Betteln verboten? – In Göttingen gab man stattdessen das Schnüffeln auf!

 In FEATURED, Holdger Platta, Politik (Inland)

Unser gestriger Artikel „Kafka in Dortmund – Aus den bürokratischen Eingeweiden des Hartz IV-Systems“ hat unseren Redakteur Holdger Platta ungut an einen Vorfall in seiner vormaligen Heimatstadt Göttingen erinnert. Allerdings kann er auch über den erfolgreichen Protest berichten, der sich in der südniedersächsischen Universitätsstadt gegen diese ungute Praxis erhob, gegen die ersten Versuche nämlich – im Frühjahr 2009 war das der Fall –, bettelnden Hartz-Vier-Beziehern in die Blechteller zu schauen, um ihnen das Geld vom Regelsatz abziehen zu können. Nun, dieser Versuch scheiterte, wie gesagt, wobei Holdger Platta auf seinen Offenen Brief an den Oberbürgermeister der Stadt selbstverständlich niemals eine Antwort erhielt. Aber der Erfolg dieser Protestaktionen war ihm eh wichtiger gewesen als das Autogramm des sozialdemokratischen Stadtoberhaupts. Hier Holdger Plattas Offener Brief vom März 2009:

Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister Meyer,

sicher erinnern Sie sich noch: als mein Kollege Peter Latuska und ich Sie vor zwei Jahren zum Thema Hartz-IV interviewten, mochten Sie gar nicht glauben, dass in diesem Gesetzeswerk keine Anpassungsklausel zur Inflationsentwicklung verankert worden ist, derart überzeugt waren auch Sie von der Erforderlichkeit einer solchen „Gleitklausel“. Kann es sein, dass nunmehr ein weiteres Mal etwas völlig hinter Ihrem Rücken geschieht? Mit dem gravierenden Unterschied freilich, dass sich dieses Mal der Vorgang unmittelbar in Ihrem Zuständigkeitsbereich ereignet hat und ausdrücklich in Ihrem Namen?

Mir liegt die Kopie eines Schreibens des Ihnen unterstehenden Fachbereiches 50 „Soziales“ vom 5. Januar vor, mit dem Briefkopf „Stadt Göttingen. Der Oberbürgermeister“. Darin wird einem ALG-II-Bezieher mitgeteilt, dass Ihr Mitarbeiter dem Betreffenden ab 1.2.09 dessen Regelsatz um 120 Euro kürzen würde, und zwar deshalb, weil er den Betreffenden „mehrfach“ beim Betteln ertappt habe, mit einem Gesamtertrag von 7,40 € an zwei Tagen.

Ist dieser ungeheuerliche Brief, der vor Humanität und Rechtlichkeit nur so strotzt, mit Ihrem Wissen und auf Ihren Wunsch hin geschrieben worden?

Oder ist dieses zwar in Ihrem Namen, gleichwohl aber hinter Ihrem Rücken geschehen, und Sie gedenken, diesem unsäglich inhumanen Unfug, der da unter Missbrauch Ihres Namens passiert ist, ein sofortiges Ende zu setzen?

Bereits bei oberflächlicher Überprüfung werden Sie feststellen, dass mein Urteil über diesen Behördenmaßnahme nicht übertrieben ist. Um es auf die kürzeste Formel zu bringen: dieser Brief aus Ihrem Haus ist nichts anderes als ein Akt bürokratischer Willkür: er setzt Rechtsstaat und Sozialstaat zugleich außer Kraft. Von der Inhumanität dieses Verwaltungsaktes ganz zu schweigen, dass dem betroffenen Hilfsbedürftigen gleich auch noch die gänzliche Streichung seines Arbeitslosengeldes angedroht worden ist für den Fall, dass er künftig nicht regelmäßig seine Bettel-Erträge der Behörde mitteilt. Ich begründe meine Bewertungen wie folgt:

Dieses Schreiben ist Willkür, weil der festgesetzte Abzugsbetrag von 120 Euro völlig willkürlich ist. Selbst wenn man unterstellte, der betreffende Arbeitslose habe im Januar 2009 an jedem Werktag vor dem erwähnten Supermarkt gestanden und gebettelt, kann er den Feststellungen Ihres Behördenvertreters zufolge in diesem Monat maximal 27 mal 3,70 Euro zusammengebettelt haben; das entspräche höchstens einem Gesamtbetrag von 99,90 € Wie kommt Ihr Mitarbeiter dann aber auf 120 €? Und wie kann er diesen Betrag gleich auch noch für den viel kürzen Monat Februar zugrundelegen?

Entscheidender als solche Rechnereien ist jedoch das grundsätzliche juristische Problem: wie kann bloße Willkür-Vermutung eines Behördenvertreters Grundlage eines derart einschneidenden Verwaltungsaktes sein? Eines Verwaltungsaktes, der bei Krankheit des Betreffenden, bei Mindereinnahmen aus der Bettelei wegen schlechten Wetters usw.usf. unvermeidlich und sofort zu lebensgefährdender Unterversorgung des Betreffenden führen würde. Tragen Sie eine derartig menschenfeindliche obrigkeitliche Willkürpraxis als ehemaliger Richter mit? Ich kann es mir einfach nicht vorstellen.

Wie kann Ihr Behördenvertreter in Ihrem Namen behaupten, sein Willkürschreiben an den Bedürftigen stelle zugleich eine „Anhörung“ des Betroffenen dar? Mit gleichem Recht könnte man behaupten, mein Brief an Sie wäre identisch mit der „Anhörung“ Ihrer Person! Absurd! Doch abgesehen von dieser Absurdität, die sich noch jedem Menschen auch ohne Jurastudium unmittelbar erschließen dürfte: wer in den von Ihrem Mitarbeiter benannten Paragraphen hineinschaut, wird feststellen, dass auch diesem Gesetzestext zufolge die Behauptung Ihres Mitarbeiters blanker Unfug ist! Bitte schauen Sie ggf. selber nochmal in das entsprechende Gesetzbuch hinein! Mit Sicherheit werden Sie zu demselben Urteil gelangen wie ich.

Dass in Zeiten, da den Großversagern im Weltfinanzsystem Milliardenbeträge nachgeschmissen werden, ein Mitarbeiter Ihrer Behörde bettelnden Arbeitslosen hinterherschnüffelt und in deren Blechdosen schaut, um aufgrund eines Geldfunds von 7,40 € dem Hilfsbedürftigen gleich 120 € vom monatlichen Regelsatz abzuziehen: verzeihen Sie, Herr Oberbürgermeister Meyer, das hat mit einem human und demokratisch funktionierenden Sozialstaat und Rechtsstaat nichts, aber auch gar nichts mehr zu tun. Das ist schäbig, nur noch schäbig, und eine Schande für jeden Menschen, für den noch die Menschlichkeit einen Wert darstellt und nicht nur das Geld im Portemonnaie einer Behörde! Nebenbei: einer Behörde, die sich – ausgerechnet! – selber noch als „sozial“ zu bezeichnen wagt!

Da ich nicht glauben kann, dass Sie ein derart inhumane Praxis auch nur im Ansatz gutheißen können, bitte ich Sie daher um dreierlei:

– Setzen Sie diesem rechtsstaatswidrigen und menschenunwürdigen Spuk ein sofortiges Ende!

– Befördern Sie den fraglichen Mitarbeiter irgendwohin, wo er seinen Mitmenschen nicht mehr derartig Ungutes antun kann!

– Nehmen Sie öffentlich wie auch mir gegenüber mit klarster Verurteilung dieses unglaublichen Willküraktes Ihres Behördenvertreters Stellung!

Und um abschließend nochmal auf den Beginn dieses Briefes zurückzukommen, auf die fehlende „Gleitklausel“ bei Hartz-IV:

Der Finanzwissenschaftler Prof. Dr. Brachinger von der Universität Fribourg/CH hat in kontinuierlicher Zusammenarbeit mit dem Statistischen Bundesamt in Wiesbaden ermittelt, dass der Wert des Regelsatzes, wie er am 1. Januar 2005 eingeführt worden ist, unterdessen um rund 25 Prozent gesunken ist: rund 90 Euro ist der Regelsatz von damals heute also weniger wert. Das bedeutet jedoch in unserem Zusammenhang:

Dieser bettelnde ALG-II-Bezieher hat nichts anderes getan als auf seine – in jederlei Hinsicht hilflose – Weise jenen Wertverlust auszugleichen versucht, dem das Gesetzeswerk Hartz-IV von vornherein durch eine „Gleitklausel“ hätte vorbeugen müssen, und zwar auch Ihrer Ansicht nach. Kurz: fehlerhaftes Staatshandeln ist es, das diesen Arbeitslosen (wie alle anderen auch!) mehr und mehr – und bei ihm wörtlich zu nehmen – an den Bettelstab gebracht hat. Und dafür soll er jetzt auch noch bestraft werden, dieser Hilfsbedürftige, für diesen Bettelstab?

Auch in Ihren Augen, sehr geehrter Herr Oberbürgermeister Meyer, kann das doch nur eines noch sein (wenn ich Ihren Worten von damals noch glauben darf): verkehrte Welt! Eine auf immer inhumanere Weise verkommende und verkehrte Welt!

Sorgen Sie wenigstens in Ihrem Einflussbereich dafür, daß der Sozialstaat nicht noch weiter demontiert wird!

Mit freundlichen Grüßen
Holdger Platta

 

 

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