Auf Seiten der Menschlichkeit: Holdger Platta
Es ist schon etwas länger her, dass wir in unserer Lyrik-Reihe „Auf Seiten der Menschlichkeit“ Gedichte veröffentlicht haben (von Rudolph Bauer). Heute präsentieren wir erneut einige Texte, die nach meinem Eindruck in diese Reihe zu passen scheinen: Gedichte von Holdger Platta unter dem Titel „Damals die erste Zeit nach dem Krieg“. RR
Es handelt sich um Kindheitserinnerungen an die Endvierziger, Anfangfünfziger Jahre, um Erzählgedichte, die das Elend dieser Zeit ebenso wiederbeschwören wie die Ängste und kompensatorischen Größenfantasien eines Jungen, der in dieser Zeit aufzuwachsen hat, um eine Gedichtreihe, die das „Beschweigen“ von Krieg und nationalsozialistischer Schreckensherrschaft ebenso ins Gedächtnis zurückzuholen vermag wie jene Klassenunterschiede zwischen Arm und Reich, die schon damals wieder wahrnehmbar wurden und das Erleben sogar eines Kindes bestimmten.
Damit sind diese Gedichte zweierlei zugleich: politische Gedichte und höchstpersönliche Gedichte. Und eine Doppelperspektive kennzeichnet diese Lyrik auch noch in anderer Hinsicht: es sind Gedichte, in denen ein Kind – verstehend oder auch nicht verstehend – auf die Erwachsenenwelt blickt, und es sind Gedichte, in denen ein Erwachsener zurückblickt auf seine – vielleicht endlich verstandene – Kindheitswelt.
Wahrnehmen und Erleben von einstiger Wirklichkeit finden zusammen zu einer Erinnerung des Begreifens.
Kundschaften
Februargestalten, schräg auf die Straßen geduckt,
in dicken Mänteln, den Mund voller Entrüstungen, Ärmelaufkrempeln
und Bauschutt, schleichen an den Vorjahren vorbei. Sie tragen
ihre Köpfe knapp anderthalb Meter über dem Jungen spazieren,
und oben ist ein Tuscheln und Augenblitzen, das der Junge
nur selten versteht, wenn er an den Händen friert.
Sie schlagen graue Geschäfte vor, ausgekocht eine Unterhose
gegen ein Stück Papier, bevor die Währungsreform kommt,
hier konkurriert die Schlauheit des Hinterhofs mit der Verbissenheit
der Baracke, und der Junge entdeckt die große Beule
auf dem Nacken eines Händlers mit windschiefen Sätzen.
Sie gehen bereits wieder zur Kirche
und lauern darauf, daß der sozialdemokratische Küster hinfällt
beim Entzünden der Kerzen. Und die Streuobstwiesen sind
vollgeschissen von den Hühnern der Nachbarn, glitschige
Nachkriegsversorgung mit Eiern, Kohle und Bettzeug. Und dann,
wenn der Kinderfunk kommt mit dem Blut
unter einem skandinavischen Mikroskop, geht der Junge
auf Verbrecherjagd, fernab aller Verbrechen, in den Wäldern
gleich links von dem rumorenden Ruhrgebiet mit dem Widerschein
der Flammen beim Abstich der Hochöfen am Himmel
und gleich hinter den aufgespaltenen Bunkern der
in den Vorjahren geduckt untergegangenen Welt.
Angst mit Elternpaar
Gibt es da ein Flüstern in den Stimmen der Menschen?
Seine Angst schleppt der Junge überall mit,
bei Frühjahrssonne über die Felder und bei Schneefall
eingeklemmt zwischen zwei düsteren Häusern.
Es ist einige Neugier darin, ein bißchen Hoffnung sogar
und Furcht, sehr viel Furcht. Blickt ihn die Nachbarin
böse an, hat der Junge wiedermal Recht gehabt. Dies
Knistern im verborgenen Heu später. Besser,
man weiß gegen jede Feindschaft ein gutes Versteck.
Zum Beispiel Geschichten erfinden. Der Junge
erfindet Geschichten. In denen hat er einen Hut auf
und ist Detektiv. Wer ihm zu nahe kommt,
lernt seine Pistole kennen. Oder daß er Jiu Jitsu
gelernt hat. Schnell rüber in den nahen Schlehenwald.
In seinen Geschichten ist der Junge
unsterblich bis in den Heldentod. Dann
weinen alle um ihn, was auch nicht schlecht ist.
Vor allem, wenn Birgit dabei ist. Die hat
einen süßen Mund und lacht ihn auf der Holzbrücke
über den Eisenbahngleisen immer an. Der Ölgeruch
von den Schienen herauf. Birgit kommt in seinen Geschichten
oft vor, fast immer in Gefangenschaft, aus der er sie
in allerletzter Minute befreit, und Werner, am Ende der Straße,
der blöde Werner von Rieckers Hof, drüben mit der mächtigen Kastanie
vorm Tor, liegt dann erschossen zu seinen Füßen. Gut,
daß man eine Pistole in seinen Geschichten besitzt,
wenn man in seinem Leben Angst hat!
Oder der Junge reitet davon. Das Reiten hat er von Winnetou
gelernt und Old Shatterhand. Dessen Faustschlag, auch
so ein Wunschtraum! Er reitet dann mit beiden über die Prärie
und jagt Murdock bis weit in den Duisburger Wald hinein.
Und wenn er ihn gestellt hat, schmeißt der Junge
seinen blauen Ballonreifenroller einfach hin,
mitten zwischen das Springkraut, und geht
mit Old Shatterhands Faust auf diesen Halunken los.
Immer bleibt der Junge in diesen Geschichten der Sieger.
Zur Abendbrotzeit, am Küchentisch, schleichen sie sich
dann von ihm weg, diese Geschichten. Der Junge muß sagen,
daß er seine Schularbeiten gemacht hat
und daß morgen eine Rechenarbeit geschrieben wird.
Der Junge mag keine Zahlen, er mag lieber Religion und
den Blick in die Nacht hinaus durch das Schlafzimmerfenster.
Die Drachengeräusche der Güterzüge dann,
der rote Feuerschein von den Hochöfen, der die Bäuche
der Nachtwolken aufglühen läßt. Und von der Küche her
die leisen Gespräche der Eltern. Da hausen die Sorgen
in jedem Satz, weiß der Junge, und er ist eine Sorge
unter den Sorgen der Eltern. Und der Junge ahnt,
deren Angst ist das Elternpaar seiner Angst.
Ostpreußische Tränen
An der Barackenwand hängt ein bräunliches Foto
vom Tannenberg-Denkmal, und die Kaczmareks
besitzen ein Grammophon mit schwarzglänzenden Platten,
die der Junge nicht anfassen darf. „Schellack“,
sagt sein Bruder und ist wie immer
sechs Jahre älter. „Pro Minute achtundsiebzig Umdrehungen!“
Alle setzen sich, während die Älteste einen Auftrag
bekommt und die Frau Gläser aus dem Küchenschrank holt.
„Na, dann wollen wir mal!“ Hier, weiß der Junge,
ist die Erziehung noch immer ein Rohrstock.
Der Älteste läßt jetzt Marschmusik durch die
Wohnküche toben, Radetzky und Hohenfriedberger,
und der Junge zeichnet mit den anderen Kindern
Ritter und Burgen auf billiges Nachkriegspapier. Das
kann er am besten von allen. Vater und Mutter am Tisch
unterhalten sich mit den Erwachsenen über die Flucht
und loben den Eierlikör und die Kinder.
Während die Augen des ostpreußischen Alten
zu tränen beginnen, rappeln die Steingutteller im Schrank,
als ob sie zerplatzen wollten oder drauflosmarschieren.
Vom großen vaterländischen Blitzen erzählt Kaczmarek,
von den Helmen und der Kneipe bei Insterburg,
und seine Frau sagt: „Er trank immer schon gern!“
Über Raffelberg bricht allmählich der Abend herein.
Die Füße des Alten, sieht der Junge, sind nun zwei Tanzbären,
als sich auf dem Grammophon „Zar und Zimmermann“ dreht.
„Na, Lenchen, machst Du einen Kaffe?“ und
„Utchen, Du alte Schlunze!“ Sein breites Gesicht und
die Narbe am Mund, Utchen heult los. In den Pausen
rauschen von draußen die Pappeln herein, seit Stunden
schon dieser Regen über der Rennbahn. Der Junge streitet
sich auf dem Küchenboden mit den Jungs der Kaczmareks,
wer Prinz Eisenherz ähnlicher sehe, und findet,
Siegfried sei doch was Besseres, als er den Kürzeren zieht.
Dann darf er noch durch ein Fernrohr blicken,
mit dem man um die Ecke Erwachsene beobachten kann,
und beginnt sich zu schämen, als der Bassist
vom „Büblein klein an der Mutterbrust“ singt.
„Aber am stärksten ist Tarzan!“ ruft der dünnste
Kaczmarek-Sohn, und von hinten paßt Mutter auf,
daß sich der Junge nicht zu laut freut. Außerdem,
finden Vater und Mutter, wird es allmählich auch Zeit.
An der Tannenstraße eine bessere Welt
Als ob es ein grünendes Paradies wäre: die herrlichen Villen
unter den alten Bäumen im Wald, ein strahlender
Sonnenglanz, Ruhe allüberall hinter den vornehmen Gittern.
Menschen nie dort gesehen, nur manchmal Lachen gehört
von irgendwelchen Terrassen her, das Gelächter
von Schlotbaronen, wie die Jungen es nannten.
Große Autos vor den sonnigen Villen sahen sie oft,
kaum einer dort, der im Glanz keinen dicken Mercedes fuhr,
Feindesgebiet war es nicht, aber Region einer anderen Welt.
Große Hunde in mächtigen Zwingern gab es fast überall,
kaum auszumachen, ob ihr Bellen Haß verriet oder
Sehnsucht nach den vorüberradelnden Menschen.
Auf irgendeinem Grundstück war der Junge einmal gewesen,
hohes Rhododendrongebüsch überall, Bienengesumm,
er durfte Johannisbeeren dort pflücken, keine Ahnung, wieso.
Ein Waldgebiet, das sich Fuchsgrube nannte, auch so etwas.
Auf alten Fahrrädern fuhren die Jungen an diesen
Glücksgrundstücken vorbei, der eine auf seinem Ballonreifenroller.
Das alles schnell eher denn voll innerer Ruhe,
in der Hitze auf dem Weg zu einem Waldsee. Glückseligkeit,
die kaum einer spürte, der aus den ärmlichen Mietshäusern kam.
Gab es Kinder dort? – Die Jungen kannten sie mit deren
guten Kleidern jedenfalls nicht. Klassenunterschiede erlebten sie hier,
mit Tannenduft, bevor es bei den Jungen das Wort dafür gab.
Später erfuhren sie von einer Mordtat in einer der Villen,
sogar der Chef eines Vaters von ihnen hatte die eigene Frau umgebracht.
Da lebte der Junge längst schon in einer anderen Stadt.
Heute gibt es das alles noch immer, doch die Villen
sehen längst nicht mehr so groß aus wie früher.
Nur die Sonne ist immer noch da, als gehörte sie zum Reichtum hinzu.
Und auch die Sehnsucht spüren sie immer noch
wie einen Irrtum voller Intensität. Dann beugen sie sich
über ihre Kindheit wie über den Garten Eden herab,
der niemals der ihre gewesen war in ihren brennenden Herzen.
schon achtundsechzigjährige
und trotzdem noch Junge
wieder aus, heute
wäre es wieder beruhigend gut
eine Pistole zu haben…
man hört die schweren Stiefel
mit dem kalten Wind
vom Reichstag her wieder
und sie kommen immer näher.
Heute –
wäre es wieder gut
gewappnet
abwehrbereit zu sein.