Auf Seiten der Menschlichkeit

 In FEATURED, Poesie

Grafik: Franz Wassermann

Gedanken zur neuen Lyrikreihe oder wieso Poesie und Widerstand nicht voneinander zu trennen sind. „Poesie besitzt die Kraft eine Brücke zu sein, ein Berührungspunkt, eine verdichtete Möglichkeit, ein komprimierter Widerstand, denn in ihrer Komprimiertheit vereinigt sie Sehnsucht und Revolution.“ Siljarosa Schletterer, die neue Poesie-Redakteurin von „Hinter den Schlagzeilen“, wird ab kommender Woche regelmäßig Werke zeitgenössischer Lyriker*innen auswählen und kommentieren. Hier beschreibt sie, was sie zum Start der neuen Reihe bewegt.  Siljarosa Schletterer

„[…] Zu diesem Widerstand gehört die Poesie […]“

Diese Worte entstammen der Nobelpreis-Rede von Heinrich Böll.

Politische Lyrik wird immer noch in Frage gestellt, als müsste man sich zwischen Kunst und Stellungnahme entscheiden, als gäbe es die reine unbefleckte Kunst. Heinrich Böll meint dazu weiter:

„Kein Autor kann vorgegebene oder vorgeschobene Teilungen und Urteile übernehmen, und es erscheint mir als beinahe selbstmörderisch, wenn wir immer noch und immer wieder die Teilung in engagierte Literatur und die andere überhaupt diskutieren. […] Die Stärke der ungeteilten Literatur ist nicht die Neutralisierung der Richtungen, sondern die Internationalität des Widerstands, und zu diesem Widerstand gehört die Poesie, die Verkörperung, die Sinnlichkeit, die Vorstellungskraft und die Schönheit. […] Nicht aus bloßer Spielerei und nicht nur, um zu schockieren, haben Kunst und Literatur immer wieder ihre Formen gewandelt, im Experiment neue entdeckt.

Sie haben auch in diesen Formen etwas verkörpert, und es war fast nie die Bestätigung des Vorhandenen und Vorgefundenen; und wenn man sie ausmerzt, begibt man sich einer weiteren Möglichkeit: der List. Immer noch ist die Kunst ein gutes Versteck: nicht für Dynamit, sondern für geistigen Explosivstoff und gesellschaftliche Spätzünder. Warum wohl sonst hätte es die verschiedenen Indices gegeben? Und gerade in ihrer verachteten und manchmal sogar verächtlichen Schönheit und Undurchsichtigkeit ist sie das beste Versteck für den Widerhaken, der den plötzlichen Ruck oder die plötzliche Erkenntnis bringt.“

Thomas Mann sagte am 22. April 1937 in New York bei einer öffentlichen Rede: „Es war ein Irrtum deutscher Bürgerlichkeit, zu glauben, man müsse ein unpolitischer Kulturmensch sein. Wohin Kultur gerät, wenn es ihr an politischen Instinkt mangelt, das können wir heute sehen.“ Wie dieses „heute“ 1937 aussah, können wir uns in Ansätzen ausmalen.

Gefühlt steht unsere Gesellschaft heute wieder an der Weggabelung: Ein Weg würde wieder ins scheinbare apolitische Schweigen und konforme künstlerische Mitmarschieren führen, ein anderer zur eigenen Meinung. Poesie hat die Kraft uns ins Jetzt zu holen, uns mit dem Jetzt zu konfrontieren, uns aufzufordern Stellung zu beziehen und dieses Jetzt zu ändern!

Dieses Jetzt soll sich auch in der neuen Lyrikreihe wiederfinden lassen: Autor*innen des literarischen „Jetzts“ werden vorgestellt und konfrontieren uns mit ihrer Sichtweise auf ein „Jetzt“.   

Darüber hinaus versucht die Reihe, sich so plural und offen wie möglich der Beziehung zwischen Poesie und Widerstand zu widmen.  Gerade wie eingangs schon Heinrich Böll erwähnt: die Formen  der Kunst, die Formen der Poesie haben sich alle immer wieder geändert und dürfen nicht beschnitten werden, es würde einem „Ausmerzen“ gleichkommen. Weder Biografie, noch Geschlecht, noch Alter oder Bekannheitsgrad der Lyriker*innen waren für uns Kriterien. Die Reihe hat es sich zum Ziel gemacht eine Plattform zu sein, um die Pluralität in der schreibenden widerständischen Welt zu befördern und noch unbekanntere Autor*innen zu veröffentlichen!

Jedem Beitrag wird auch ein Bildelement beigestellt sein. Wir sind sehr froh darüber, dass der Künstler Franz Wassermann sich bereit erklärt hat, Bilder von ihm dafür verwenden zu dürfen. Es sind Werke aus der Reihe #dailysocialtransfer, in der jeden Tag ein Kunstwerk mit spezieller Technik aus Zeitungsillustrationen entsteht. Auf andere Art und Weise ebenfalls ein Weg, „hinter den Schlagzeilen“ Kunst zu machen. Nähere Informationen unter: http://www.dailysocialtransfer.com/

Poesie widersteht der gänzlichen Verständlichkeit, der Normalität, dem Gesetzten. Sie erschafft Verbindungen zwischen Utopie und Realität, ist ein Fingerzeig in das Andere hinein. Poesie besitzt die Kraft eine Brücke zu sein, ein Berührungspunkt, eine verdichtete Möglichkeit, ein komprimierter Widerstand, denn in ihrer Komprimiertheit vereinigt sie Sehnsucht und Revolution.

Wenn Günter Eich in seinem Gedicht “Inventur” die Bleistiftmine als kostbarstes Gut aufzählt, während er selbst inKriegsgefangenschaft saß, dann wird aufgezeigt was Poesie zu leisten imstande ist.  Kennen wir nicht alle die Momente, wenn wir vor einem gefühlten Abgrund stehen, einem politischen oder emotionalen Entsetzen.  Manchmal ist dann eben die Poesie das einzige das bleibt, das bleiben muss. Kunst, Poesie und Protest gehören zu den Grundwerten des Menschseins! Alle drei berühren und bewegen uns, sind ein Ausdruck von Bewegtheit, Ausdruck einer Stellungnahme. Protest bedeutet – bereits dem etymologischen Sinn nach – etwas öffentlich bezeugen. Und Poesie stammt aus dem Griechischen poiesis, und kann mit „Erschaffung“ übersetzt werden.

So soll auch diese Lyrikreihe eine Plattform bilden für „Erschaffenes“, für Poesie, für Werke, die Zeichen setzen für Mitgefühl, Solidarität und Menschlichkeit!

Zur eigenen Stimme zu stehen, scheint immer schwieriger, in einer Zeit in der immer mehr Menschen in die „Schwiegespirale“ verfallen – aus Angst! „Ich frag mich, warum so viele Leute wegschau’n, ist es Angst, Akzeptanz oder Ignoranz? Ich wag es, denn je mehr Leute sich trauen, sich quer zustellen, desto stärker ist der Widerstand.“ Diese Zeilen stammen aus dem Songtext „Antifaschist“ der Gruppe Irie Révoltés. Sie ermutigen, sich seiner eigenen Stimme bewusst zu werden und sie auch einzusetzen.

Auch dies soll ein Ziel dieser Lyrikreihe sein: aufzurütteln und zu verändern! Wenn Robert Musil in „Der Mann ohne Eigenschaften“ über die Wirkung von Kunst schreibt: „Wir, als Geänderte, bleiben“, dann kann man dem nur mehr hinzufügen: JA!

Mögen wir bleiben – immer als Geänderte, immer als Kunst-Veränderte und Kunst-Verändernde…

Mögen die Gedichte der Autor*innen uns inspirieren, ihre Zeilen weiter zu fühlen und weiter zu denken…

Mögen die Zeilen uns anregen, weiter Zeichen zu setzen und uns der eigenen Stimme bewusst zu werden…

…immer auf Seiten der Menschlichkeit!

In lyrischer und widerständischer Vorfreude

Siljarosa Schletterer

 

 

 

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