Armut macht krank
Psychische Gesundheit braucht finanzielle Sicherheit — wenn die politischen Rahmenbedingungen diese nicht zulassen, stößt Therapie an ihre Grenzen. Als Psychotherapeut in einer psychosomatischen Reha-Klinik hat Pascal Heßler immer wieder mit finanziellen Ängsten von Patienten zu tun. Das führt oft dazu, dass er an die Grenzen seiner Handlungsmöglichkeiten kommt, da er systemische Probleme — im Sinne des herrschenden neoliberalen Systems — nicht ändern kann. Finanzielle Ängste stellen also einen unveränderlichen Belastungsfaktor dar und behindern die psychische Heilung. Die meist einzige Möglichkeit, die bleibt, ist, Betroffenen gut zuzureden und ihnen Hoffnung zu machen. Das kann jedoch nicht die Lösung sein, deshalb brauchen wir andere Wege. Ein Text zur Sonderausgabe „Armut in Deutschland“. Pascal Heßler
Überlastungsbedingte Depressionen und sogenannter Burn-out sind als Volkskrankheit letztlich nur ein Symptom unseres Wirtschaftssystems. Leistungsdruck, finanzielle Unsicherheiten, Zeitarbeit, die Angst vor dem sozialen Abstieg, Personalmangel — all das sind typische Gründe, weshalb Menschen ihre individuellen Leistungsgrenzen überschreiten. Natürlich kann auch der Wunsch bestehen, Karriere zu machen, um in der sozialen Hierarchie aufzusteigen, doch auch das führt zu Überlastung.
Die Folgen sind also eine stetige Steigerung von psychischer Erschöpfung in unserer Gesellschaft. Laut AOK sind die Arbeitsunfähigkeitstage aufgrund eines „Burn-out-Syndroms“ von 2004 bis 2022 um mehr als das 20-Fache gestiegen (1). Begründet liegt das alles in der neoliberalen Ideologie, die spätestens seit den 1980ern unsere Gesellschaft infiltriert hat.
Systemisch erzeugte Armut und Angst
Der bekannte Psychologe Rainer Mausfeld und seine Ehefrau Gisela Bergmann-Mausfeld, ebenfalls Psychologin, erläutern in einem Kapitel des Sammelbands „Kritische Psychotherapie“, wie der Neoliberalismus ganz systematisch Armut erzeugt (2). Im Text heißt es sehr deutlich:
„Die durch den Neoliberalismus massenhaft erzeugte Prekariät und Armut ist eine zwangsläufige Folge der mehr als vier Jahrzehnte andauernden Umverteilung von unten nach oben. Zugleich ist Armut ein von den Nutznießern dieser Umverteilung geradezu erwünschter Effekt“ (3).
Die Autoren schreiben weiter, dass diese Prekarität und Armut nicht nur zu einer realen existenziellen Bedrohung („Realangst“) führen, sondern letztlich zu einer sogenannten Binnenangst (4). Die Binnenangst hat keinen Bezug mehr zu einem angstauslösenden Objekt, wodurch keine Möglichkeit besteht, die Angst aktiv zu bewältigen, was wiederum zu Ohnmachtsgefühlen führt (5). Für Mausfeld stellt „die Transformation von Realangst in Binnenangst“ deshalb auch „eine zentrale Herrschaftstechnik dar“ (6).
Die Angst vor dem sozialen Abstieg wird auch durch das Prinzip der Leistungsgesellschaft und dem damit einhergehenden Konformitätsdruck verstärkt. Wer dem Druck nicht standhält — wer „nicht mehr funktioniert“—, der hat das Gefühl, versagt zu haben und nicht gut genug für die Gesellschaft zu sein.
Dies führt natürlich zu Selbstzweifel und einem geringem Selbstwertgefühl. „Andere schaffen es doch auch, warum ich nicht“ sind Gedanken, die massives psychisches Leiden verursachen.
Zusätzlich wird medial durch sogenanntes Hartz-IV-TV — eine an sich schon abwertende Bezeichnung — ein Unterhaltungsprogramm angeboten, das ein Menschenbild suggeriert, welches nur in den seltensten Fällen der Realität entspricht. Der systematisch erzeugte Hass auf „Hartz-IV-Empfänger“ — die jetzt zu „Bürgergeld-Empfängern“ aufgestiegen sind — dient zudem einem manipulativen Ablenkmanöver, um von den eigentlich Schuldigen abzulenken.
Des Weiteren treibt dies die soziale Spaltung weiter voran, indem dafür gesorgt wird, dass sich die ohnmächtige Wut unter den Besitzlosen verteilt, statt diese in ein wirkungsvolles politisches Handeln umzuwandeln. Es ist also beabsichtigt, dass Menschen die Fähigkeit zum politischen Handeln gänzlich verlieren und nur noch ein politisch apathisches und psychisch leidendes Volk übrigbleibt.
Was wir von Erich Fromm lernen können
Schon lange vor der neoliberalen Konterrevolution stellte der Psychoanalytiker und Sozialpsychologe Erich Fromm fest, dass unsere Gesellschaft krank ist (7). Er sprach von der „Pathologie der Normalität“, da wir das herrschende System, obwohl es uns schadet, als „normal“ ansehen und aufrechterhalten. In einem seiner letzten Interviews im Jahr 1980 äußerte Fromm den berühmten Satz „Die Normalsten sind die Kränkesten und die Kranken sind die Gesündesten“ (8). Damit meinte er, dass den „Kranken“ ihre psychische Überlastung bewusst ist, während die „Normalen“ versuchen, diese fortlaufend zu verdrängen, indem sie sich zum Beispiel durch Konsumismus ablenken und glücklich kaufen.
Womit sich Erich Fromm auch schon früh befasste, sind Lösungen für dieses Problems. Er beschäftigte sich nämlich bereits 1966 mit dem „garantierten Einkommen für alle“, im Grunde also einem bedingungslosen Grundeinkommen (BGE) (9). Hierzu ein kleiner Exkurs: Meines Erachtens ist das BGE in den letzten Jahren sehr in Verruf geraten — selbst in eher „linken“ Kreisen. Ich persönlich vermute eine falsche Auffassung von einem bedingungslosen Grundeinkommen. Häufig wird stattdessen beispielsweise von einem „universellen Grundeinkommen“ gesprochen, das gleichzeitig mit Überwachung und Kontrolle assoziiert wird.
Das hat allerdings nichts mit der offiziellen Definition des Vereins „Netzwerk Grundeinkommen“ zu tun, dem ältesten und größten Netzwerk im deutschsprachigen Raum. Das „echte“ BGE muss nämlich die folgenden vier Kriterien erfüllen: existenz- und teilhabesichernd, individueller Rechtsanspruch, ohne Bedürftigkeitsprüfung und ohne Zwang zur Arbeit oder andere Gegenleistungen (10).
Zurück zu Erich Fromm. Er schrieb 1966:
„Der Übergang von einer Psychologie des Mangels zu einer des Überflusses bedeutet einen der wichtigsten Schritte in der menschlichen Entwicklung. Eine Psychologie des Mangels erzeugt Angst, Neid und Egoismus (…). Eine Psychologie des Überflusses erzeugt Initiative, Glaube an das Leben und Solidarität“ (11).
Inwieweit ein „garantiertes Einkommen“ beziehungsweise bedingungsloses Grundeinkommen unsere psychischen Gesundheit tatsächlich beeinflusst, ist empirisch bisher nicht wirklich erforscht. Was wir allerdings sicher feststellen können, ist, dass Armut und Existenzängste der psychischen Gesundheit massiv schaden.
Seit 1. Juni 2021 läuft das „Pilotprojekt Grundeinkommen“, bei dem 122 Menschen 3 Jahre lang ein Grundeinkommen von 1.200€/Monat ausgezahlt wird, um die tatsächlichen Auswirkungen erstmals umfangreich zu untersuchen (12).
Das Projekt wurde vom gemeinnützigen Verein „Mein Grundeinkommen“ initiiert und erfolgt mit der Unterstützung des Deutschen Instituts für Wirtschaft (DIW). Wir können also in den nächsten Wochen erste Ergebnisse erwarten und mit hoher Wahrscheinlichkeit sehr positive psychische Auswirkungen feststellen. Deshalb plädiere ich auch weiterhin für die Durchsetzung eines echten bedingungslosen Grundeinkommens — nicht nur, um Armut und Existenzängste abzuschaffen, sondern um die Gesellschaft letztlich vor dem — psychischen — Zerfall zu bewahren.