Auf Seiten der Menschlichkeit: Rebecca Heinrich
Poesie und Widerstand: Die Lyrik-Reihe auf „Hinter den Schlagzeilen“, ausgewählt und kommentiert von Siljarosa Schletterer.
aus gegebenem anlass
sie haben die sprachrohre, die stahlkappen, die stacheldrähte
wir haben nichts, außer dem herz.
sie haben die sprachrohre, die sprechchöre, die sturmgewehre
wir haben nichts, außer dem herz.
und vielleicht täte ihnen
das auch gut.
ist es so einfach
du sagst so viel einfacher ist es
die zeitung zuzuschlagen
und sich auf sich zu konzentrieren.
die texte nicht mehr zu lesen
und die eigenen zu überarbeiten.
konfrontation durch kontinuität zu ersetzen,
unbewusstes durch den lauf der zeit
und all das öl an den fingern durch glänzende taten.
das sagst du mir, wenn du dich umdrehst.
ich sage so ist es einfach, aber
kein verändern, vergeben und
verzeihend nach vorne treten.
ich würde mich zuwenden und
hinwenden, würde schon lange
beschlossene enden wenden,
würde schritte zurück nehmen
und schritte zu dir hin nehmen.
das sage ich dir, wenn ich dich umdrehe.
erkläre mir die einfachheit dieser
welt, weil ich sie nicht in meinen
büchern lese, die geben mir andere
enden, verstehst du, keine figur ist
tot nach dem letzten kapitel und
keine hat sich gefunden, verstehst du,
was ich damit meine, die figuren, die
sich finden, sind doch die, die am ende
immer sterben. das will ich nicht, ich habe
angst vor dem schlusspunkt, er sieht mir
nicht ähnlich, er ist mir wie ein verhülltes
komma, das sie gesetzt haben, weil sie mir
sagen wollen, dass es so viel einfacher ist, aber
als ich letztens an einem schlusspunkt.
weiterschrieb, da kam es mir so vor,
als wäre eine ganze begegnung
ein ende mit komma,
gestern las ich das werk medien und einsamkeit
wenn du mir davon sprichst,
e-mails seien ent-personalisiert,
ent-emotionalisiert und
völlig ent-resoniert,
dann will ich dir gedichte schreiben.
für deinen posteingang,
für deinen postausgang,
und sogar für dein archiv.
vielleicht könnten wir dann gemeinsam
die einsamkeit der medien überschreiben,
indem wir unser interface wieder
be schreiben und
be singen und
be leben.
Warum Literatur Widerstand ist: anhand der Slam-Klangpoetin Rebecca Heinrich
(Siljarosa Schletterer)
Die Österreicherin REBECCA HEINRICH ist nicht nur Lyrikerin und ausgezeichnete Slam-Poetin, sondern auch Schauspielerin und studierte Germanistin.
Sie ist Teil des Kunstkollektivs „dreiundzwanzigminuseins“ und des Slam-Teams „Keine halbe Beschreibung“.
Sprache kann oder soll Enthüllung sein und Enthüllung führt zu Wandlung. Wie nicht nur Sartre es schon bemerkt hatte: Sprache ist Handlung. Enthüllung bewirkt Verwandlung. Die Kunst – also auch die Lyrik – ist grundsätzlich frei, also auch frei für und zur Veränderung. Darin liegt für mich das widerständige Potenzial, meint die Autorin.
Dieses Potenzial wird auch in dieser Gedichtauswahl er-spürbar. Sie zeigt auf wie sehr Lyrik und Slam-Poesie sich ergänzen können und verzahnt sind, wie sehr beide vom Klang der Sprache leben, vom Klang des Widerstandes. Das Sprachspiel lebt und be-lebt! Mit uns!
Im ersten Gedicht „aus gegebenem anlass“, gibt sie uns Anlass nachzudenken, und macht Mut! Im zweiten Text, „ist es so einfach“, fragt sie nach, hakt nach an genau der Stelle, an der Solidarität über Egoismus und Darwinismus siegen sollte! Hört ihr den Beat des Textes? Hört ihr den Beat des Aufrufes? Den Aufruf zu fühlen und hinzuschauen?
„gestern las ich das werk medien und einsamkeit“ nimmt Bezug auf das Werk „Einsamkeit in der Mediengesellschaft“ von Barbara Mettler – von Meibom.
Denn „unser Haus brennt“, aus diesem „gegebenen Anlass“ sollten wir mit Herz und Poesie antworten! Lasst uns Gedichte schreiben und Gedichte lesen! Gegen alle Sprechchöre und Stacheldrähte! Dafür müssen wir uns alle unsrer Stimme bewusst werden:
„Der Inhalt ist dringlich, ist unumgänglich, ist kritisch; er bedarf einer Stimme, um gehört zu werden, er will gehört werden […] kurz: Alle Möglichkeiten der Sprache, der Stimme und des Körpers ausschöpfend werden gesellschaftliche Ideologien, soziale Prozesse und scheinbare Gegebenheiten aufgegriffen, um dann mit dem Akt des Vortrages Widerstand zu leisten, die Wirklichkeit zu verändern, kurz: zu kritisieren. Das alles ist grundlegender Bestandteil von Poetry-Slam und Slam-Poetry, ist das englische Wort slam laut dem Cambridge Dictionary doch selbst schon ein Synonym von ‚kritisieren‘.“
Unter folgendem Link kann man die Autorin in Aktion erleben: https://bit.ly/2HBOTZx
[1] Rebecca Heinrich: Ich bin nicht fremd. Gesellschaftskritik in Slam-Poetry und Poetry-Slam, in: Bstieler, Hubmann, Ganahl, Pöttgen, Schletterer: Kunst als gesellschaftskritisches Medium, Bielefeld 2018, S.285 ff. https://www.transcript-verlag.de/978-3-8376-4283-4/kunst-als-gesellschaftskritisches-medium/