Auf Seiten der Menschlichkeit: Undine Materni
Poesie und Widerstand: Die Lyrik-Reihe auf „Hinter den Schlagzeilen“
Wünschen und Wollen
für Heinz Czechowski
Ach könntest du doch
noch ein bisschen mit
knistern im Orchester der
Bücher
Etwas ist anders geworden
seitdem du fort bist
Du hast vom großen
Schweigen geschrieben
das überm Land liegt
jetzt tönt es und schreit
Glattbügler und
Schaumschläger
brechen die Zeilen
in handliche Stücke
zerreiben die Stille vor einer
Metapher zu glänzendem
Staub und tragen ihn
schreiend zu Markte
Ich fahre rüber nach
Trachau dort hast du geschrieben:
Ich hatte das Glück und das Unglück
in einer Stadt geboren zu werden
die einmal zu den schönsten Deutschlands,
ja Europas gehörte: Dresden
Nach der Bombardierung
flogen die Piloten
nach Hause
aßen zu Abend
tranken Tee und
legten schlafen
Etwas ist anders geworden
seitdem du schweigst
Erst spät hab ich die Bitterkeit
deiner letzten Jahre begriffen
das Niemandsland zwischen
Wünschen und Wollen
Der schwarze Berg und der weiße
bei Bautzen stehen noch immer
Und du? Hast vielleicht
die Achmatowa getroffen
und versuchst mit ihr vergeblich
ein Wort für Heimat zu finden –
Regen. Blau.
für Helga Maria Novak
Ich kenne keinen, der so sehr unterwegs ist und sich so sehr zurücksehnt. Der weggeht, um wiederzukommen, aber nicht auf den Knien.
Jürgen Fuchs
Der Himmel ist da und es regnet.
Feucht ist der Boden
zu hören nur ein leiser schmatzender Laut.
Fragt sie: Wie diesen Regen überleben.
Frage ich: Wie dieses Blau.
Ich krieche zu ihr zwischen die Seiten
doch die Kälte hebt sich nicht auf.
Sie wäre erreichbar von hier. Zu finden. Noch da.
Baum, Haus und Weg. Der Wind kommt von vorn
von den Seiten, keine Spur führt gerade zum Ziel.
Träfe ich einen dort, der sich erinnert an sie
wollte ich weiter nichts wissen. Nur:
Dreht sie sich wirklich nicht um, wenn sie geht?
Grünheide und Island. All die Länder dazwischen.
Vor der Kälte in den Norden geflohen. Zurück. Und immer
nur weg. Ein Haus jetzt in polnischen Wäldern.
Freunde lehnen dort zuweilen am Zaun
sprechen von Regen und Wind.
Noch immer haust innen der Feind
draußen wechselt er nur seine Maske
und spricht dieses Englisch für alle:
Blue sky and rain. I’m hungry. But why …
Ihre Verse halten sich an der Herzwand
die Silben sind mit Haken versehen.
Ein schmerzliches Glück ohne Heimat.
Ohne heilige Ordnung, die große Wörter
und kleine Bedeutungen fällt.
Ich aber denke auf Deutsch. Jage und schleife
den Vers auf der Zunge. Wünschte mir hier
ihre raue Anwesenheit, die auf Beifall verzichtet.
Noch immer voll Sehnsucht nach allem
was seinen Preis hat.
wie viel Herzen schreibt sie habe ich pochen hören
Seelen keine und ich wünsche niemand
erlitte die Qual einer Art Herberge
meiner Seele später zu werden solche
Strafe hat wirklich keiner verdient …
Doch die neue Zeit rechnet ohne Maß
mit Vergessen. Groß sind die Münder hier.
Hungrig ohne die Leere zu fürchten
die im Inneren haust.
Was werd ich sie fragen im Regen?
In welcher Sprache: Sprechen Sie deutsch?
Vom Wünschen und Wollen für Louise Otto-Peters
Schwester ich schicke dir eine
Depesche aus dem achtzehnten Jahr
meines Jahrhunderts und wünsche und
fürchte zugleich du würdest sie lesen
Wie oft bin ich im Sommer nach
Meißen geradelt und weiter hinüber
nach Diesbar in kurzen Hosen und ohne
Begleitung Das da bin ich sicher
würde dich freuen und auch dass ich wie
du eine Reisende bin der das Unterwegssein
ebenso viel bedeutet wie eine auch
immer geartete Ankunft
Du hast sie staunend betrachtet die erste
Dampfeisenbahn auf der Strecke von
Leipzig nach Dresden Inzwischen
fliegt man von Dresden nach Moskau nach Wien
und Barcelona Am Himmel schneiden die
Flugzeuge Muster ins Blau
In ihren Bäuchen hocken Menschen
über eine Zeitung gebeugt und trinken
Champagner Der Wechsel der Welten kümmert
sie wenig Sie machen Geschäfte und tausende Fotografien
Alles ist möglich und weniges noch von Wert –
Du hattest dich der Bewegung verschrieben
in nahezu allem: den Dingen den
Worten den Menschen und nun
frisst eine krankhafte Eile sie alle
Doch deine Zeit war noch voll von Wünschen und
Wollen worum ich dich ein wenig beneide
Versteh mich nicht falsch Ich sitze in einem
warmen Zimmer und habe gerade eine gute
Hühnersuppe gegessen Niemand verlangt von mir
dass ich das Treppenhaus wische oder viele
Kinder gebäre Ich habe in Leipzig und Dresden studiert
Spreche vier Sprachen und kann
sogar einen Computer bedienen
Ich könnte überall sein Doch bin ich an
der Elbe geblieben Dresden lässt mich nicht los
Es ist wie eine Umarmung die zuweilen
die Luft nimmt Aber meist ist es Wärme
in den Gebäuden der Sprache dem Singsang
über den Dingen und jenem seltsamen Licht
überm Wasser im Herbst das manchmal zu schön ist
um in Bewegung zu bleiben Alles ist möglich
aber nicht unbedingt Die Visionen verschwimmen
Man kann etwas tun um es nicht zu lassen
Selbst die Poesie ist davor nicht sicher
Die Welt ist so sehr in Bewegung geraten
Dich würde schwindeln Louise
Vieles kommt ebenso schnell wie
es verschwindet Auf dem Spielplatz vor
meinem Haus rufen arabische Frauen nach ihren Kindern
Seit ich lebe blieb Deutschland von Kriegen verschont
doch nicht unbeteiligt am Unheil der Welt
Ich schreibe Gedichte um in die Nähe der
Wahrheit zu gelangen so wie du Aber die trägt
immer öfter glitzernde Kleider und schminkt ihren
Mund statt ihn zu öffnen Dann werde auch ich still
und kehre dem Zweifel den Rücken –
Über die Autorin:
geb. 1963 in Sangerhausen,
1882–1987 Studium der Chemie, danach Tätigkeiten als Forschungsingenieurin, Altenpflegerin, Kellnerin, Mitherausgeberin der Zeitschrift „reiterIn“ in Dresden und allerlei mehr …
1990–93 Studium am Literaturinstitut Leipzig,
2000–2002 Verlagsmitarbeiterin im Verlag ddp goldenbogen in Dresden,
2002–2005 Mitarbeiterin im Ausländerrat Dresden e. V
seit ca. 25 Jahren freie Mitarbeit bei der SÄCHSISCHEN ZEITUNG
seit 2006 Freie Autorin, Lektorin und Publizistin, Kolumnistin, Kunst- und Literaturkritikerin
Mitglied im Literaturforum Dresden e. V., Akteurin bei der Bürgerbühne Dresden
Mehr Informationen unter: https://www.undine-materni.com/