werden. Zunächst ist es wichtig, fragen, ob derartige Vorwürfe überwiegend von den Betroffenen selbst kommen oder von speziell für die Jagd auf Unkorrekte „geschulten“, kulturpolizeilich ambitionierten Mitgliedern der Mehrheitsgesellschaft. Hier zeigt sich in bestimmten Milieus ein Diffamierungsfuror, der es nahezu unmöglich macht, nicht aus irgendeinem Anlass als „Rassist“ beschimpft zu werden. Dies ist speziell für Deutsche vor dem Hintergrund der Judenverfolgung im Dritten Reich schmerzlich. Dabei mahnt uns ja gerade diese geschichtliche Erfahrung besonders, das Augenmaß zu bewahren. Wo reproduziert jemand nur arglos ein Klischee der Art „Afrikaner trommeln gern“, und wo betrachtet er Angehörigen einer anderen Ethnie als minderwertig Menschen?

Wann aber ist jemand als „Opfer“ zu betrachten? Wenn wir uns noch einmal die Indien- und Tibet-Mode in der spirituellen Szene anschauen, dann ist feststellbar, dass die „Anbieter“ häufig sehr offensiv mit der Verbreitung ihrer Kultur umgehen und diese als Geschäftsmodell nutzen. Ein tibetisches Kulturzentrum bietet zum Beispiel regelmäßige Seminare und Vorträge mit traditionell gekleideten „Lamas“ (buddhistischen Meistern) an, im Shop werden Thangkas, Räucherstäbchen, Buttertee und tibetische Kekse verkauft. Die Besucher eignen sich auf diese Weise Bruchstücke der „fremden“ Kultur an, die fernöstlichen Gastgeber zum Ausgleich das Geld der europäischen Interessierten.

Der Rassismus-Diskurs, wie er heute im Kontext der „kulturellen Aneignung“ geführt wird, ist in seinen extremen Ausprägungen mitunter selbst rassistisch. Lange nicht mehr war so viel von Hautfarben die Rede wie gerade in der Epoche der aufkommenden Wokeness-Kultur. Betrachten wir als Beispiel die Debatte über Dreadlocks: Hier wird von Tugendwächtern eine Verhaltensweise definiert, die Schwarzen erlaubt ist, Weißen dagegen nicht. Es gibt jetzt also wieder so etwas wie eine falsche Hautfarbe in einem bestimmten Kontext – eine Mentalität, die wir überwunden glauben. Im Grunde wäre eine Welt wünschenswert, in der solche Kriterien überhaupt keine Rolle mehr spielten. Das ganze Konzept der „Critical Whiteness“ läuft auf die Problematisierung eines vom Betroffenen nicht selbst „verschuldeten“ Körpermerkmals hinaus. Der weiß Geborene darf sich – so er in einer bestimmten „Szene“ reüssieren will – in seinem So-Sein niemals unbefangen bewegen. Es besteht die Pflicht zur andauernden Selbstproblematisierung.

Verbot kultureller Vermischung

Eine in gewisser Weise sogar groteske Folge extremer Wachsamkeit gegenüber „kultureller Aneignung“ besteht im De-facto-Verbot kultureller Vermischung, die damit einhergeht. Alle Kulturen sollen sich der woken Ideologie zufolge in Reinform ausdrücken, sollen unter sich bleiben. Dadurch werden aber auch völlig überholte Klischees zementiert. So suggeriert das Beispiel Ronja Maltzahn z.B. eine Pflicht für Weiße, nur noch glatte Haare zu tragen – Naturlocken vielleicht ausgenommen. In Wahrheit haben sich Kulturen immer auch durch gegenseitige Befruchtung entwickelt. Was wäre denn das „ursprünglich Deutsche“, das Deutschen in einer woken Entrüstungskultur noch erlaubt ist? Was wäre genuin deutsche Kleidung, deutscher Schmuck, deutsche Musik, deutsches Essen? Das Ideal kulturell „sortenreiner“ Menschen erinnert, wenn es auf die Spitze getrieben wird, selbst wieder an die Nazi-Ideologie.

Eine weitere Dimension des Themas kommt zum Vorschein, wenn das Kunstschaffen der Vergangenheit nach Unkorrektheiten durchforstet und nachträglich zensiert wird. Häufig trifft es dabei paradoxerweise nicht Autoren mit tatsächlich problematischer Weltanschauung – man denke dabei etwa an die antisemitischen Äußerungen Richard Wagners oder Martin Luthers –, sondern speziell auch Autoren, die sich explizit für Toleranz einsetzten. Karl May z.B. zeigte sich sowohl in seiner Darstellung der Freundschaft zwischen Winnetou und Old Shatterhand als auch in seinen Diskursen über Christentum und Islam in den Kara Ben Nemsi-Romanen als vorbildlich „multikulturell“ gesinnt und plädierte für die Völkerverständigung. Historisch wahrheitsgetreu sind Mays Darstellungen fremder Kulturen zwar nicht, doch wünschen wir ernsthaft ein Verbot literarischer Ausschmückung oder gar des Prinzips „Fiktionalität“?

Auch Erich Kästner, dessen Bücher von den Nazis verbrannt worden waren, geriet ins Visier von politischen Tugendwächtern, denen die Widerstandsleistungen des Autors von „Das fliegende Klassenzimmer“ nicht ausreichten. Der Schriftsteller hätte nach ihrem Urteil während der Zeit des Nationalsozialismus aus Deutschland auswandern müssen. Deshalb wird in München jetzt über die Umbenennung einer Erich-Kästner-Straße diskutiert. Da überrascht es schon nicht mehr, dass Kaisa Ilunga, Mitglied des Integrationsrats der Stadt Bonn, forderte, Pippi-Langstrumpf-Bücher wegen rassistischer Inhalte aus den öffentlichen Bibliotheken zu verbannen. In den Kinderbüchern kommt unter anderem das Wort „Negerkönig“ vor. Auch bei Astrid Lindgrens Werken fällt jedoch auf, dass sie einen antiautoritären, feministischen und emanzipatorischen Ansatz verfolgen, über den gerade „fortschrittliche“ Menschen froh sein müssten.

Nachträgliche Zensur der Geschichte

Zu beobachten ist eine Neigung „woker“ Kreise, die Geschichte nachträglich zensieren zu wollen. Diese Tendenz zeigt sich, wenn z.B. Denkmäler abgerissen oder Straßennamen verändert werden, die auf „unkorrekte“ Personen verweisen. Wenn, wie unlängst geschehen, ein christlicher Spruch auf der Fassade des Berliner Stadtschlosses von Kulturstaatssekretärin Claudia Roth überdeckt oder ein Kruzifix aus dem Rathaussaal in Münster entfernt wird. Diese Vorgänge kommen einem Vorwurf an die Menschen älterer Epochen gleich, nicht immer schon Weltanschauungen des frühen 21. Jahrhunderts vertreten zu haben, die ihnen ja damals gar nicht bekannt gewesen sein konnten. Traditionelle Kultur wird aus der Perspektive gegenwärtiger weltanschaulicher Konzepte heraus moralisch bewertet und, wo dies nötig erscheint, zerstört.

Dies stellt schon eine Art „Kulturrevolution“ dar. Jede Kontinuität zum Alten wird zerrissen, das radikal Neue auf dem Reißbrett entworfen und der Gesamtgesellschaft aufgedrängt. Emotional wird dies von vielen Menschen als erzwungene Entwurzelung erlebt. Dabei sollen natürlich auch nicht-christliche Kulturen in unserer Gesellschaft ihren Platz haben, müssen nicht unbedingt die Namen von Tätern kolonialer Massaker unsere Straßenschilder zieren. Wir gehen aber fehl, wenn wir unsere eigenen Wurzeln aufgrund modischer Vorstellungen verleugnen und uns weigern, die Vergangenheit in der ihr eigenen „Unkorrektheit“ zu akzeptieren, was ja auch die Chance beinhaltet, aus diesen zu lernen.

Da war Ronja Maltzahn in ihrem Erkenntnisprozess schon weiter, als sie in einem Lied darauf hinwies, dass die Dinge nicht immer so einfach sind, wie wir sie uns vorstellen. „In Wahrheit sind wir Polarbären. Wir sind dunkel und hell und wir leuchten im Dunkeln.“

 

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