Auf Seiten der Menschlichkeit: Marco Kerler
Poesie und Widerstand: Die Lyrik-Reihe auf „Hinter den Schlagzeilen“, ausgewählt und kommentiert von Siljarosa Schletterer.
Am Horizont
Wo siehst du hin ist
das dein Horizont die
Erweiterung davon weg
zusehen wenn sie mit
lauter Parole und sagen
die Neuen sind Schuld und
neu können sie gar nicht
mehr sein die Nachbarn und
was ist mit der verdammten
Deutschen Geschichte von
diesem unreinen Volk das
meinte rein und eins zu
sein mit Charlie Chaplin an
vorderster Front obwohl
das war nur ein Film aber
im Abgang stellt sich die
Frage kann sowas wieder
passieren und ein großes
Land wählt einen Künstler
auf Twitter nur weiß der
überhaupt nicht von was
er da schreibt und lustig
ist das dann doch
nicht verdammt und ein
anderes Land und ein anderes
Land und noch ein Land da kommt
noch eines dazu ach
Europa ich möchte glauben
an dich du Verlassene was
liegt nur am Horizont wo sie
hinsehen und schweigen wo sie
dich begraben in Wahlurnen Europa
wo sie Angst haben dass der
Euro nicht rollt wo sie nicht
teilen können im Land wo
Milch und Honig fließt
Es gibt keine Lyrik im apolitischen Vakuum-Gedanken zu Marco Kerler. Siljarosa Schletterer
Gibt es eine Kunst nicht politische Kunst, eine Kunst herangezogen im apolitischen Vakuum? Ich würde diese Frage mit einem klaren Nein beantworten. Die großen Begriffe „Politik“ und „Gesellschaft“ entstehen nicht im luftleeren Raum, sondern werden von jedem Du und Ich definiert, inszeniert und hervorgebracht. Deshalb stellt für mich auch jede Form von Poesie eine Stellungnahme dar. Eine dieser Stellungnahme können wir hier lesen. Der Lyriker Marco Kerler ist 1985 in Ulm geboren und war zweimal in Berlin. Seit 2018 schreibt er jeden Samstag ein Gedicht für die Buchhandlung Aegis in Ulm und ist Hauptverantwortlicher für Literatur bei Kunstwerk e.V. Ulm. Obwohl er seine Werke selbst als Schreibgekritzel bezeichnet, muss man feststellen, dass Ihnen doch weitaus mehr Anerkennung gebürt.
Fast sieht man im Gedicht eine Art Skyline der zeitgenössischen Gesellschaft. Nicht nur optisch in den ausgefransten Zeilen, auch inhaltlich werden die Bezüge deutlich: In immer mehr Ländern wird einem das Gefühl vermittelt, dass Wahlen zum Schauspiel werden und Gewählte schon ihre Rolle mit einem Kabarettisten getauscht haben. Und das nicht nur in Amerika oder der Ukraine.
Fast erinnert das Gedicht an einen stream of consciousness, einen Bewusstseinsstrom. Einen inneren Monolog, der hoffentlich beim Lesen eigene Gedankenströme auslösen wird.
Fast erweckt dieses Gedicht den Eindruck eines Aufrufes. Ein Aufruf zum selber denken und weiter fühlen!
Wie sehr Autor_innen auch im direkten Sinne AUF-RUFEN, wird auch bei diesem Autor deutlich, wenn er selbst eine Ausschreibung betreut. Für das “Festival Contre Le Racisme Ulm und Neu-Ulm” im Auftrag des “Literatursalons Donau” ruft Marco Kerler zu Texteinsendungen auf. Die ausgewählten Texte (=40 Gedichte) werden dann von der Druckwerkstatt Ulm auf historischen Druckmaschinen als Flugschrift in Anlehnung an die Weiße Rose herausgeben wird. Diese werden kostenlos während des Festivals (22.06.19 bis 14.07.19) verteilt. Schickt also bis zum 15. April 2019 ein 8-Zeilen-Gedicht zu folgenden Themen: Rassismus, Diskriminierung, Courage, Anti-Afd etc.., mit dem Betreff Flugschrift an info@marcokerler.de. Für eine Einschätzung der ungefähren Zeilenlänge könnt ihr euch am oben eingefügten Gedicht im Bild orientieren.