Auch Russen lieben ihre Kinder

 In FEATURED, Kultur, Politik

Mit seinem Lied „Russians“ sang Sting 1985 gegen die Entmenschlichung vermeintlicher Feinde jenseits des Eisernen Vorhangs an. Hatte Sting nicht übertrieben? Hat jemals irgendjemand bezweifelt, dass Russen ihre Kinder lieben – dass sie also Menschen sind wie wir im Westen? Offensichtlich war die russlandfeindliche Stimmung in Großbritannien im ersten Kalten Krieg so schlimm, dass er meinte, auf diese Selbstverständlichkeit hinweisen zu müssen. Das war damals mutig. Zwischendurch, speziell in „Gorbis“ Ära, mochte man das Lied als überflüssige Belehrung empfunden haben. Und heute? Wir sind offensichtlich wieder so weit, dass Feindschaftspflege jede Annäherung, jedenfalls auf den höheren politischen Ebenen, unmöglich macht. Wir Bürger westlicher Länder tun gut daran, uns daran zu erinnern, dass auch Russen Eltern, Kinder, Liebende sind. Und noch eine weitere Erkenntnis des ehemaligen „Police“-Sängers bleibt hängen: So etwas wie einen gewinnbaren Krieg gibt es nicht. Ein Text zu der Aktion #Friedensnoten. Volker Schubert

 

Als Teenager in den Achtziger Jahren hatte ich Angst vor dem Krieg. Es war die Zeit von „No Future“, des NATO-Doppelbeschlusses und einer wirklich großen Friedensbewegung.

Meine Angst war diffus. Ich weiß noch, dass mein Onkel mich fragte, ob ich denn wisse, was genau beschlossen worden sei, in jenem Doppelbeschluss. Damals konnte man nicht eben schnell im Internet nachsehen, und so murmelte ich irgendwas von Raketen.

Aber die Angst war konkret. Zwar bröckelte die Mär von einem gewinnbaren Krieg, wie sie noch von den Präsidenten Jimmy Carter und Ronald Reagan verbreitet wurde, und doch hatte man das Gefühl, dass jederzeit die Gefahr besteht, irgendein Verrückter auf egal welcher Seite verliert die Nerven und drückt auf jenen ominösen „Roten Knopf“.

Es war Mode, dass Oberschüler ihre Mitschrift nicht mehr in Heften vornahmen, sondern auf einzelnen Blättern, die mehr oder weniger sorgfältig in Ordnern abgelegt wurden. Die Innenseiten der Deckel dieser Ordner wurden mit Sinnsprüchen und Lebensweisheiten beschrieben. Ich schrieb „I love all human beings“ hinein, das leicht Peinliche durch die Wahl des Englischen zu vermeiden suchend. Mein Ausdruck des Bedürfnisses nach Harmonie im Kontext der gefühlten Angst.

Im Oktober 1983 war ich mit meinen friedensbewegten Freunden auf der Menschenkette zwischen Ulm und Stuttgart. Nena hatte mit „99 Luftballons“ einen Riesenhit; ich kann den Text bis heute auswendig: „99 Kriegsminister, Streichholz und Benzinkanister…“ In der Kette hüpften wir und skandierten dazu: „Hopp, hopp, hopp, Atomraketenstopp!“

Die Pershings wurden dennoch in Deutschland stationiert, das Gleichgewicht des Schreckens befand sich auf einem Höhepunkt.

Wesentlicher Bestandteil der jeweiligen Propaganda war die Dämonisierung der anderen Seite. Hier der menschenverachtende Klassenfeind, dort die kinderfressenden Russen.

Auf Letztere bezog sich Sting in seinem 1985 veröffentlichten ersten Soloalbum „The Dream Of The Blue Turtles“, insbesondere mit dem Song „Russians“.

Der Song zeigt die damals aufgeheizte Stimmung zwischen Ost und West exemplarisch anhand von zwei Zitaten. Auf russischer Seite kommt Nikita Chruschtschow mit dem berühmten „Wir werden euch begraben!“ zu Wort. Gemeint hat er damit den endgültigen Sieg des Kommunismus über den Kapitalismus. Für den Westen behauptet Ronald Reagan gewohnt markig-väterlich „Wir werden euch beschützen.“ Man erinnere sich an seine Star-Wars-Phantasien der SDI, der „Space Defense Initiative“. Damit sollten gegnerische Langstreckenraketen mittels Lasertechnologie im Weltraum zerstört werden. Das Gespenst eines gewinnbaren Atomkrieges nahm damit Gestalt an; so viel zum Thema Beschützen.

Sting geht auf diese Idee mit dem Vers „There‘s no such thing as a winnable war, it’s a lie we don’t believe anymore“ ein und entlarvt die Politiker als Lügner.

Die zentrale Aussage ist aber, dass er hoffe, auch die Russen lieben ihre Kinder. Dies überhaupt nur ansatzweise in Zweifel zu ziehen, finde ich aus heutiger Sicht seltsam. Und doch ist es bemerkenswert, denn es stellt etwas in den Vordergrund, was ich in der heutigen Diskussion über den Krieg zwischen Russland und der Ukraine gänzlich vermisse: Empathie.

Dass auch die Russen Menschen sind, tritt vollständig in den Hintergrund. Wladimir Putin ist der Teufel, und russische Soldaten sind – wenn nicht alle, so doch die meisten – Kriegsverbrecher.

Denkt man selbst nur ansatzweise laut über Verhandlungen mit den Russen nach oder ordnet die Geschehnisse nach dem Maidan 2014 kritisch und ein wenig aus russischer Sicht ein, gilt man als Putin-Versteher und Verbündeter mit dem Bösen selbst.

Anders als Sting mit seinem impliziten Misstrauen „I don’t subscribe to this point of view“ folgen die meisten Medien und Menschen der Erzählung vom entmenschten Russen, der um jeden Preis besiegt werden muss.

Jedweder Konflikt kann aber auf Dauer nur aufgelöst werden, wenn man sich gegenseitig wahr- und ernst nimmt.

Und davon auszugehen, dass wir alle unsere Kinder lieben, finde ich hierbei einen schönen Gedanken.

 

 

Medienpartner

Nacktes Niveau (Paul Brandenburg), Punkt.preradovic, Kaiser TV,
Hinter den Schlagzeilen, Demokratischer Widerstand,
Eugen Zentner (Kulturzentner), rationalgalerie (Uli Gellermann), Protestnoten, Radio München (Eva Schmidt), Basta Berlin, Kontrafunk und Ständige Publikumskonferenz.

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