Auf Seiten der Menschlichkeit: Sieglinde Schauer-Glatz

 In FEATURED, Poesie

Poesie und Widerstand: Die Lyrik-Reihe auf „Hinter den Schlagzeilen“, ausgewählt und kommentiert von Siljarosa Schletterer.

Mischtechnik auf Leinwand – Martin Schauer

 

Am Ufer der Zeit
steht die Flussfrau
unter der Wintersonne
der dunklen Vergangenheit
erstarrte Feueraugen
im gesäuberten Mutterland
zeichnen silberne Tücher
auf brüchigem Eis
des Schweigens
30.06.2004

 

Das Feindbild
Ein Urteil aus der Winkelperspektive
aus passiver Kenntnis der Vergangenheit
lässt ein Feindbild entstehen
gegenüber den Fremden
den Ausgeschlossenen
den Zigeuner
der sich anzupassen hat
oder sanktioniert wird
der Heimatlose
der über kein Territorium verfügt
um Macht auszuüben
keine Kirche kein Land kein Staat
ohnmächtig ist die Klage
auf ständiger Flucht
die keine Grenzen kennt
der Wahnwitz der Politik
hält sich in Schweigen
und Gesetzgeber versuchen
mit Strafbestimmungen entgegenzutreten
der gute Bürger
mit Frömmigkeit ohne Glauben
hat Denkschablonen übernommen
verfügt über lange Eselsohren
und einer Blindheit
ohne Fragezeichen
04.09.1998

 

 

Kaltnadelradierung – Martin Schauer

Gehorsam dient
der Unterdrückung
verschleiert Taten
untermauert Macht
an der Seite des Schweigens
stehen die Verlorenen
klein gehalten
Gehorsam dient
05.06.2010

 

 

Asylant
Als Fremdling ausgestoßen ins Heimatlose
wo die Sprache der Sprachlosen herrscht
und zwischen nicht gesagtem Wortgepinsel und Zeit
schlagen sich Tage in Stücke
im Ringen des Zweifels
hat das schweigsame Land entschieden
über dein Schicksal – Fremder
30.06.2004

 

 

© Alle Rechte bei der Autorin

 

 

Von den Flussläufen, den Steinigen, von der Liebe und dem Aufbegehren trotz allem: Gedanken zu Sieglinde Schauers Gedichten (Siljarosa Schletterer)

Am Ufer welcher Zeit stehen wir? Wie sehen unsre Urteile aus? Wenn verurteilen wir? Wer sind wir? Wer ist vermeintlich fremd? Sind wir es selbst?Sieglinde Schauer-Glatz zeigt uns in den Zeilen, die Verletzungen und Verletzbarkeiten auf, die neben uns liegen, von uns verursacht werden, die uns angehen, die wir selbst sind..Es sind Gedichte, die aufzeigen und hinzeigen. Es sind Gedichte, die jenen eine Stimme geben, die in der “Sprache der Sprachlosen” unterzugehen drohen. Es sind Gedichte, die die ” Blindheit // ohne Fragezeichen” sehend machen kann.

Das Leben und Schreiben von Sieglinde Schauer-Glatz sind gezeichnet von Widrigkeiten und Widerständen. Sie macht Mut jeglichen Steinen im Weg zu trotzen und dennoch das Leben zu bejahen. Die Autorin wurde 1948 in Haiming in Tirol als Kind jenischer Eltern geboren. Als Jenische werden Anghörige einer marginalisierten Bevölkerungsgruppe mit eigener Sprache  bezeichnet, die in Tirol ansässig sind. “Jenische gingen, wie viele Roma in der Vergangenheit, ambulanten Berufen nach und wurden als „Zigeuner“ verfolgt und diskriminiert. Die Bezeichnung Travellers wird für Nicht-Roma-Gruppen verwendet, die eine „fahrende“ Vergangenheit und/oder Gegenwart haben oder denen eine solche zugeschrieben wird. All diesen Gruppen ist gemein, dass ihre Angehörigen in überwiegender Mehrheit – entgegen weit verbreiteter Meinung in der Öffentlichkeit – sesshaft sind. Sie alle werden mit Vorurteilen, diskriminierenden Zuschreibungen und Fremdbezeichnungen konfrontiert.” [aus: Erika Thurner, Elisabeth Hussl und Beate Eder-Jordan (Hrsg.), Roma und Travellers. Identitäten im Wandel] Es gibt daneben eine größere Zahl von in der Regel regionalen und abwertenden  Fremdbezeichnungen , vor allem in Tirol, war die Bezeichnung Karrner (die in Karren leben) oder auch Landgeher, Laninger gängig. Als Schauer-Glatz gerade zwei Monaten alt war, kam sie zu einer Pflegefamilie, die schon 1951 gewechselt wurde. Sie selbst schreibt über diese Zeit: “Dort lernte ich ohne Worte den negativen Beigeschmack meiner Herkunft kennen. Denn immer wenn danach gefragt wurde, kam es zu einem Geflüster […], sodass ich meine Herkunft über viele Jahre verdrängt und verschwiegen habe.” (nachzulesen unter:  http://www.glatz-ev.de/glatz-geschichten/sieglinde-glatz.html) Erst mit 49 Jahren konnte sie sich selbst zu ihrer jenischen Herkunft bekennen. Nach üblicher Schullaufbahn war sie im Sozialbereich tätig und Vorkämpferin und Mitbegründerin der Integrativen Schule für Behinderte und Nichtbehinderte in Österreich. 2010 erhielt sie dafür die Verdienstmedaille des Landes Tirol . Auf den ersten eigenständige Lyrikband, der in absehbarer Zeit erscheinen wird, dürfen wir uns freuen!

Die Bilder in diesem Beitrag stammen von ihrem Martin Schauer. Die Bilder leuchten auf, leuchten ein, leuchten hinein. Sie bewegen gleichsam den Zeilen der Mutter! Wer die Bilder sieht, würde nie vermuten, dass dahinter ein schwerbehinderter Künstler steht. Informationen zum Künstler Martin Schauer sowie weitere Bilder sind unter diesem Link zu finden: http://www.martinschauer.at/d/neuigkeiten.html

 

 

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