Auf Seiten der Menschlichkeit: Max Czollek
Poesie und Widerstand: Die Lyrik-Reihe auf „Hinter den Schlagzeilen“
elegie von der peripherie
ich drehe die laternen leise
als wäre ich mir sicher
dass den dingen
keine füße wachsen
sie heimlich kontinente wechseln
drehe die laternen leise
mit einem blauen vertrauen
das ich sonst nur
von freundinnen kenne
die mich am ende
einer uferlosen nacht
durch den schnee navigieren
einen aufgenebelten märz
drehe die laternen leise
wo stadt entkrampft
und versuche einmal mehr
mich dem tier im bauch
zu nähern
wie mit skalpellen
einem blauen vertrauen
das ich sonst nur
von freundinnen kenne
die für die nächste demonstration
plakatieren gehen
und mich für eine schrecksekunde
davon überzeugen
wir hätten eine chance
sextantische kapelle
diplomatenkind mit nelkenauge
den gehissten fahrtenschreiber im brustkorb
wer weiß, wann der vorhang
der pupille sich hebt, weshalb wir manches
erinnern, anderes nicht
in der frühe kondensiert
sehnsucht auf den augen, eine zweite netzhaut
die man durch ozeane schleppt
bis der schwertfisch in ihr zappelt
auf dessen blasser werdenden kiemen
man die wegbeschreibung
zur messerschmiede
der palmblätter zu finden hofft
(für j. s.)
krankenbesuch
die schwalben vor dem fenster kein kardiogramm
die bettbezüge keine gehisste parlamentärflagge
der park kein aufrechter fleischwolf, aus dem wiese quillt
die gensequenzen nicht die poetologie der haut
die zeitungen keine ableitungen des baums
die mücken keine kleinen blutkonserven
die kieselsteine keine zerknüllten notizzettel
Von sprechenden Werten, von grenzenden Sprachen – Gedanken zu Max Czollek
Der neue Czollek ist da! Es sind Grenzwerte. Er setzt damit Grenzwerte. Erschienen im Verlagshaus Berlin vor wenigen Wochen. Die hier präsentierten Gedichte sind quasi der „Directors Cut“ zum Buch. Also Premierveröffentlicht hier. Mit dem Band Desintegriert euch thematisierte er ausgegrenzt Wichtiges und kurbelte die Diskussionen an.
Vita
Geboren 1987 in Berlin, lebt ebenda. 2012 Diplom Politikwissenschaften, FU Berlin. Promotion am Zentrum für Antisemitismusforschung, TU Berlin. Seit 2009 Mitglied des Lyrikkollektivs G13, gemeinsame Lesetouren und Veröffentlichungen. 2013-2019 Kurator für das internationale Projekt Babelsprech.International zur Vernetzung der jungen deutschsprachigen und europäischen Lyrikszene. Gemeinsam mit Sasha Marianna Salzmann Initiator von Desintegration. Ein Kongress zeitgenössischer jüdischer Positionen (2016) sowie der Radikalen Jüdischen Kulturtage (2017) am Maxim Gorki Theater Berlin, Studio Я. Seit 2017 Mitherausgeber des Magazins Jalta – Positionen zur jüdischen Gegenwart. Zuletzt erhielt er den Bonner Literaturpreis 2017 sowie das Künstlerstipendium der Villa Tarabya, Istanbul 2018.