Antje Vollmer: Michael Endes Kritik des Finanzsystems in «Momo»

 In FEATURED, Kultur, Wirtschaft

Filmszene aus „Momo“ von Johannes Schaaf.

Ein „Kinderbuch“ und zugleich ein unerschöpflicher Weisheitsschatz für alle Altersstufen. Michael Endes „Momo“ – auch verfilmt und durch Musik von Angelo Branduardi geadelt – wird viel geliebt, in seiner politischen und wirtschafstheoretischen Bedeutung aber nicht immer verstanden. Ende lehnt sich in seinem Bild der „Grauen Herren“, die den Menschen ihre Zeit stehlen und sich vom kalten Rauch nicht gelebten Lebens nähren, u.a. an die Ideen des Geldtheoretikers Silvio Gesell an. Er entwirf aber auch die Utopie eines „guten Lebens“, das eigentlich ein ganz einfaches ist: eine Welt, in der Menschen mit wenigem zufrieden sind, einander zuhören und füreinander Zeit haben. Auch gegen reale „Graue Herren“ unserer Zeit bedeuten Herzlichkeit und Einfachheit Widerstand. Die erfahrene Grünen-Politikerin, Theologin und Friedensaktivistin Antje Vollmer bringt uns die Aktualität von „Momo“ nahe. (Antje Vollmer)

MOMO als gesellschaftliche Utopie

I.

Was ist eine Utopie??

Im nüchtern dem Gegenwartsverständnis nachforschenden Duden lesen wir:
– Ein undurchführbarer Plan
– Eine Idee ohne realen Hintergrund
Und als Synonyme werden angegeben:
– Phantasiegebilde
– Illusion
– Irrealität, Luftschloss, Phantom, Traumbild, Traumgebilde, Unwirklichkeit, Vision, Vorstellung, Zukunftstraum, Wunschtraum
und sogar abwertend:
– Hirngespinst
– Kopfgeburt
– Schimäre
– Trugbild
– Spinnerei
– Wahn.

Man sieht, der Begriff Utopie ist heute, im Zeitalter des vorherrschenden, meist zynischen Realismus, keineswegs positiv besetzt. Und lesen wir bei Wikipedia nach – was ja ein seriöser Zeitgenosse nicht tun sollte, was aber doch der Auskunfts-Machtpol der meisten ist – dann heißt es auch da:

„Eine Utopie („der Nicht-Ort“…) ist der Entwurf einer fiktiven Gesellschaftsordnung, die nicht an zeitgenössische historisch-kulturelle Rahmenbedingungen gebunden ist. Im alltäglichen Sprachgebrauch wird UTOPIE auch als Synonym für einen von der jeweils vorherrschenden Gesellschaft vorwiegend als unausführbar betrachteten Plan, ein Konzept und eine Vision, benutzt.“

Schon bei diesem kurzen Einstieg wird deutlich: dem Begriff Utopie ist bereits das Kennzeichen des Unangemessenen, des gesellschaftlichen Außenseiters auf die Stirn gebrannt. Die Utopie hat schon verloren, bevor sie ins Leben und ins Denken kommt. Ihr ist schon das Urteil gesprochen („ein von der vorherrschenden Gesellschaft vorwiegend als unausführbar betrachteter Plan“), bevor sie den Raum der gesellschaftlichen Agora überhaupt betreten und ihr Anliegen vorgestellt und gegen Einwände verteidigt hat.

II.

Michael Ende hat Romane nie nur für Kinder geschrieben, „denn im Grunde schreibe ich überhaupt nicht für Kinder. Ich meine damit, dass ich während des Schreibens niemals an Kinder denke, mir niemals überlege, wie ich mich ausdrücken muss, damit Kinder mich verstehen, niemals einen Stoff auswähle oder verwerfe, weil er für Kinder geeignet oder nicht geeignet ist.“ Vor allem, so betont er, sind es „durchaus keine pädagogischen oder didaktischen Absichten, die mich bei meiner Arbeit leiten (…) Die wahre, eigentliche Triebfeder, die mich beim Schreiben bewegt, ist die Lust am freien und absichtslosen Spiel der Phantasie (…) Ein solches Spiel kann man nur absichtslos betreiben, denn wer vorher schon wissen oder planen will, wohin ein solches Abenteuer einen führt, der verhindert damit schon, dass es dazu kommt.“ (aus: Warum schreibe ich? Momo Schulausgabe, S.333)

Trotzdem ist er – vermutlich also eher spielerisch und sich dem Zufall und der Phantasie überlassend – mit seinem Buch MOMO in eben jenen gefährlichen Bereich geraten, der „von der vorherrschenden Gesellschaft vorwiegend als unausführbar“ betrachtet wird. Er hat sich in utopische Gefilde treiben lassen.

Das verraten ja schon die Namen: Die Titelheldin Momo gerät am Ende eines langen Weges, von der Schildkröte Kassiopeia geführt, auf der Flucht vor den Grauen Herren, den Zeit-Dieben, in eine Gasse, die „Niemals-Gasse“ heißt und wird dort in ein Haus eingelassen, das das „Nirgend-Haus“ heißt. Also ein u-topisches Haus in einer u-topischen Gasse, die alle anderen Bewohner der Stadt und auch die Grauen Herren nicht kennen und nicht erreichen können. Und selbst Momo muss, so heißt es, wenn sie hier vorwärts kommen will, rückwärts gehen.

Ist schon der Weg utopisch, die Adresse utopisch, das Ziel des Weges utopisch, so könnte man vermuten, auch in einem Haus des Nichts im Nirgendwo anzukommen. Aber weit gefehlt! Das Haus, das Momo nun betritt, ist ein wahrer Ort durchaus realer, irdischer, sinnlichen Genüsse, ( es gibt aus einer dickbauchigen goldenen Kanne heiße Schokolade in goldenen Tassen, dazu goldbraune knusprige Semmeln mit goldgelber Butter und Honig, der ganz wie flüssiges Gold aussah). Es ist ein Ort der Geborgenheit und des Schutzes vor realen Verfolgern.

Es ist aber auch ein Ort mit einem Geheimnis von großer magischer Schönheit, angefüllt mit Visionen eines ungeahnten Wissens. Meister Hora stellt sich heraus als der Schöpfer (oder Verwalter? – er spricht ja von seiner „Pflicht“, den Menschen ihre Zeit zuzuteilen) aller menschlichen Lebenszeit und als der, der in alle Geheimnisse der geheimnisvollen unsichtbaren Zeit eingeweiht ist. Momo, die danach fragt, bekommt keine Antworten, sondern nach der Initiation eines Rätsels, das sie zu lösen versteht, etwas zu sehen, zu hören, zu fühlen und zu riechen – nachdem sie ja schon beim Eintritt den „Hunger vieler Jahre“ stillen durfte. Sie sieht, von Meister Hora zunächst mit verdeckten Augen auf seinen Armen getragen (Der Weg ist also in diesem Fall keineswegs das Ziel) eine wunderbare Vision eines Ortes von überwältigender Einzigartigkeit. „Goldene Dämmerung umgab sie“.

Der Ort, den sie sieht und über den sie nichts zu fragen und nichts zu sagen versprochen hat, ist groß wie das Himmelsgewölbe, erfüllt von einer einzigen Lichtsäule, die wie ein riesiges Pendel über einer makellos dunklen Wasserfläche schwebt und hin und her schwingt. An deren Rändern entstehen jeweils Stunden-Blumen von überirdischer Schönheit mit leuchtenden Farben, von denen Momo nie geahnt hatte, dass es sie überhaupt gibt. „Der Duft allein schien ihr wie etwas, wonach sie sich immer gesehnt hatte, ohne zu wissen, was es war.“ Und sie hört Musik wie klingendes Licht. „Es war Musik und war zugleich doch etwas ganz anderes.“ Die Musik des Sternenzelts eines unendlichen Alls und die Stille des Kosmos.

Genau genommen ist es nicht eine Utopie, die Momo hier wahrnimmt, sondern eine esoterische Vision, eine mystische Offenbarung vom Urgrund des Seins. Momo, die verfolgt wird vom riesigen Heer der Grauen Herren und die sich dafür rüstet, es mit dieser unheimlichen Macht aufzunehmen, wird hier gestärkt und in-spiriert für das, was sie an Aufgaben vor sich hat. Aber sie sieht und findet an diesem Ort doch nicht die Utopie einer Gegenwelt. Schon gar nicht findet sie hier eine gesellschaftliche Utopie, den gesellschaftlichen Gegenentwurf, nach dem auch wir suchen. Hier, wo alle Zeit der Menschen entsteht, steht sie zugleich in Ewigkeit still, schwebend und tönend in sich selbst.

Deswegen muss Momo, die kleine Mystikerin, auch von diesem Ort wieder zurück. Zurück in die Welt, in der die Grauen Herren die Macht übernommen haben.

Und wir sollten ihr folgen.

Die Grauen Herren

III.

Am 3. September 1986 schreibt Michel Ende einen Brief an den Ökonomen Werner Onken. Der Anlass war, dass Onken ihm einen eigenen Vortrag zugeschickt hatte, in dem er als Hintergrund des Romans MOMO eine intensive Auseinandersetzung des Autors mit dem kapitalistischen Finanzmärkten und ihrem ruinösen System von Zins- und Zinseszins ausgemacht hatte.

(siehe Werner Onken: Die ökonomische Botschaft von Michael Endes „Momo“ in: Verlag für Sozialökonomie, sozialökonomie.info)

Michael Ende antwortet ihm: „Ich freue mich sehr, dass Sie mein Buch so gut verstanden haben, vor allem auch, was die esoterischen und ökonomischen Hintergründe betrifft. Übrigens sind Sie bis jetzt der erste, der bemerkt hat, dass die Idee des „alternden Geldes“ im Hintergrund meines Buches MOMO steht. Gerade mit diesen Gedanken Steiners und Gesells habe ich mich in den letzten Jahren intensiver beschäftigt, da ich ja zu der Ansicht gelangt bin, dass unsere Kulturfrage nicht gelöst werden kann, ohne dass zugleich, oder sogar vorher, die Geldfrage gelöst wird.“

Wir haben also hier – von Werner Onken gefunden, von Michael Ende persönlich bestätigt – einen Hinweis in welcher Richtung wir die gesellschaftliche Utopie suchen müssen, die in den Roman MOMO eingewoben ist. Und wenn man bedenkt, dass die erste Auflage von MOMO bereits 1973, vor genau 40 Jahren erschien – also vor mehr als einer Generation, lange bevor wir alle gezwungen wurden, uns mit den internationalen Finanzmärkten zu beschäftigen – muss man die frühe und so hellsichtige Analyse eines Michael Ende bewundern. Damals, als alle Welt mit dem Kalten Krieg, der Hochrüstung und den Ölkrisen beschäftigt war, ahnte er ganze Szenerien inklusive des sie beherrschenden Personals voraus, die für die meisten von uns erst seit der Jahrtausendwende sichtbar wurden.

Da sind voran die Grauen Herren in ihrem einschüchternden Selbstbewusstsein, jene neuen Herrscher der Stadt, die eine neue Weltordnung und ein überlegenes Lebensmodell proklamieren. Alle sehen sie gleich aus, grau, bleich, gehetzt und herrisch zugleich. Sie sind zwar nicht so jung-kreativ-federnd, und immer gerade dem Fitness-Studio entsprungen wie die heutigen Sendboten der Wallstreet und der Londoner Börse, die alle davon träumen, einmal durch den Jungbrunnen des Silicon Valley zu schwimmen. Nein, die Grauen Herren von MOMO tragen dreiteilige graue Zwirnanzüge und englische Hüte, sie rauchen Zigarren und fahren in dicken Autos – aber sie verbreiten wie die Schnösel unserer neuen ökonomischen Ordnung eine agressive, genormte Uniformität, sie sind überall gegenwärtig, sie beobachten alles, was in der Stadt geschieht, sie treffen sich an geheimen Orten, sie spähen alles aus und lassen das auch jeden Bewohner der Stadt spüren. Sie verbreiten um sich Kälte, Angst und Langeweile. Sie behaupten, dass nur der, der lebt wie sie, richtig lebt und zwingen bald der ganzen Stadt ihre neuen Regeln auf: Zeit sparen, Zeit sparen und alle ersparte Zeit bei ihnen in ihrer ominösen und anonymen Zeit-Sparkassen umgehend zu deponieren.

Selten ist in so einfachen Bildern der Mechanismus der kapitalistischen Enteignung der Lebenszeit der arbeitenden Menschen so plastisch und zwingend geschildert worden wie in diesem Roman für Kinder und Erwachsene. Und weil das einfach wahr ist, was hier in der Form einer Abenteurergeschichte mit märchenhaften Zügen erzählt wird, deswegen war gerade dieses Buch so ein Welterfolg. Die Menschen spüren das nämlich sehr genau, wenn einer etwas Unheimliches, da auf sie alle zukommt, in verständliche Bilder fassen kann. Und indem sie diese Bilder begreifen, begreifen sie etwas von ihren eigenen Ängsten und Vorahnungen.

Silvio Gesell hatte vom „alternden“ und vom „rostenden“ Geld gesprochen und Michael Ende setzt dies um in das poetische Bild der geraubten Stunden-Blumen der Menschen, die in einem riesigen Bergwerk getrocknet und gelagert werden, damit die Grauen Herren sich davon bedienen, um daraus ihre grauen Zigarren zu drehen, mit denen sie die einstmals klare Luft der Stadt verpesten und ihren Bewohnern die Atemluft vergiften. Aber so, in ihren grauen gierigen Fingern zerfällt die kostbare Lebenszeit in kalten Rauch, ins reine Nichts.

Die gesparte, nicht für das Leben genutzte Stundenblume ist nutzlos, wie die Bilanzen derer, die Geld horten, das sie anderen abpressen, obwohl sie selbst nicht einmal dafür arbeiten. Und der Verlauf der Geschichte erhält seine Dramatik dadurch, dass es keineswegs ausgemacht ist, ob nicht am Ende das Reich der Grauen Herren mit dem toten, vergilbten, nutzlosen gehorteten Geldbergwerken sowohl der Stadt der Menschen wie dem mystischen goldenen Ort des Meister Hora den Garaus machen wird.

Selten wurde eine rettende Utopie dringender gebraucht als an diesem welthistorischen Moment, wo das Geldsystem sich anschickt, die ganze Welt und das Leben aller Menschen auf Dauer zu versklaven. Schließlich waren ihm – in der Geschichte des einsamen Mädchens Momo beängstigend genau beschrieben – auch schon die letzten und besten Freunde zum Opfer gefallen (Beppo Strassenkehrer und der Fremdenführer Gigi)

IV.

Das „Altern des Geldes“ in den Überlegungen von Silvio Gesell und ihm folgend bei Michael Ende ist aber nicht nur eine Beschreibung dessen, was der Umgang mit dem gehorteten Geld bei den Menschen anrichtet – sie werden selbst alt, grau, gehetzt und freudlos, indem sie all ihre Lebenszeit in der Form von Geld in der Zeitsparkasse der Grauen Herren deponieren. Nein, wichtig ist zu betonen: Das Geld m u s s altern, wie alles was auf der Erde existiert und den natürlichen Kreisläufen von Werden und Vergehen unterworfen ist. Geld ist ursprünglich ja nichts anderes als ein vereinbartes Tauschmittel nach gesellschaftlicher Übereinkunft, mit dem Menschen die Dinge, die sie entweder selbst produzieren oder brauchen, in einen Prozess des gesellschaftlichen Austausches transferieren. Es ist also ein Tauschmedium, eine Erleichterung beim Austausch von Waren und Werten, auf die es sich immer bezieht. Denn an sich selbst ist es nur ein bedrucktes Papier oder ein Stück geprägtes Metall, das außer dem reinen Materialwert keinen Wert hat und schon gar nicht selbst „arbeitet“.

Wenn also die Grauen Herren – wie die Zyniker und Schnösel der Wallstreet – mit der Methode von Zins und Zinseszins, von Börsenspekulationen, Hedge-Fonds und Derivaten, nicht nur eine unendliche, durch keine realen Werte mehr gedeckte Vermehrung der Geldmengen, sondern geradezu deren Verewigung anstreben, indem sie die zu Geld geronnene Lebenszeit der Menschen in Tresoren vergraben, postulieren sie für das Geld eine Allmacht und Gottähnlichkeit, die ihm nicht zusteht. In Wahrheit aber begehen sie mit dieser Hybris einen blasphemischen gigantischen Bluff, sie unterliegen einer Selbsttäuschung, einer Fata Morgana. Es entsteht nichts als eine riesige Luftblase von nominalen Geldwerten, denen kein Realwert mehr entspricht.

So lässt Michael Ende in seiner Kurzgeschichte, die mit den Worten beginnt: „Die Bahnhofskathedrale stand auf einer großen Scholle“ einen falschen Propheten auftreten wie im Alten Testament, der predigt mit verlogenem charismatischen Pathos: „Das Geld vermag alles (…) Steine macht es zu Brot und schafft Werte aus dem Nichts, es zeugt sich selbst in Ewigkeit, es ist allmächtig, es ist die Gestalt, in der Gott unter uns weilt, es ist Gott!“

(Aus Michael Ende: der Spiegel im Spiegel, München 1990 S.41 – den Hinweis verdanke ich zuerst Frank Bohner, dem Vorsitzenden der Initiative für Natürliche Wirtschaftsordnung, in: Michael Ende, das Mysterium des Geldes und die Finanzkrise)

Und weiter: “Wo alle sich bereichern, da werden am Ende alle reich! Und wo alle auf Kosten aller reich werden, da zahlt keiner die Kosten! Wunder aller Wunder! Und wenn Ihr fragt, liebe Gläubige, woher kommt all dieser Reichtum? Dann sage ich Euch: Er kommt aus dem zukünftigen Profit seiner selbst! Sein eigener zukünftiger Nutzen ist es, den wir jetzt schon genießen! Je mehr jetzt da ist, desto größer ist der zukünftige Profit, und je größer der zukünftige Profit, desto mehr ist wiederum jetzt da. So sind wir unsere eigenen Gläubiger und unsere eigenen Schuldner in Ewigkeit, und wir vergeben uns unsere Schulden, Amen!“( S. oben S.41f)

So stand es in jener Kurzgeschichte aus dem Jahre 1983 – Jahrzehnte, bevor die Hedgefonds, Derivate und Spekulanten ganze Volkswirtschaften ruiniert hatten. Michael Ende beschrieb diese Predigersatire lange, bevor unter der wirklichen Macht-Kanzel der neoliberalen globalisierten Finanzwirtschaft die zahllosen Jünger von Goldman-Sachs, Lehman-Brothers und Milton Friedmann sich versammelt hatten, all jene Zauberlehrlinge namens Mario Draghi, Paul Wolfowitz, Josef Ackermann, Angela Merkel und die unendliche Zahl ihrer gläubigen Anhänger, Mitläufer und Mittäter. Und ihr Amen heißt: Stirbt der Euro, stirbt Europa! Oder es heißt: Dieser Kurs ist alternativlos! Amen!

V.

So sind wir, als wir dem Mädchen Momo aus dem Goldenen Haus des Meister Hora zurück in die reale Welt folgten, plötzlich ziemlich hart auf dem Boden unserer heutigen Wirklichkeit aufgeprallt. Utopie hat nämlich immer mit Gesellschaftskritik zu tun. Und vielleicht ist das der wahre Grund, warum sie, die Utopie, heute bei Hofe, in der Politik und in den Medien, so schlecht im Kurs steht.

Aber jede Utopie, die ihren Auftrag gerecht werden will – nämlich etwas zu beschreiben, was noch keinen Ort hat, was man nur auf den Flügeln der Phantasie und der Imagination erreichen kann, – jede Utopie braucht in ihrem innersten Kern einfache Bilder, die einfache Menschenwahrheiten ausdrücken.

Die Utopie, die im Buch MOMO beschrieben ist, kommt so schlicht daher, dass man sie fast übersehen könnte. Sie ist gleich am Anfang des Buches beschrieben. Sie handelt vom Leben eines kleinen Mädchens in den Ruinen eines alten Amphitheaters. Das war in den „alten, alten Zeiten, als die Menschen noch in ganz anderen Sprachen redeten“ entstanden und kaum jemand in der Gegenwart wusste noch seine Bedeutung. Aber an diesem halbvergessenen Ort sagt eines Tages das Mädchen Momo, das dort von einigen Nachbarn und Kindern aufgefunden wird. „Ich bin hier zu Hause“. Über Herkunft, Eltern, Schicksal und Familie weiß es nichts zu berichten. „Soweit ich mich erinnern kann, war ich immer schon da.“ Es stellt keine Ansprüche: „ich brauch nicht viel“ außer der Bitte, für sich selbst sorgen zu wollen und keinesfalls in ein Heim oder eins der späteren Kinder-Depots der Grauen Herren zu kommen. Was Momo braucht ist Natur, Stille, Freunde und Freiheit.

Die kleine Kammer unter dem halbzerfallenen Amphitheater entwickelt sich zu einem Zentrum für das ganze Viertel. Nachbarn und Freunde helfen, die bescheidene Bleibe gemütlich einzurichten, sie sind alle arm, aber bringen ihr von allem, was sie an Essen und nützlichen Utensilien haben. Das Geschenkte wird wiederum zwischen allen aufgeteilt, und so gibt es viele Abende für fröhliche Zusammenkünfte und Tage für selbstvergessene Spiele und Abenteuer für die Kinder. Als Momos größte Fähigkeit stellt sich nämlich heraus, dass alle in ihrer Nähe auf die lustigsten und kreativsten Ideen kommen und dass sie so gut zuhören kann, dass, allein auf dieses Zuhören hin mancher Streit und Kummer wie weggeblasen erscheint. „Wirklich zuhören können nur ganz wenige Menschen. Und so wie Momo sich aufs zuhören verstand, war es ganz und gar einmalig.“

Und wenn man so zuhören kann, dann findet auch der langsamste seine Sprache, und genau die Worte, nach denen er lange gesucht hat. Dann sprechen Straßenkehrer wie große Philosophen und jeder versteht sie. Momo hat zwei besondere Freunde, Gigi und Beppo. Und dem einen von ihnen gelingt einmal die perfekte Beschreibung einer utopischen Vision, wo alles in Eins fällt: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und wo die Welt bei sich selbst ankommt, ein Augenblick vollkommener Selbsterkenntnis.

„Ich habe uns wiedererkannt“, sagte er zu Momo. “Das gibt es manchmal – am Mittag, wenn alles in der Hitze schläft. – Dann wird die Welt durchsichtig – Wie ein Fluss, verstehst du? – Man kann auf den Grund sehen (…) Da liegen andere Zeiten, unten auf dem Grund.“

Antje Vollmer

Politische Kurzbiographie

Dr. Antje Vollmer, Politikerin, Theologin, Autorin, war von 1983-1990 Mitglied und 3 Jahre lang Co-Vorsitzende der Fraktion der Grünen im Deutschen Bundestag. Von 1994 bis 2005 war sie zusätzlich die Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages. Antje Vollmer initiierte viele eigene Gesetzesvorhaben und gesellschaftliche Projekte, so schon 1983 die Entschädigung von Zwangsarbeitern und anderer vergessener Opfer des Nationalsozialismus, die setzte sich ab 1984 für einen Dialog mit Terroristen der RAF bis zu deren Selbstauflösung ein, sie engagierte sich viele Jahre für eine deutsch-tschechische Versöhnungsinitiative, für einen Rechtsstaatsdialog mit der Volksrepublik China, für eine Reform des Stiftungsrechts, für ein Jugendprojekt „Strassenfußball für Toleranz“. Sie erhielt viele deutsche und internationale Preise und Auszeichnungen und arbeitet heute überwiegend als freie Autorin in Tages- und Wochenzeitungen und Buchprojekten zur Zeitgeschichte und zur Geschichte des Widerstands gegen die NS-Diktatur.

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