„Ausschreitungen sind nicht vorgekommen“
Kriegsende und Novemberrevolution in Northeim. Anmerkung der Redaktion: Wir veröffentlichen diesen Text heute noch einmal – angereichert durch eine Fülle interessanter Original-Bilddokumente. Heute nun der zweite Vortragstext, den wir zu den Ereignissen 1918/19 auf HdS exklusiv veröffentlichen können. Diesesmal stehen die Nachkriegsgeschehnisse in der südniedersächsischen Kleinstadt Northeim im Mittelpunkt – bemerkenswert als Ergänzung und Komplettierung dessen, worüber uns letzte Woche Hubert Brieden, der Fachautor und Rundfunkjournalist aus Hannover, aus reichsweiter Perspektive zu berichten wusste. Es handelt sich um die Darstellung des Northeimer Historikers und Ex-Archivars Ekkehard Just. Fazit seines Berichtes: geriet der Revolutionsversuch 1918/19 auf Reichsebene vor allem unter die Räder, weil sich dem die SPD – im Bündnis mit den alten Mächten des Kaiserreichs – in den Weg stellte, so konnte in Northeim nicht einmal von Revolutionsversuchen die Rede sein. Der „Arbeiter- und Soldatenrat“ in Northeim griff bestenfalls eine der drei Grundforderungen des deutschen Revolutionsversuches auf, die im Nachkriegsdeutschland kursierten, etwa in der Gestalt des Slogans „Frieden, Freiheit, Brot“: sich um Unterkunfts- und Ernährungsfragen der Bevölkerung zu kümmern. Im übrigen beschränkte sich der „revolutionäre Elan“ der Northeimer Neuerer vor allem auf eins: beim „wohllöblichen“ Stadtrat Anträge zu stellen. Vortrag von Stadtarchivar a.D. Ekkehard Just (c), Vorspann: Holdger Platta
Soweit die GGZ, die Göttingen Grubenhagensche Zeitung, vom 9. November 1918 über das, was sich hier in Northeim am 8. November abgespielt hat. (Die GGZ war neben den Northeimer Neuesten Nachrichten eine der beiden lokalen Zeitungen.)
Marinesoldaten waren auch in Northeim eingetroffen und waren zum Landsturmbataillon, das in der alten Kaserne lag, marschiert. Dort trug ein Matrose die „Kieler Forderungen“, wie es die GGZ genannt hatte, vor. Die Soldaten des Landsturmbataillons solidarisierten sich mit den Matrosen, gemeinsam zog man zur Unteroffiziersschule und auch dort solidarisierten sich die Mannschaften und Unteroffiziere mit den „aufständische Matrosen“. Die Offiziere leisteten keinen Widerstand, im Gegenteil, alles blieb militärisch korrekt, der Kommandant der U-Schule wurde zum Garnisonsältesten ernannt – klare Strukturen blieben in Kraft … in der Stadt blieb es ruhig.
Nun mit einem Mal waren Soldaten auf den Straßen, zeigten Präsenz, es gab sogar einige Schüsse in die Luft, aber sonst … vor allem wohl Aktionismus.
Bevor ich in der Chronologie dieses November in Northeim weitermache, ein paar Worte zu den politischen Entwicklungen im Herbst des Jahres 1918 und zu Kiel und den Matrosen.
Am 2. Oktober konnten die Northeimer in ihrer NNN lesen, wie gleichsam das letzte Aufgebot mobilisiert wurde:
Soweit die GGZ, die Göttingen Grubenhagensche Zeitung, vom 9. November 1918 über das, was sich hier in Northeim am 8. November abgespielt hat. (Die GGZ war neben den Northeimer Neuesten Nachrichten eine der beiden lokalen Zeitungen.)
Seit 1907 hatte der Brunnen mit der Statue den Marktplatz geziert.
Das war schon ein Einbruch und machte die Dramatik der Situation deutlich, aber nicht alle Bürger waren mit Ottos Auszug aus dem Stadtbild unzufrieden, in einem anonymen Schreiben an die Stadtverwaltung hieß es: „Gott sei Lob, Dank und Preis, daß dieser Otto vom Marktplatz, diese elende Nürnberger Bleisoldatenfigur, endlich verschwunden und unserem täglichen Anblick entzogen ist. Mehrere Bewohner des Marktplatzes.“
Ab Oktober konnte man aus den Verlautbarungen der zensierten Presse, auch der NNN oder der GGZ, erahnen, welche tiefgreifenden Veränderungen auf Deutschland zukommen sollten. Nun wurde ein Waffenstillstand angestrebt und der „Siegfrieden“ war nicht mehr das primäre Ziel. Sogar die Note des amerikanischen Präsidenten wurde im Wortlaut abgedruckt, in der mit deutlichen Worten die „gesetzwidrigen, unmenschlichen Handlungen“ der deutschen Streitkräfte angeprangert wurden. Mit Prinz Max von Baden gab es einen neuen Kanzler, der auch die oppositionellen Parteien SPD und Zentrum an seiner Regierung beteiligte und damit Sozialdemokraten und Zentrumspolitiker in der Regierung saßen. Aber kam das bei den Menschen und den Northeimern an? War ihnen der Wandel, der auf sie zukommen sollte, wirklich klar? Die Werbung für die neunte Kriegsanleihe lief auf vollen Touren. Auch ein gewisser Staatssekretär Scheidemann warb dafür, auch wenn nunmehr nicht der Sieg, sondern der Friede Ziel der finanziellen Aufwendungen war. Phillip Scheidemann war übrigens der Politiker, der am 9. November die Republik von einem Reichstagsfenster ausrufen sollte.
Dass es im Inneren des Staates erhebliche Veränderungen geben werde, dass innen- und gesellschaftspolitisch unruhige Zeiten bevorstanden, machte dann schon ab Anfang November die Berichterstattung über den Matrosenaufstand in Kiel deutlich. … Und damit zu den Matrosen. In Kiel hatten sich Marinesoldaten, die sich Befehlen ihrer militärischen Führung verweigert hatten, zu einer letzten Schlacht gegen die englische Marine auszulaufen, mit der politisierten Kieler Arbeiterschaft verbündet. Es wurden Arbeiter- und Soldatenräte gebildet. Diese Bewegung mit dem politischen Ziel einer Räterepublik breitete sich von Kiel kommend im ganzen Deutschen Reich aus.
Matrosen setzten sich in Eisenbahnzüge, Abordnungen stiegen an den einzelnen Bahnhöfen aus und trugen die Idee der politischen Neuordnung in die an der Bahnstrecke liegenden Städte. Die Novemberrevolution nahm gleichsam entlang des Fahrplans der Eisenbahn ihren Verlauf.
So waren am 8. November auch in Northeim Matrosen angekommen.
Die Soldaten der Northeimer Kaserne hatten sich mit ihnen solidarisiert, auch die Offiziere leisteten keinen Widerstand und ordneten sich unter. Die Lage in der Stadt war ruhig und blieb es auch.
Unter der Überschrift „In voller Ruhe und Ordnung“ hatte auch die NNN einen Tag später als die GGZ am 10. November kurz über die Ereignisse berichtet. Das Titelblatt der Ausgabe hatte die Schlagzeile geschmückt:
Der Waffenstillstand kommt in der Presse eher heimlich daher, keine große Schlagzeile.
Der Waffenstillstand kommt in der Presse eher heimlich daher, keine große Schlagzeile. Am deutlichsten ist noch die Meldung am 13. November in der NNN, in der die Gegenseite zitiert wird:
Natürlich werden die Waffenstillstandsbedingungen verlautbart … aber kein eigenständiger Artikel, keine Schlagzeile. Die Presse war unsicher, man wollte sich nicht positionieren.
Noch einmal zusammengefasst: 29.10. Meuterei der Hochseeflotte in Wilhelmshaven, der Funke springt auf andere Flottenstützpunkte über, 3.11. Matrosenaufstand in Kiel; Ausbreitung der Arbeiter- und Soldatenräte; 9.11. Abdankung des Kaisers, Ausrufung der Republik; Übertragung der Regierungsgeschäfte an den SPD-Vorsitzenden Friedrich Ebert; 10.11. Bildung einer neuen Regierung: Rat der Volksbeauftragten von SPD und USPD, daneben: Bildung des Vollzugsrats der ASR; 11.11. Waffenstillstand.
Soweit die Entwicklung in Deutschland im Stakkato … und was passierte in Northeim? Es blieb ruhig nach den Ereignissen des 8. und 9. November.
Seit dem 8. November abends gab es auch in Northeim einen ASR, der aber eher noch nur ein Soldatenrat war, denn von Northeimer Arbeitern darin ist keine Rede. Dieser Soldatenrat schickte sich nun an, die weitere revolutionäre Entwicklung in Northeim in Gang zu bringen. Im industriearmen Northeim gab es keine hinreichenden Strukturen der Arbeiterbewegung, die andernorts sich zum Impulsgeber und -verstärker, dann zum Träger der Bewegung machte. Nicht einmal ein sozialdemokratischer Wahlverein, wie er in der Nachbarstadt Einbeck schon lange, hatte sich in Northeim gebildet. Also blieb die Initiative bei den Soldaten der Garnison in Northeim und diese veranlassten dann auch die Einberufung einer „Volksversammlung für den 12. November:
Zu dieser Veranstaltung fand sich eine beachtliche Anzahl der Einwohner ein … 1.500 Teilnehmer schreibt die NNN … das bei ca. 9.000 Einwohnern. Es ist Revolution, aber das Northeimer Bürgertum ist im Saale … und natürlich auch Bürgermeister Peters. Richard Peters wurde 1903 zum Bürgermeister gewählt … auf Lebenszeit … und er sollte auch im Amt bleiben, bis er 1934 von den Nazis geschasst wurde.
Das Northeimer Bürgertum war im Saale und das ist auch an den Wahlergebnissen für den Arbeiterrat abzulesen. Der Arbeiterrat setzte sich aus acht Personen zusammen, es waren drei Kaufleuten, ein Handwerksmeister, einem Bahnbeamten, einem Bahnarbeiter und zwei Arbeiter. Die Arbeiterschaft war in diesem Gremium in der Minderheit, die soziale Struktur der Stadt mit der mehrheitlich bürgerlichen Gesellschaft fand sich hier wieder – eine gute Voraussetzung, dass der Arbeiterrat eine „pragmatische“ Linie fahren würde und die bestehende Ordnung nicht ganz über den Haufen werfen würde.
Schon drei Tage später, am 15. November, fand eine zweite, ebenfalls gut besuchte Veranstaltung statt. Der gewählte Arbeiterrat wurde nun um weitere elf Mitglieder erweitert. Es kamen zwei Kaufleute, zwei Gymnasiallehrer, zwei Handwerksmeister, ein Landwirt, der Redakteur der konservativen GGZ und ein Kriegsbeschädigter hinzu … sowie zwei Arbeiter.
Der Arbeiterrat war also kein Organ der Arbeiterschaft. Kein Wunder, denn noch hatte die Arbeiterschaft in Northeim keine Organisationsstrukturen. Northeim war eine Stadt, in der die Industriearbeiterschaft fast gänzlich fehlte.
Der Arbeiterrat ging mit Elan an seine Arbeit. Gab sich eine umfassende Geschäftsverteilung, die in manchen Ressorts auch die Problemlage der Zeit deutlich:
Der Arbeiterrat wollte eine exekutive Rolle spielen … und zu der organisatorischen Struktur, die ja schon etwas Institutionelles hat, kam dann eine Geschäftsstelle, Fernsprechanschluss, Öffnungszeiten für den Publikumsverkehr, eigenes Briefpapier und natürlich ein Stempel dazu.
Aber wo lag seine Aufgabe, welche Stellung hatte er, wie fügte er sich in das bestehende, bisweilen etwas labile Machtgefüge ein? Der Arbeiterrat betrachtete sich als „Vertretung der jetzigen Regierung in hiesiger Stadt“, wie es in einer Presseerklärung ausgedrückt wurde. Er sah sich als legitimiertes Organ der neuen Reichsregierung, um auf unterster politischer Ebene die Tätigkeit der bestehenden Verwaltung im Sinne der neuen politischen Kräfte zu überwachen. Aber die bestehenden Verwaltungsorgane, Stadt- und Kreisverwaltung, wurden anerkannt, der Arbeiterrat maßte sich nicht an, darüber zu stehen, letztendlich fehlten ihm dafür auch alle Ressourcen, personell, organisatorisch, ihm fehlte die Verwaltungskompetenz und finanzielle Mittel hatte er auch nicht.
Ein Schreiben des ASR an den Magistrat vom 17.11.18 dokumentiert die Situation recht gut.
Der ASR war im Ton sehr moderat und wahrte die Umgangsformen: es wurde „geflissentlich gebeten“ und auch als er am Schluss des Schreibens um finanzielle Unterstützung ersuchte, war das auch ein „ergebenstes“ Ersuchen. … und gerichtet ist das Schreiben nicht „An den Magistrat“, sondern ganz die herkömmliche Diktion einhaltend: „An den wohll. Magistrat“.
Ein möglicher revolutionärer Impetus fehlt hier ganz, der ASR erkennt die Autorität der alten, letztendlich in der Kaiserzeit etablierten Kommunalverwaltung an. Kein Wunder, die Kräfte, die sich im Northeimer Arbeiterrat zusammengefunden hatten, waren keine Revolutionäre.
So fiel die Antwort von Bgm Peters entsprechend verbindlich aus: „Wir sind jederzeit bereit, den Mitgliedern des ASR über alle städtischen Angelegenheiten Auskunft zu geben, ebenso werden wir den geschäftsführenden Ausschuss von den Sitzungen der städtischen Kollegien in Kenntnis setzen.“ Nebenbei: eine finanzielle Unterstützung durch die Stadt gab es später auch.
So tritt der ASR im Wesentlichen bei Bekanntmachungen und Anordnungen, die in der Presse publik gemacht werden in Erscheinung, idR zusammen mit der Stadt- und/oder der Kreisverwaltung.
Über die Arbeit des ASR wurde in der Presse gut berichtet, war der Redakteur der GGZ doch Mitglied des ASR und der der NNN engagierte sich in der neu gegründeten Northeimer SPD und hatte über die sozialdemokratischen ASR-Mitglieder Informationen.
Der ASR machte bei den Entscheidungen der städtischen Gremien nur Anmerkungen, wurde nur in zwei Fällen initiativ. So sprach er sich für eine Senkung des sog. Bürgergewinngeldes aus forderte aber nicht die Abschaffung … und schlug die Gründung eines gemeinnützigen Bauvereins vor. In beiden Fällen vertagten sich die Städtischen Kollegien … der ASR akzeptierte und meldete sich in den Fragen nicht mehr. Um es milde auszudrücken, der ASR hielt sich politisch eher zurück, nutzte die Gunst der Stunde nicht, um sich in Szene zu setzten und eine Position im Machtgefüge zu erlangen.
Hatte sich der Arbeiterrat in Northeim nun in den Monaten November und Dezember etabliert, wurde es im Januar stiller um ihn. In Berlin hatten sich die Kräfte durchgesetzt, die ein parlamentarisches System anstrebten und das Rätewesen ablehnten. Bei diesen Auseinandersetzungen, die SPD zusammen mit den liberalen Kräften auf der einen Seite, linkere Kräfte und die späteren Kommunisten auf der anderen Seite, hatte die Reichsregierung unter sozialdemokratischer Führung zu militärischer Gewalt gegriffen und Kräfte eingesetzt, die mit der republikanischen und demokratischen Ordnung nicht viel am Hut hatten.
Eine Nationalversammlung sollte gewählt und eine Verfassung ausgearbeitet werden … allein mit dieser Festlegung waren die Weichen für eine parlamentarische Demokratie so gut wie gestellt. Die Wahl sollte am 19. Januar 1919 stattfinden. Einige grundlegende Entscheidungen hatte es aber schon gegeben.
Am 12. November 1918 war vom Rat der Volksbeauftragten das Wahlrecht auch für Frauen erklärt und am 30. November dann im Reichstagswahlgesetz festgelegt worden. Für die Ausführung der Kommunalwahlen waren die Länder zuständig und so hatte Preußen am 23. November 1918 eine entsprechende Regelung erlassen, die allerdings noch die diskriminierende Bindung an das sog. Bürgerrecht festlegte. Diese Bindung wurde dann mit Verordnung am 24. Januar 1919 abgeschafft. Damit gab es auch bei den Kommunalwahlen das allgemeine, gleiche, geheime und direkte Wahlrecht – auch für Frauen.
Die zweite Weichenstellung war, dass sich Parteien, soweit noch nicht geschehen, auch auf kommunaler Ebene bildeten. In Northeim war jetzt die SPD am aktivsten, die bisher kaum Strukturen hatte, während bei den bürgerlichen Parteien diese wenigstens informell und über persönliche Verbindungen bestanden. Das waren aber keine Parteistrukturen, wie wir sie heute kennen. Eher lockere Bündnisse und in Wahlzeiten aktiv. Die SPD aber gründete am 1. Dezember 1918 einen sozialdemokratischen Wahlverein, heute würde man sagen Ortsverein, und etablierte sich damit auch als kommunalpolitische Kraft.
Nun wurde Wahlkampf gemacht. Alle politischen Parteien schalteten Anzeigen in der Lokalpresse. Eine Wählergruppe war jetzt besonders interessant … die Frauen. Denn rund 2100 männlichen Wählern standen rund 2900 weibliche Wähler gegenüber.
Die GGZ nutzte sogar den redaktionellen Teil, um Wahlkampf für die bürgerlichen Parteien zu betreiben, während sich die NNN da neutral verhielt.
Das Wahlergebnis zur Nationalversammlung in Northeim bestätigte mehr oder weniger den Reichstrend. Die SPD wurde stärkste Kraft in Northeim: (Reich: 37,9) Stadt 38,9, Kreis 45,3. Der Rest verteilte sich auf die Bürgerl. Parteien. (Im Reich gab es aber auch die USPD mit 7,6 und die DNVP erreichte 10,3)
Die Wahlen zur Nationalversammlung in Northeim machen es schon deutlich: Die SPD war in Northeim zu einem Machtfaktor geworden. Aber sie erreichte nur knapp 40 %, die absolute Mehrheit lag in weiter Ferne. Der Rest verteilte sich auf die bürgerlichen Parteien, wobei die rechtsliberale DVP, die in der Folge der Nationalliberalen stand, mit 12,6% eher schlecht abschnitt. Doch schon ein Jahr später sollte sie auf Kosten der linksliberalen DDP fast 20% erreichen.
Am 2. März fand die Kommunalwahl statt. Auch hier wurden die Frauen stark beworben:
Wenn man aber auf die Liste der Bürgervorsteherkandidaten und -kandidatinnen schaut, wird es interessant:
Auf den Listen nur 3 Frauen. Dazu später mehr.
Die bürgerlichen Kräfte hatten sich in Northeim, um einer Zersplitterung ihrer Wählerschaft wie bei der Wahl zur Nationalversammlung zu entgehen, in der sog. Bürgerlichen Vereinigung zusammengeschlossen. So stand dem Wahlvorschlag Brandt, das war die SPD-Liste, der Wahlvorschlag Helmich gegenüber. Die GGZ beschrieb das Ziel dieser Liste einmal entlarvend, indem sie bei der Liste Helmich von der Liste der „Nichtsozialdemokraten“ sprach.
Der Wahlkampf war hart geführt worden.
Das Ergebnis war klar. Die SPD erreichte 40 %. Aber die Mehrheit hatten die bürgerlichen Parteien.
SPD 40,4%
Bürgerliche Vereinigung 59,6%
Bürgervorsteherwahl in Northeim am 2.3.1919
Wie der Wahlkampf schon gezeigt hatte, Bürgerliche und SPD gingen hart miteinander um. Und das sollte sich auch nicht ändern. Die beiden Gruppierungen standen sich unversöhnlich gegenüber. Die Bürgerliche Seite hatte die Mehrheit und die SPD hatte keine Machtchance. Dies sollte sich auch über die Dauer der Weimarer Republik nicht ändern.
Nun hatte Northeim einen demokratisch gewählten Rat … was wurde aus dem Arbeiterrat? Es wurde zunächst still um ihn und als die Reichsregierung im März die Neuwahl der ASR angeordnet hatte, stelle er erstmal seine Tätigkeit ganz ein.
Die Neuwahl des ASR brachte dann allerdings einen Richtungsschwenk. Bei der nun als Urnenwahl durchgeführten Abstimmung erreichte die SPD-Liste 55,2% und die bürgerliche Liste 44,8%. Die politischen Kräfte hatten sich entlang der Bürgervorsteherwahl aufgestellt. Aber alte Protagonisten, die mittlerweile ins Bürgervorsteherkollegium gewählt waren, hatten gar nicht kandidiert. Die Wahlbeteiligung lag bei 14% – bei der Kommunalwahl hatte sie bei 75% gelegen.
Den Bedeutungsverlust versuchte der nun als sog. „Geschäftsführender Rat“ bestellte Arbeiter Arnemann durch radikale Forderungen wett zu machen. So verlangte er die Teilnahme an den Sitzungen der Städtischen Kollegien; an sich eher eine unproblematische Forderung, aber der abschließende Satz „Sollte dieses verweigert werden, werden wir im Namen des Volkes (resp. Der Einwohnerschaft) die Executive ergreifen und Gewalt anwenden“ stieß auf wenig Verständnis. Auch eine von ihm überlieferte Formulierung, als es um den knappen Wohnraum in der Stadt ging: „Gebt mir drei Tage Macht und 30 Wohnungen sind beschafft!“ führte letztendlich dazu, dass er von der Mitgliederversammlung der SPD aus der Partei ausgeschlossen und sein Mandat im Arbeiterrat zurückgezogen wurde. So war der ganze Aktivismus des neugewählten Arbeiterrates Sache eines Einzelnen und die politisch tragenden Kräfte zogen sich, soweit sie es nicht schon getan hatten, aus dem Alternativkonzept des Rätesystems zu dem parlamentarischen System zurück. So war es kein Wunder, dass der Arbeiterrat im August aufgelöst wurde, sein bescheidenes Vermögen ging an etablierte im Sozialbereich tätige Northeimer Vereine.
Welche Bedeutung hatte dieser Arbeiterrat, dieser mit dem Paradoxon belegte „Bürgerliche Arbeiterrat“ im Prozess der politischen Neuordnung in Northeim nach dem Zusammenbruch des Kaiserreiches? Zunächst war da die Kanalisierung des revolutionären Impetus des November 1918, der ja auch die Stadt erfasst hatte. Der ASR stellte sich „zahm“ neben die bestehenden politischen Strukturen und zog sich auf die Aufgabe: „Kontrolle“ zurück, und schloss so mögliche Machtchancen in der ungeordneten Situation des November 1918 aus. Weiter gab er „neuen Leuten“ die Chance, sich in den politischen Prozess einzubringen und weiter Chancen zu bekommen im neu entstehenden politischen System mit Parteien und demokratisch gewählten Abgeordneten, Mandate zu erlangen und im politischen Prozess mitzuwirken. Sechs ASR-Mitglieder erhielten gute Listenplätze und wurden auf Anhieb in das Bürgervorsteherkollegium gewählt – 3 auf bürgerlicher Seite, 3 auf sozialdemokratischer Seite und jeweils einer von ihnen wurde sogar Senator und damit Magistratsmitglied.
Der „Bürgerliche Arbeiterrat“ war letztendlich längerfristig nicht handlungs- und lebensfähig, und nur eine kurze Zeiterscheinung in Northeim … kein Jahr hat das Gremium überlebt, aber seine kurze Existenz gibt uns einen Einblick in die Situation des Kriegsendes, der Novemberrevolution und der in diesem Zuge sich entwickelnden politischen Neuordnung in Deutschland und Northeim. Er beschreibt ein Stück Politikwirklichkeit in der Umbruchssituation 1918/19.
Nach der Auflösung des Arbeiterrates verlagerte sich alles auf das parlamentarisch demokratische System, was auch im Interesse der SPD war. Allen politischen Kräften wurden gleiche Beteiligungschancen eingeräumt, aber man gab in diesem System auch den restaurativ-reaktionären Kräften eine Chance.
Von den 24 Bürgervorstehern waren sechs schon vor 1918 Bürgervorsteher gewesen. Also einige Honoratioren hatten die politische Neuordnung überstanden. Aber der wesentliche Teil waren neue Leute … und gerade auf der SPD-Liste Menschen, die im alten Wahlsystem mit der Bindung des aktiven und passiven Wahlrechts an das sog. Bürgerrecht überhaupt keine Chance gehabt hätten. Einige dieser Personen, auch auf der bürgerl. Liste, hatten erste politische Erfahrungen im ASR gemacht.
Ganz galant kommentierte die GGZ auch die Wahl von Ottilie Gelpke auf der bürgerlichen Liste: so wäre auch Ottilie Gelpke gewählt: „die Gattin des Herrn Sanitätsrats Gelpke, was wohl überall – besonders in der Frauenwelt – mit Freuden begrüßt wird“.
Ottilie Gelpke aber war schon eine politische Potenz, hatte sich im Kaiserreich in gesellschaftlichen Vereinen engagiert und „Frauenpolitik“ gemacht. Als Frau Sanitätsrat Dr. Gelpke wurde sie angesprochen, allerdings war der Sanitätsrat und Doktor ihr Mann, sie führte seinen Titel als Ehefrau gleichsam mit. Ottilie Gelpke führte die Liste der Bürgerlichen Vereinigung 1924, bei der zweiten Kommunalwahl, sogar an.
Allerdings war Ottilie Gelpke zunächst die einzige Frau im Bürgervorsteherkollegium. Denn auch wenn die Frauen 1918 erstmals in der deutschen Geschichte das Wahlrecht, also auch das passive Wahlrecht bekommen hatten und sogar gegenüber den Männern die größere Wählergruppe bildeten und damit bei den Wahlen als Wählerinnen besonders umworben waren, hatte sich das, wie schon gesehen, bei der Listenaufstellung nicht sonderlich niedergeschlagen. Auf der SPD-Liste kandidierte nur eine Frau … auf Platz 12 und der zog nicht, die SPD hatte nur 10 Mandate bekommen. Erst im November 1919 rückte Anna Schlüter für einen ausgeschiedenen Mandatsträger nach. Nun hatte das Gremium immerhin zwei Frauen und auch schön auf die beiden politischen Seiten verteilt. Allerdings schon nach 2 ½ Jahren war das vorbei, Anna Schlüter schied aus, ihr Mann, ein Postbeamter, war nach Kreiensen versetzt worden.
Eine Begebenheit soll hier aber noch erwähnt werden. 1921 wurden auf Anregung des sozialdemokratischen Bürgervorstehers Fengler nach den beiden Frauen zwei Straßen benannt, weil sie die ersten Frauen in der Geschichte der Stadt waren, die ein solches öffentliches Amt bekleideten. Es waren die Annastraße und die Ottilienstraße. Dass man hier die Vornamen nahm, war keine Diskriminierung, denn Vor- und Nachname waren bei der Straßenbenennung noch unüblich … und bei einer Gelpkestraße hätten alle an den Herrn Sanitätsrat gedacht.
So hatte sich ihre Wahl auch im Stadtbild niedergeschlagen. Nebenbei, die Annastraße wurde im April 1933 nach der Machtübernahme durch eine nationalsozialistische Stadtregierung sofort umbenannt. Elsbeth Zander, Reichsführerin der NS Frauenschaft, war die neue Namensgeberin und auch die Ottilienstraße wurde 1940 dem militärischen Geist der Kriegsjahre entsprechend nach einem Mann: Oberstleutnant Schönbeck benannt. Die Namensänderungen wurden dann nach dem Krieg wieder rückgängig gemacht.
Nach diesem Ausflug in einen Teil der Northeimer „Frauengeschichte“ zurück ins Jahr 1919.
Das politische System in Northeim hatte sich etabliert. Entscheidungsgremien waren die Städtischen Kollegien: Magistrat und Bürgervorsteherkollegium. Bürgermeister Peters blieb im Amt, im Magistrat, dem administrativen Gremium, saßen neben dem Bürgermeister nun auch zwei sozialdemokratische Senatoren (Brand, Paetow/Fengler), neben zwei Senatoren der Bürgerlichen Vereinigung (Friese, Ranft). Im politischen Entscheidungsprozess aber wurde die SPD immer wieder übergangen. Das führte sogar im Jahr 1923 zu einem Streik der SPD-Fraktion. Ihre Mitglieder nahmen über Monate nicht an den Sitzungen des Bürgervorsteherkollegiums teil. Die Spaltung zwischen bürgerlichem und sozialdemokratischem Lager blieb die ganze Zeit der Weimarer Republik über bestehen. Hier trafen Gegner aufeinander, die miteinander nicht koalitionsfähig waren.
Soweit zum Kriegsende und der Novemberrevolution, die in Northeim politisch in ein demokratisches System führte, das aber beherrscht wurde von einer unüberbrückbaren Antipathie zwischen Bürgerlicher Vereinigung und SPD.
Zum Schluss ein kurzer Ausblick:
Mit dem Kriegsende verbesserte sich die wirtschaftliche Lage keineswegs. Es wurde eher problematischer. Schon im zweiten Kriegsjahr 1915 war die Versorgung der Bevölkerung eingeschränkt worden … und von Kriegsjahr zu Kriegsjahr wurde es immer schlimmer. Lebensmittel, Bekleidung, beinahe alles
wurde rationiert, ohne Bezugsscheine ging gar nichts mehr, Ersatzstoffe hatten Hochkonjunktur. Die Brotkarte erblickte im März 1915 das Licht der Öffentlichkeit und sollte erst Ende März 1923 abgeschafft werden.
Mit dem Kriegsende brach die Monarchie zusammen, die Demokratie wurde in Zeiten geschaffen, als Mangel und Elend das Denken der Menschen beherrschte – keine guten Startbedingungen.
Viele Menschen hatten ihr Geld in Kriegsanleihen gesteckt, die wurden nun wertlos.
Der Vertrag von Versailles mit der Festschreibung der deutschen Kriegsschuld und immensen Reparationsforderungen war für ein Volk psychologisch schwer zu verdauen, das über fünf Jahre seit Ausbruch des Krieges gehört hatte, dass man angegriffen sei, für eine gerechte Sache kämpfe und einen Siegfrieden erreichen würde.
Die Unterzeichnungszeremonie war so gehalten, dass die deutsche Delegation nach den anderen Vertragsparteien den Raum betrat. Die Unterzeichnung wurde vorgenommen. Danach verließ die deutsche Delegation vor den anderen den Raum.
Die Startbedingungen der Weimarer Republik waren also schlecht, wirtschaftlich ging es nur langsam wieder aufwärts, die Dolchstoßlegende – das deutsche Heer sei im Weltkrieg „im Felde unbesiegt“ geblieben und habe erst durch oppositionelle „vaterlandslose“ Zivilisten aus der Heimat einen „Dolchstoß von hinten“ erhalten – desavouierte die neuen politischen Kräfte.
Die Parteienzersplitterung ließ Regierungsbildungen schwierig werden und die Geldentwertung nach dem Krieg, die sich zu einer Hyperinflation im Jahr 1923 steigerte, vernichtete viele Existenzen.
1 Million – 14. August, 10 Milliarden – 25. Oktober, 1 Billion – 31. Oktober
Zum Schluss noch ein Blick auf die weitere politische Entwicklung in der Stadt. Wie gingen die folgenden Wahlen zum Bürgervorsteherkollegium aus. Die drei folgenden Wahlen 1924, 1929 und 1933 sagen in ihren Ergebnissen viel darüber aus.
Bei der Kommunalwahl 1933 trat die NSDAP in Northeim nicht unter eigenem Namen an. Die Angestelltenliste hatte im Vorfeld auf einen Wahlvorschlag ganz verzichtet. Die Bürgerliche Vereinigung (zweiter Vorsitzender war übrigens Ernst Girmann, der auch Ortsgruppenleiter der NSDAP war) erklärte, dass sie eine gemeinsame Liste mit der NSDAP aufstellen würde … unter dem Namen: „Nationale Einheitsliste“. Um die Kandidatenliste, die auch nicht auf einer Versammlung der beteiligten Gruppen verabschiedet wurde, sondern im Hinterzimmer durch eine „Siebener-Ausschuss“ aufgestellt wurde, machte man ein großes Geheimnis. Erst kurz vor der Wahl wurde sie veröffentlicht, eine Reihe von Nationalsozialisten waren darauf und einige „Nicht-Nationalsozialsten“.
Als das Bürgervorsteherkollegium dann aber zusammentrat: 15 Mandatsträger der Nationalen Einheitsliste und 4 Sozialdemokraten, der 5. Gewählte saß in Schutzhaft im Gefängnis, kamen alle Mandatsträger der Nationalen Einheitsliste im Braunhemd.
Ein letztes Bild aus der Stadt: So sah das aus nach der gewonnen Wahl im März 1933 ….
… und damit ist zum Schluss noch mit einem Überblick über die Bürgervorsteherwahlen der Bogen über die Zeit der ersten deutschen Demokratie bis zu deren Ende gespannt worden.