Auf Seiten der Menschlichkeit: Mati Shemoelof

 In FEATURED, Poesie

Poesie und Widerstand: Die Lyrik-Reihe auf „Hinter den Schlagzeilen“

Franz Wassermann: ‚CALL IT OFF, PLEASE‘

Sogar Pässe zerbrechen

Aylan Kurdi gewidmet, dem dreijährigen syrischen Kind,
das tot an der türkischen Küste gefunden wurde.
„Sogar Felsen zerbrechen, sag ich Dir und nicht weil sie alt sind.
Jahrelang liegen sie bei Hitze und Kälte auf ihrem Rücken,
so viele Jahre, fast ein Bild von Ruhe.“
Dalia Ravikovitch

Sogar Reisepässe zerbrechen, denk Dir
auch Pässe nutzen sich ab mit den Jahren,
von Fremden geschaffen, wechseln sie die Hand
an unmenschlichen Grenzen,
sogar Pässe lügen, sie seien wie neu,
biometrische Siegel,
nicht wie die müde Haut der Hand, fleckig, fahl.
sogar Pässe werden Flüchtlinge,
wenn Traumsterne nicht ausreichen,
um hinter des Terminals Dunkelheit zu gelangen,
sogar Pässe werden eingesperrt, wenn die Mauer Hochzeit feiert
und Hoffnung ledig bleibt,
auch Pässe streben danach, der Erde zu entkommen, die vorgibt
ein weiches Kissen zu sein,
und das Herz bleibt hart, kalt,
die zum Kontinent erstarrte Lava
sogar Pässe stehen auf und gehen weiter zur Arbeit,
schreiben ohne zu lesen auf dem Weg aus der Synagoge der Gedanken
auch Reisepässe werden traurig, wenn sie entdecken
daß sie in einem riesigen Wellental von Glasscherben vergessen wurden,
auch Pässe gehen verloren,
vor dem Gebetshaus, widerstehen keinem Wind.
du schreibst: „Unsere Liebe hat keinen Paß“
und umarmst den Felsen,
damit er nicht zerbricht.

(Übersetzung: Jan Kühne)

 

אֲפִילּוּ דַּרְכּוֹנִים נִשְׁבָּרִים
מֻקְדָּשׁ לְאַיְּלָן כּוּרְדִּי, הַפָּעוֹט הַסּוּרִי בֶּן הַשָּׁלוֹשׁ שֶׁנִּמְצָא מֵת בְּחוֹף הַיָּם בְּטוּרְקְיָה.
„אֲפִילּוּ סְלָעִים נִשְׁבָּרִים, אֲנִי אוֹמֶרֶת לְךָ, / וְלא מֵחֲמַת זִקְנָה. / שָׁנִים רַבּוֹת הֵם שׁוֹכְבִים עַל גַּבָּם בַּחֹם וּבַקּוֹר,/
שָׁנִים כֹּה רַבּוֹת, / כִּמְעַט נוֹצַר רֹשֶׁם שֶׁל שַׁלְוָה.“ דַּלְיָה רַבִּיקוֹבִיץ
אֲפִילּוּ דַּרְכּוֹנִים נִשְׁבָּרִים, אֲנִי כּוֹתֵב לָךְ

גַּם דַּרְכּוֹנִים מִתְבַּלִּים עַל יְדֵי הַשָּׁנִים,
נוֹצָרִים בִּידֵי זָרִים, מַחֲלִיפִים
יָדַיִם בִּגְבוּלוֹת הַלֹּא אֱנוֹשִׁי,
אֲפִילּוּ דַּרְכּוֹנִים מְשַׁקְּרִים שֶׁהֵם כְּמוֹ חֲדָשִׁים,
כְּמוֹ חוֹתֶמֶת בִּיּוֹמֶטְרִית,
וְלֹא כְּמוֹ עוֹר יָדַיִם עָיֵף, מְחֻסְפָּס וְכָבֶה.
אֲפִילּוּ דַּרְכּוֹנִים הוֹפְכִים לִפְלִיטִים,
כְּשֶׁכּוֹכְבֵי הַחֲלוֹמוֹת לֹא מַסְפִּיקִים
לְהַגֵּר מִבַּעַד לְחֶשְׁכַת הַטֶּרְמִינָל,
אֲפִילּוּ הַדַּרְכּוֹנִים נִכְלָאִים כְּשֶׁהַחוֹמָה הוֹפֶכֶת לַחֲתֻנָּה,
כְּשֶׁהַתִּקְוָה נִשְׁאֶרֶת רַוָּקָה,
גַּם הַדַּרְכּוֹנִים נֶאֱבָקִים לָצֵאת מֵהָאֲדָמָה, שֶׁמִּתְחַזָּהּ
לַכָּרִית רַכָּה, וְהַלֵּב
נִשְׁאָר קָשׁוּחַ, וְקַר, יַבָּשָׁה שֶׁל לַבָּה קְפוּאָה,
אֲפִלּוּ דַּרְכּוֹנִים קָמִים וּמַמְשִׁיכִים לָלֶכֶת לָעֲבוֹדָה,
לִכְתֹּב בְּלִי לִקְרֹא עַל הַדֶּרֶךְ הַחוּצָה
מִבֵּית הַכְּנֶסֶת שֶׁל הַמַּחְשָׁבָה
גַּם דַּרְכּוֹנִים נֶעֱצָבִים כְּשֶׁהֵם מְגַלִּים
שֶׁנִּשְׁכְּחוּ בֵּין בּוֹר גַּלֵּי יָם עֲנָק שֶׁל
זְכוּכִיּוֹת שְׁבוּרוֹת,
גַּם דַּרְכּוֹנִים הוֹלְכִים לְאִבּוּד,
אֶל מוּל בֵּית תְּפִלָּה שֶׁלֹּא עוֹמֵד בָּרוּחוֹת.
אֶת כּוֹתֶבֶת: „לָאַהֲבָה שֶׁלָּנוּ אֵין דַּרְכּוֹן“

וּמְחַבֶּקֶת אֶת הַסֶּלַע
שֶׁלּאֹ ישִָּׁברֵ

 

 

  1. Sifnos

Der Mondleib füllt deinen Bauch.
Im Fischerdorf wimmelt es nur so.
In deinen Augen kann man sehen
Wie Flüchtlingsboote
sich nähern

(Übersetzung  Hanno Hauenstein)

 

ס י פ נ ו ס

רֶחֶם הַיָּרֵחַ מִתְמַלֵּא לָךְ בַּבֶּטֶן

כְּפַר הַדַּיָּגִים שׁוֹקֵק

בְּעֵינַיִךְ אֶפְשָׁר לִרְאוֹת

אֶת סְפִינוֹת הַפְּלִיטִים

מִּתְקָרְבוֹת.

מתוך „עברית מחוץ לאיבריה המתוקים“. עורך: אלון בר. הוצאת פרדס. 2017.

 

 

 

 

  1. Auf der anderen Seite der Poesie

Du sagst lass uns treffen nur in guten Zeiten.
Doch nichts Gutes ist ohne Trauer, ohne Sprache.
Wann immer wir tanzen, wird einer begraben.
Wann immer wir einen begraben, wird einer geboren.
Wann immer du mich umarmst in der Nacht,
ist etwas in mir – gerettet.
(Übersetzung  Hanno Hauenstein)

 

 

 

בצד האחר של השירה

אַתְּ אוֹמֶרֶת שֶׁנִּפָּגֵשׁ רַק בַּשְּׂמָחוֹת

אֲבָל אֵין שִׂמְחָה בְּלִי אֵבֶל, בְּלִי שָׂפָה

בְּכָל פַּעַם שֶׁאֲנַחְנוּ רוֹקְדִים, מִישֶׁהוּ נִקְבָּר

בְּכָל פַּעַם שֶׁאֲנַחְנוּ קוֹבְרִים, מִישֶׁהוּ נוֹלָד

בְּכָל פַּעַם שֶׁאַתְּ מְחַבֶּקֶת אוֹתִי בַּלַּיְלָה,

מַשֶּׁהוּ בִּי נִצָּל.

מתוך „עברית מחוץ לאיבריה המתוקים“. עורך: אלון בר. הוצאת פרדס. 2017.

 

 

 

Mati Shemoelof ( שמואלוף , eigentlich Shmueloff) wurde 1972 in Haifa
geboren und lebt seit 2013 als freier Schriftsteller in Berlin. Seine
Gedichte stehen für eine gesellschaftspolitisch engagierte Form israelischer
Lyrik, deren Entstehung vor allem im vergangenen Jahrzehnt zu
beobachten ist und zunehmend außerhalb von Israel Interesse erweckt.
Als Sprößling irakisch-jüdischer Familie aus Bagdad identifiziert sich
Mati überwiegend mit der Kultur arabischer Juden. Diese sogenannten
Misrachis (von hebräisch ‚Misrach‘, d. h. Osten) schufen sich in vergangenen
Jahren eine eigene Stimme in dem von aschkenasischen, d. h.
europäischen Juden dominierten Kulturraum Israels. In Abgrenzung
zur aschkenasisch hebräischen und teils auch Hinwendung zur arabischen
Literatur bieten Misrachipoet*innen eine lyrische Alternative zur
israelischen Dominanzkultur, die Mati Shemoelof als „eine Art dritter Weg der
Poesie“ bezeichnet. (Jan Kühne)

Mehr Informationen zum Autor sind auf seiner Website zu finden: https://mati-s.com/

Das erste Gedicht ist Teil des wunderbaren Bandes:

Shemeolof, Mati:
Bagdad – Haifa – Berlin
40 ausgewählte Gedichte – Deutsch-hebräische Ausgabe
Übersetzung aus dem Hebräischen und Nachwort von
Jan Kühne – Übersetzung ins Arabische: Nael Eltoukhy
AphorismA Verlag − Berlin 2019 − 1. Auflage

 

Das zweite und dritte Gedicht ist aus: “Ivrit außerhalb ihrer süßen Innereien”
Antologie, (2017), Pardes. Ed. Elon Bar.

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