Aschenputtel – das Leuchten der Seele

 In FEATURED, Kultur

In Wien wurde im Januar die abendfüllende Oper „Cindarella“ uraufgeführt – mit wunderschönen Melodien „altmodischen“ Stils“. Komponistin ist das erst 13-jährige britische Wunderkind Alma Deutscher, das ihr Werk mit 10 schrieb. Warum fasziniert der „Aschenputtel-Stoff“ jede Generation aufs Neue? Geht es bloß um den oberflächlichen Jungmädchentraum, einen „Reichen“ zu heiraten? Oder verbirgt sich hinter der Geschichte vom tiefen Fall und Wiederaufstieg einer Außenseiterin psychologische, ja spirituelle Weisheit? (Roland Rottenfußer)

Probe für die Aufführung eines neuen Singspiels an der Wiener Staatsoper. Sänger und Instrumentalisten geben ihr Bestes; immer wieder werden sie von der Komponistin unterbrochen und korrigiert. Selbstsicher gibt sie Anweisungen, begleitet die Künstler am Klavier und singt Passagen notfalls selbst vor, um deutlich zu machen, wie ihre Musik zu verstehen ist. Die Musiker hören auf sie. Warum auch nicht? Sie ist die Meisterin, Komponistin eines Klavierkonzerts, eine Violinkonzerts, von Kammermusik, symphonischen Dichtungen und der sublimen Goethe-Vertonung „Nähe des Geliebten“. Das Besonderes an dieser Szenerie: Die Komponistin Alma Deutscher war, als der youtube-Film aufgenommen wurde, erst 12 Jahre alt. Ein Wunderkind, das komponiert, seit es mit vier Jahren erstmals Melodien in seinem Kopf gehört hat. Da ist die Presse mit Superlativen („Mozart-Girl“) rasch bei der Hand.

Video: “Cindarellas Ballade” von Alma Deutscher, Wiener Aufführung

 

Das Mädel möchte jedoch mehr als den momentanen Erfolg. Es will durch sein Talent eine Renaissance der Schönheit in der klassischen Musik einleiten. „Einige Leute haben mir gesagt, dass ich in der Musiksprache der Vergangenheit komponiere und dass das im 21. Jahrhundert nicht erlaubt ist“, bekennt sie in einem ihrer entwaffnenden Video-Vorträge. „Ich weiß schon, dass die Welt komplex ist und sehr hässlich sein kann. Aber wenn die Welt so hässlich ist, was hilft es, sie noch hässlicher zu machen durch hässliche Musik?“ Quasi nebenbei wischt eine Halbwüchsige damit 100 Jahre „moderner“ atonaler Musikgeschichte vom Tisch, deren Vertreter vor einem überschaubaren Fachpublikum lange auf der Alternativlosigkeit ihres Stils beharren konnten. Frühreif und durchaus charmant formuliert Alma ihren Weltbeglückungsanspruch, und Fans reagieren, indem sie eine fast messianische Hoffnung auf sie projizieren: „Reiner Genius und Inspiration für die Welt!“

Ursprung des „Aschenputtel“-Stoffs

Woher stammt die „Aschenputtel“-Geschichte und warum lassen sich Menschen über Jahrhunderte immer wieder von ihr faszinieren? Die Entstehungsgeschichte des Märchens ist verwirrend. Die Brüder Grimm veröffentlichten ihre Version erstmals 1812 und – in leicht veränderter Version – 1819. Die Handlung haben sie wohl mündlich von einer verarmten Marburgerin Frau, Elisabeth Schellenberg, erzählt bekommen. Diese ist aber keineswegs die „Erfinderin“ des Stoffes. Die Forschung nimmt an, es handle sich um eine Weiterentwicklung des französischen Märchens „Cendrillon“, das Charles Perrault schon 1695 verfasst hatte. Darin entfiel u.a. das Motiv des Haselnussbäumchens, stattdessen stand eine gute Fee der in Ungnade gefallenen Tochter eines Edelmanns bei. Die Wurzeln des literarischen Stoffs reichen jedoch tiefer.

Wenn bei einer Geschichte kein Ursprungsautor benannt werden kann, bedeutet das nicht, dass sie anonym einem dubiosen „Volksgeist“ entquollen wäre, wie Herder behauptete. Und selbst wenn dem so wäre – welchem Volksgeist? Denn vergleichbare Geschichten wurden schon bei den Griechen und Römern, im alten China und in Persien erzählt – unbeeinflusst von der französischen und deutschen Tradition. Offenbar basieren gute Geschichten auf einem narrativen Kern, der von menschlicher Grunderfahrung ausgeht und unabhängig von Zeit und Kultur emotional anrührend wirkt. Dabei geht es einerseits um kollektive Familien- und Stammesgeschichte, andererseits um existenzielle, ja spirituelle Erfahrung, die über das historische „Setting“ eines Märchens hinausweist.

Leiden in „Patchwork-Familien“

Familiendynamisch haben wir es bei „Aschenputtel“ zunächst mit einer typischen „Böse-Stiefmutter“-Geschichte zu tun. Stirbt eine geliebte Mutter und verheiratet sich der Vater danach neu, so betrachtet die neue Frau das Kind aus erster Ehe ihres Mannes häufig als lästiges Anhängsel. Dazu kommt, dass fast Jedem „eigene“ Kinder normalerweise lieber sind als „fremde“. Der gegenwärtige Boom der „Patchwork-Familien“ lässt die Ausgangskonstellation des Märchens besonders modern erscheinen. Statt Asche im Gesicht und Sklavendiensten blühen modernen „Aschenputteln“ (und das gilt auch für Buben) heute oft Lieblosigkeit und Mobbing. Fast noch schmerzhafter als die charakterlichen Defizite einer Stiefmutter ist für ein Kind dabei der Verrat des leiblichen Vaters, sein Wegschauen. Je unerträglicher die gegenwärtige Situation, desto mehr wird ein Kind das verstorbene Elternteil idealisieren und eine geistige Verbindung – oft nur in der Fantasie – zu ihr suchen.

Eine andere geläufige Deutung von „Aschenputtel“ weist dem Märchen lediglich Wunscherfüllungsfunktion im Sinne der Freudschen Traumdeutung zu. Es geht um den Jungmädchentraum, sozial „aufwärts“ zu heiraten und von einem Prinzen bzw. reichen Mann aus materieller Enge erlöst zu werden. Jedes Mal, wenn das Mitglied eines Königshauses eine „Bürgerliche“ heiratet, wird der Märchenstoff mit neuer Aktualität aufgeladen. König Silvia oder Mette-Marit, Diana oder Kate – sie alle lebten den Traum, von einem Adeligen gleichsam aufs weiße Pferd emporgehoben zu werden. Für manche lief es dann eher auf einen Alptraum hinaus. Trotzdem kann man sicher sein, dass die Regenbogenpresse in solchen Fällen den Cinderella-Stoff als Vergleich heranzieht.

„Pretty Woman“ und ihr Prinz

Es handelt sich bei „Aschenputtel“ nicht zuletzt um eine Rollentauschfantasie, wie sie etwa in Mark Twains Erzählung „Prinz und Bettelknabe“ (1881) thematisiert wird. In der Vorstellung findet eine Kompensation gefühlten Unrechts statt. Wie der Betteljunge bei Twain erleben darf, was es heißt, Prinz zu sein, träumt Aschenputtel davon, ihre bösen Stiefschwestern auf triumphale Weise auszustechen. Sie steigt auf, während jene fallen. Im Evangelium wird diese Überkreuz-Dynamik mehrfach thematisiert: „Wer sich selbst erniedrigt, wird erhöht werden.“ Oder: „Die letzten werden die ersten sein“. Sozialpsychologisch kann man in solchen Geschichten auch Versuche der Volksberuhigung sehen. Sozial schlecht Gestellte träumen sich in ungeheure Aufstiegsgeschichten hinein – von Lottogewinn bis Royal Wedding – und bleiben gerade wegen ihrer fortdauernden inaktiven Verträumtheit in ihrer Misere stecken.

Geschichten über einander sozial nicht ebenbürtige Paare gehören zu den spannendsten überhaupt. Schillers Drama „Kabale und Liebe“ gehört dazu wie auch – hier steht der Mann sozial „unter“ der Frau – „Titanic“. Des Weiteren ist natürlich „Pretty Woman“ mit Julia Roberts (1990) eine Aschenputtel-Geschichte und wurde auch in der Filmkritik oft als solche gedeutet. Richard Gere als Kapitalist, der davon profitierte, Firmen zu zerschlagen, bedeutete eine fragwürdige Modernisierung des „Märchenprinzen“. Es gibt viele solche Stoffe wie z.B. die Stubenmädchenromanze „Manhattan Love Story“ mit Jennifer Lopez (2002). Des Weiteren nahmen natürlich etliche Verfilmungen direkt auf den Aschenputtel-Stoff Bezug. So die Disney-Verfilmung „Cinderella“ (1950), die 2015 als Realfilm mit Lilly James in der Hauptrolle wiederauflebte. Die Filmversion „Für immer und ewig“ mit Drew Barrymore (1998) wählte einen „realistischen“, historisierenden Ansatz.

Außenseiterin mit goldenem Herzen

 In einer noch allgemeineren Deutung ist Aschenputtel natürlich die Außenseiterin par excellence und zieht das Mitgefühl all derer auf sich, die sich in ihrem Leben hässlich, ungeliebt, verkannt und malträtiert fühlen. Insofern ist auch die Wahl der türkischen Darstellerin Aylin Tezel als Aschenputtel im Rahmen der ARD-Märchenreihe (2011) interessant. Denn ob Ausländerin, Muslimin, Jüdin, prekär lebender oder behinderter Mensch, Schüchterne oder typisches „Opfer“ – all diese Menschen „sind“ Aschenputtel. Dies gilt im Prinzip auch für Männer in ähnlichen Situationen. So liegt auch für mich der anrührende Aspekt des Märchenstoffs eher in der Figur einer „Erniedrigten und Beleidigten“, die ihr Glück findet; nicht so sehr darin, dass ein mit einem hübschen Gesicht ohnehin privilegiertes Mädchen als Inbegriff eines Happy Ends am Ende irgendein Blaublut heiratet.

Aschenputtel-Stoffe bewegen vor allem, wo innere Schönheit – wie auch im motivähnlichen Märchen „Allerleirauh“ – durch jegliche Entstellung hindurchleuchtet. Ohne diesen starken Seelenglanz, der sich in Güte, Geduld, ja Demut zeigt, wäre es nicht Aschenputtel. Die Würde dieser Figur manifestiert sich nicht im Auftrumpfen und lauten Aufbegehren, allenfalls in einem stillen inneren Wissen um den eigenen Wert, der am Ende obsiegt. Die Titelfigur geht in einem feindlichen, traumatisierenden Umfeld zuerst nach innen, wo sie zu ihrer Kraft – märchenhaft dargestellt durch magische Helferfiguren – findet. Während Aschenputtel scheinbar hoffnungslos in der Misere feststeckt, „wächst das Rettende“ in Gestalt eines Haselnussbaums auf dem Grab ihrer Mutter.

Selbstermächtigung und Gnade

Die Haselnuss ist eine Frucht, bei der das Harte und Ungenießbare außen, das Wertvolle jedoch innen zu finden ist – bei Steinfrüchten wie Kirschen ist das umgekehrt. Die beliebteste Verfilmung des Stoffs – „Drei Haselnüsse für Aschenbrödel“, ein tschechoslowakischer Film von 1973 – stellte deshalb nicht ohne Grund dieses Motiv in den Vordergrund. Das Märchen wäre m.E. auch missverstanden, würde man darin nur die Erfolgsstory einer sich emanzipierenden Frau sehen. Die meisten tief gehenden Märchen enthalten einen Aspekt von Gnade. Sie handeln von der Hilfe himmlischer Mächte, die sich z.B. durch sprechende Tiere, durch zauberische Helfer und Wunder manifestiert. Das Wirken der Gnade setzt allerdings ein gutes Herz und ehrliches Bemühen voraus, wie exemplarisch etwa „Sterntaler“ zeigt. Wer etwas festhalten will, wird es verlieren; wer dagegen alles hingibt, wird alles gewinnen.

Zugrunde liegt dem Aschenputtel-Stoff vor allem das verbreitete Empfinden, dass die eigene Lebenssituation eigentlich „unter Niveau“ sei, dass man Besseres verdient habe und es mit ein bisschen Anstrengung auch erreichen könne. Vielfach im Märchen werden Königskinder auf das Niveau von Bettlerinnen und Bettlern herabgeworfen. Sie tragen ihr Schicksal aber mit Würde und schaffen so „magisch“ die Grundlage für ihre Rückkehr in ein standesgemäßes Lebensumfeld. In einer spirituellen Deutungsweise ist die Seele aus einem himmlischen Urparadies („Königreich“) hinabgestiegen in eine materielle Existenzweise, die sie nur als Knechtschaft empfinden kann. „Wer Brot essen will, muss es verdienen“ (Originalzitat Brüder Grimm) ist das erbarmungslose Gesetz dieser Ebene, das an Sozialstaatsabbau à la Franz Müntefering erinnert. Immer aber wohnt diesen Abstiegsgeschichten (siehe auch „König Drosselbart“) eine höhere Weisheit inne – derart, dass in einer Leid erzeugenden Umgebung bestimmte Seelenkräfte optimal trainiert werden können: Geduld, Mut und das Vertrauen in überirdische Hilfe.

Wenn es dunkel wird, sei selbst das Licht

Wenn es dunkel ist (was in „Aschenputtel“ schon durch die titelgebende Asche trefflich ausgedrückt ist), kann der Einzelne seine Leuchtkraft in besonderer Weise entfalten wie bei einem geschliffenen Diamanten. Die lange verborgene innere Schönheit findet Resonanz bei einem „idealen Partner“. Psychologische Deutungen haben den „Märchenprinzen“ bzw. die „Prinzessin“ im Sinn von C.G. Jungs Archetypenlehre als „Animus“ oder „Anima“ verstanden. Gezeigt wird das Wiederfinden des verlorenen Seelenanteils, der verlorenen Ganzheit. In spirituellen Interpretationen verweist die Vereinigung mit dem Traumpartner oft auf das „Höheres Selbst“ oder gar auf die „Unio Mystica“, die Vereinigung der Seele mit Gott.

Warum also hat sich Wunderkind Alma gerade diesen Stoff herausgesucht? Erstaunlich ist ja, dass das hochbegabte Mädchen, das laut Auskunft ihrer Eltern viel Zeit in einem selbst geschaffenen Fantasieland verbringt, das Libretto zu seiner Oper kurzerhand selbst verfasste. Nur wenige berühmte Komponisten haben das bisher auch nur versucht. Ihre „Cinderella“ ist eine einfache Notenkopistin, die unter der Dominanz ihrer Stiefschwestern – beide gefeierte Operndiven – leidet. Ihr Prinz ein träumerischer Jüngling, der am liebsten dichtet. Die „rechte Braut“ findet er in dieser Variante des Stoffs nicht über einen passenden Schuh, sondern über eine Melodie, die nur von dem geliebten Mädchen korrekt ergänzt werden kann. Eine stimmige Wendung der Handlung, denn eine selbst gefundene Melodie ist der Seele eines Menschen nahe –kein prunkvolles Outfit kann fehlende Seelenverwandtschaft überdecken.

Das spanische Wort für Seele ist „alma“.

 

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