Auf Seiten der Menschlichkeit: Sebastian Raho
Poesie und Widerstand: Die Lyrik-Reihe auf „Hinter den Schlagzeilen“
in genua
das grauen ist ein gefühl
wie alle anderen
bringt es eigenschaften hervor, sodass man sieht.
statuen sind aschehaft am friedhof in staglieno
stumme frauen mit blumen stehen dort.
in den arkaden genuas
schlafen afrikaner in sichtweite des meeres
stumme frauen mit blumen stehen dort;
steigt ein mann aus dem café
vor den augen der arkaden
hält er kuchenstücke in seiner hand
und füttert liebevoll seinen hund.
brief an die stadt #27 [zensiert]
es is so, sei unglücklich
geh ins café, trink espresso
macchiato, sag brav danke
es is halt so, wir sind viecher.
wenn ich sauer bin, spuck ich autos an
gelbes zeug quillt aus meinem inneren
blumen eures drecks – als erinnerung
frau und kinder anbrüllen
ist nicht befriedigend
aber besser als nichts.
harmlos wie ich, sprechen sie
fließend montessori und epistemologie
woher weiß man, dass man weiß
dass man ein magengeschwür hat, papi?
unsere nachbarschaft besteht aus huren
und hakenkreuzen – polis gibt’s nicht
nur schnelle autos und langsames sterben
der unmöglichen arbeit am glück.
wer bin ich?
I.
dein präsident ist nicht böse. nur wenige
mögen vernichtung um 14 uhr, eigentlich
bin ich rein wie ein waschbeckenabfluss
leid perlt ab und tschüss. wie ein geiler hunger
fessel ich deine wünsche und mach dich neugierig;
du darfst meine jünger wählen, oder sie quälen dich;
tote philosophen kennen mich. genau
und grausam spielen wir jetzt natur –
irgendjemand zückt indianisches messer
und ich mach ihn eisig in den ruin.
ich bin taub und mach dich stumm.
wovor willst du dich befreien? ich beschütze dich.
ich liebe not und nutz die ignoranz – wie oft
trampelst du gelangweilt durch fremdes glück? und du?
bist du böse? ist gar nichts gutes an mir? sag‘s mir
ach, du willst atmen! ach, du willst sein…
ich mach gedeihen und vergehen. ich bin deine kraft.
ich bin macht. du brauchst mich nicht verstehen.
II.
das arschloch lebt von streit und nein!-nein!-nein!-
brüllern mit fetten pratzen – „friss meine faust!“
schläft im heißen stolz sein stinken
schiebt sich – „riech!“ – dir ins gesicht
ein ich mit äxten und mut zur not
bereit zu opfern – wen? alle außer sich
alle morschen äpfel, allen schund in seinem sinn
er, der gott, der sonnen schluckt
der frosch oder prinz oder beides ist, der
benzin über mütter schüttet und schreit:
„gerechtigkeit!“…
III.
nachdem alle sterne zitternd in seinem zeichen stehen
schleifen brave aus trockenem blut das neue gesetz.
notiz zum soundtrack von apokalypse now (1979)
das empire verwendet seine jugend.
die jugend rebelliert mit frieden, sex und subversion.
…bald lag er im bambus.
schneller als du glaubst, bist du im krieg.
dein kind ist jetzt dein erbe.
deine frau, ihr raucht eure letzten zigaretten
küsse und kokain, weil alle kokain.
der oberleutnant schrie
ziel auf die brust. du zielst
auf die brust, weil alle – sind das wolken?
ist das feuer? es riecht
nach verbranntem haar.
düsternis des lichts.
mitternacht ohne mondlicht.
wind hinkt durch häuserschluchten.
zerschossen heulen fensterspalten.
kormorane treiben im reisfeld.
in schilfhütten liegen meine menschenreste
…die scharfen, schroffen formen
meiner schmutzigen hände…
drei jahre
drei jahre angst und mord.
sie schrieb von daheim in nassen kuverts:
das kind ist brav. ich erinnere mich
an daunendecken.
keiner erkannte mein gesicht
als ich heimkam.
niemand glaubte mir daheim
dass ich dort war.
in vietnam
machen sie heute meine socken.
Sebastian Raho, geboren 1987, schreibt Prosa und Lyrik. Studierte an der London School of Economics und der Technischen Universität Wien. Zahlreiche Übersetzungen für die Reihe Europa Erlesen, sowie Herausgeber von: Europa Erlesen Yorkshire (2017) und Europa Erlesen Liverpool (2018). Im Herbst 2018 erschien sein Roman „Mittagessen“ bei Drava.
Mehr Informationen unter: http://sebastianraho.com/