Am Literaturkamin (1)
Das Weihnachtszimmer streckt noch einmal die Zunge heraus
Ein extralanges Festtagserzählgedicht
im memoriam D.T.
An diesem Abend stand der Mann neben dem Fenster,
im Milchreisschneelicht des frühen Dezembers,
und fragte: „Soll ich Euch weitererzählen?“
Und die Kinder zu seinen Füßen waren Zucker
und Zimt und riefen laut: „Ja!“
Und der Mann am Fenster erzählte:
„Ihr wißt ja, es war die Zeit, als die Briefträger
wie Weihnachtspakete aussahen, tapfer mit ihren
Fäustlingsfäusten gegen die Schneeflocken boxten,
unter ihren Schuhen das Winterknirschen spazierenführten
und Nasen hatten so rot
wie die Kugeln an Eurem Christbaum.
Es war die Zeit, als die Tanten noch eine Gewichtseinheit
waren und die Kinder ein Wollmützengestöber unter
den verschneiten Platanen, ein Klingeling in den Gassen
des Städtchens, ein Schniefen und Beben und Raufen am Rande
des Glücks. Es war die Zeit, als die Fenster abends ihren Festtag
hatten mit Kerzenglanz, mit einem Spiegelmond danach
in den Scheiben, andachtsvoll wie ein Kirchenlied, und mit
dem Geriesel davor, daß die Lautlosigkeit des fallenden Schnees
die Herzen der Menschen aufspringen ließ vor Witzen und Seligkeit.
Überall rochen die Gartenzäune und Nachbarn nach Äpfeln
und gestopfter Gans, sorgsam mit Rosmarin eingerieben und
der väterlichen Güte eines guten Jamaicarums. Und die Briefträger
gingen wie immer kerzengerade am Genever entlang. Ihr konntet es
an den Frostfahnen sehen vor ihrem Mund und an ihren Spuren im Schnee:
diesem Zickzackkampf gegen das Weltmeer im Kopf.
Bis auf den einen, Onkel Dylan mit Namen, der bloß
in Ringelsöckchen kam, der ein Direktor gewesen sein soll, ein Neffe
von Einstein, weil er den größten Hut von allen Postboten trug,
ein Ding so groß wie der Lampenschirm in einem Betschwesternheim
und so schwarz wie das Alte Testament mit der Arche Noah darin
und dem blutigen Schafsopfer Abrahams. Übrigens waren
die Hunde zu dieser Frostfallzeit friedlich wie die Strickhandschuhe
auf dem devoten Garderobentisch. Soll ich Euch weiter von Weihnachten
damals erzählen? Ich glaube, ich habe noch nicht
die schwarzen Kohleöfen erwähnt, die wie Branntweinflaschen
in den Zimmerecken standen. Vater hatte sich
um ihr Wohlergehen zu kümmern, und ihre Wärme
glühte am Weihnachtsabend in jedem Herz, fast
wie die Geburt des Jesulein selbst. Und Mutter
hatte sich alle ihre Kinder an die Rockzipfel genäht,
glühte schon in der Küche, stundenlang, klapperte
dort mit Würstchen und Kartoffelsalat herum und
strickte vielleicht noch ein Bierglas für Vater
unter dem Weihnachtsbaum. Alle Köpfe raschelten nun,
und Opa probierte schon mal, sich als Messingglöckchen anzuziehen.
Soll ich weitererzählen? – Der Pfarrer, im Sommer
ein gelüfteter Hut auf allen Gassen des Städtchens, flog,
jetzt, da es schon dunkel geworden war und die Nacht
nur noch aus Bimbamglöckchen bestand, seit Minuten
um den Kirchturm herum, mit der frohen Rotweinkaraffe
in seiner Hand, und sang uns Kindern ‚White Christmas’ vor
mit der Stimme Bing Crosbys. Und auch, wenn er nicht aß,
sprach er über seinem dreistöckigen Kinn immer mit vollem Mund,
und eine jede Presbyterfrau war ein Nähkastchen bei ihm.
Er war dick wie eine Hafenkaschemme, aber
sang prachtvoll. Und meine Schwester mit ihrer
verlobten Liebe im Blick schaute gern zu dem
Gotteshirten hinauf und mahnte ihn, nicht seine
Flügel fallen zu lassen, ihre beharrliche Laubsägearbeit
für den Weihnachtsbasar. Doch soll ich weitererzählen?
In der Kirche waren schon alle Plätze besetzt,
die Hunde waren da, mit hechelnden Knochen
in ihrem Maul, Eichhörnchen, die zierlich ihre
Tannenzapfen verzehrten, Onkel Thomas, Ihr wißt
schon, und der Bürgermeister mit seiner
Bürgermeistersfrau, Erwartung neben Erwartung,
fünf Zentner Weihnachtsfreude beisammen. Alles war Gold
in der Kirche, die Menschen, der Gesang,
die Predigt des Pfarrers und der Hosenknopf
in der Kollekte am Schluß. Und der Schnee
vor dem Gotteshaus lag in der Mondesstille
wie ein Blockflötenlied da, bis wir durchs Milchmeer
nach Hause gewatet waren und die rauflustigen
Türen besiegten. Opa aus der Badewanne
blitzte inzwischen wie die Messingglocke in seiner
Hand, Kernseife und Freundlichkeit. Jedes Haus
würde morgen ein Bratengeruch sein, dort
die Rehrückenvilla, hier das Wildsaumietshaus, da
die Gänsespeckkate. Die Väter veredelten sich
noch einmal mit Cognac und Rumverschnitt, die
Mütter dampften noch einmal mit wogendem Busen
vom Kochherd zum Löwensenf, das Weihnachtszimmer
streckte noch einmal hochnäsig die Zunge heraus,
und die Kinder machten alle noch einmal ganz schnell
Pipi, dann rief Opa endlich mit zotteliger Stimme
‚Herein!’, Mutter schritt zum Klavier, schon das G-Dur
von ‚Tochter Zion’ im Kopf, und endlich,
endlich, endlich war die Bescherung.“