«Brücken von einer menschlichen Insel zur anderen»
„Ausbruch aus dem Schneckenhaus“ hieß eine der vielen Zeitungsüberschriften über Anne Ziegler-Weispfennigs Theaterprojekt. Eine andere titelte: „Behinderten Theater ‚Phönix aus der Asche’ überwindet die Mitleidsgrenze.“ Damit sind einige Besonderheiten dieses wirklich einzigartigen Theaterexperiments schon sehr schön umrissen. Sich denjenigen zu widmen, die sonst nicht gerade im Zentrum öffentlicher Anerkennung und Aufmerksamkeit stehen, war für Anne Ziegler-Weispfennig schon aufgrund ihrer Familientradition immer Ehrensache. Nie mehr sollten so genannte Randgruppen derart „ausgelöscht“ werden, wie es im Dritten Reich geschah – zunächst durch Nichtbeachtung durch die „Normalen“, dann auch physisch. Jugendliche, die wegen ihres Familienhintergrunds oder Wohnumfelds weniger Zugang zu Bildung hatten, genossen deshalb Annes besonderen Schutz – wie auch die Figuren der von ihr ausgewählten Theaterstücke häufig Versehrte waren: Ausländer, Traumatisierte, Krüppel oder Frauen, die in einem feindlichen Umfeld ein uneheliches Kind gebaren. Was Anne Ziegler-Weispfennig als nächstes unternahm, setzte dem allen aber noch eins drauf.
Neu war die Arbeit mit behinderten Menschen für Anne Ziegler-Weispfennig nicht gewesen, als sie 1997 begann, mit Autistinnen und Autisten zu arbeiten. Schon zuvor hatte sie mit Spastikern, blinden Menschen, Rollstuhlfahrern und psychisch kranken jungen Menschen zu tun gehabt, denen sie mit ihrer Arbeit neue Lebensinhalte, neues Selbstbewusstsein und eine nicht gekannte Freude vermitteln konnte. „Du darfst keine Angst haben vor einem Rollstuhl oder vor einem Blinden – das hab ich nie gehabt, aber viele haben das“, sagt Anne heute. Sicherlich wäre nicht jeder für diese schwere Aufgabe geeignet gewesen. „Wenn ich schon mit Menschen, die oft am Rande stehen, arbeiten will, muss ich gut sein, um ihnen zu helfen“, ist Annes trockene Erklärung.
Eine erste Begegnung mit behinderten Schauspielern war prägend für die Theaterpädagogin. Im „Münchener Merkur“ ist eine Episode dokumentiert, die typisch ist für Annes Unkompliziertheit und ihren völligen Mangel an Berührungsängsten: „Eines Tages rief dieser junge Mann an. Kräftige Stimme. ‚Ich will auf die Bühne‘, sagte er. Es gebe da aber ein Problem: er sei behindert. Anne Ziegler-Weispfennig sah kein Problem. Sie lud Karl Niederreuther – so hieß der Anrufer – in das Freizeitheim ‚Am Biederstein‘ ein. Zu den ersten Proben Anfang der Siebziger Jahre brachte er zwei ebenfalls spastisch behinderte Freunde mit. Für Anne Ziegler-Weispfennig der Auftakt zu einer dreißigjährigen Theaterarbeit mit gehandicapten Menschen.“
Karl Niederreuther ist an beiden Beinen spastisch gelähmt, die Feinmotorik der Arme ist gestört. Für den mehrfach behinderten Mann bedeutete der Kontakt mit Anne einen lebensverändernden Durchbruch. Bevor er zum Telefonhörer griff, so berichtete er später, saß er hauptsächlich zuhause und starrte die Wände an. Bis ihn plötzlich die Erkenntnis überkam: „Du musst zu den Nichtbehinderten gehen und nicht darauf warten, dass sie zu dir kommen.“ Als Karl erstmals bei Annes Theatergruppe vorsprach, probten die gerade „Maria Magdalena“ von Franz Xaver Kroetz. Karl Niederreuther erinnert sich: „Da hat keiner gefragt: Was hast du mit deinen Füßen gemacht? Ich habe schnell Freunde gefunden und bei den Aufführungen sogar Szenenapplaus geerntet. Von Anne Ziegler-Weispfennig lernte Karl nicht nur Mimik, Gestik und Sprechtechnik, er wurde auch zusehends selbstsicherer. „Es ist für mich nun kein Problem mehr, Fremde zu bitten, mir beim Treppensteigen zu helfen.“ Später spielte Niederreuther sogar am Münchner Residenztheater, zusammen mit den Schauspiel-Urgesteinen Josef Bierbichler und Monika Baumgartner. „Die Schauspielerei ist mein Lebensinhalt“ gab er begeistert zu Protokoll.
Eigentlich wollte sich Anne Ziegler-Weispfennig 1997 ganz aus der Theaterpädagogik zurückziehen und mit Lesungen aus dem Werk des von ihr verehrten Erich Kästner auf die Bühne zurückkehren. Doch es kam anders. „Im Laufe der Jahre hat es für mich viele Fortbildungen im pädagogischen Bereich gegeben“, berichtete Anne, nachdem die ersten Theateraufführungen erfolgreich verlaufen waren. „Ich arbeitete auch 15 Jahre mit körperbehinderten jungen Menschen. Nach Beginn des Vorruhestandes begann ich wieder frei zu arbeiten. Im Januar 1998 rief mich die engagierte Mutter eines jungen Mannes mit autistischer Behinderung an. Sie fragte, ob es mich interessiere, mit einer Gruppe von jungen Leuten mit dieser Behinderung theaterpädagogisch zu arbeiten. Eine ungeheure Herausforderung. Ich traf dann die Interessierten und ihre Eltern. Hier gab es also wieder eine Aufgabe zu erfüllen, und was für eine. Im Februar nahm uns das Theater ‚Jörg Maurers Unterton’ auf und gab uns die Möglichkeit, jeden Samstagnachmittag dort zu proben. Meine lieben, interessierten und neugierigen jungen Spieler begannen gemeinsam mit mir Sprach- und Atemübungen, Lese- und Stückproben und bis jetzt zwei gelungene Aufführungen zu bewältigen.“
Als äußerst hilfreich im Umgang mit den behinderten Menschen erwies sich Annes unkomplizierte Herangehensweise, die bei aller Einfühlsamkeit frei von aufdringlichem und herabsetzendem Mitleid war. „Vielleicht war es gut, dass wir vorher kaum was über Autismus wussten“, erzählt sie. „Ich habe sie von Anfang an behandelt wie andere Amateurschauspieler auch.“ In der Folge spielten die Autisten dann auch ähnlich gut wie ihre nicht behinderten Kollegen. Einem Mitspieler, der eine suboptimale darstellerische Leistung gezeigt hatte, drohte die Regisseurin sogar scherzhaft: „Wenn’s jetzt nicht funktioniert, zieh‘ ich dir den Autismus aus den Ohren“. Diese hemdsärmelige und unprätentiöse, dabei liebevolle Art kam an und trug mit zum Erfolg der Gruppe bei, die vom Münchener Tollwood-Festival bis zum schottischen Glasgow in der Folge zahlreiche Bühnen zur Begeisterung des Publikums „rockte“.
Und der Name der Gruppe? In einer Broschüre der „Theatertage Grenzgänger“ 2009, an der Anne Ziegler-Weispfennigs Gruppe teilnahm, wird er treffend erklärt: „Die Gruppe hat sich den Namen Phönix aus der Asche gegeben, um ihr Erleben und ihre Entwicklung bei einer Aktivität, die Menschen mit autistischem Handicap erst einmal nicht zugetraut wurde, zu beschreiben.“ Der legendäre Vogel der griechischen Sage steht auch für Auferstehung, für das überraschende Wiederaufblühen derer, die für tot erklärt wurden: ein stolzes, fast trotziges Symbol.
Wie muss man sich die schwierigen Anfänge vorstellen? Sie habe ihre Schauspieler manchmal an der Hand genommen und persönlich an ihren Platz auf der Bühne geführt, berichtet die Regisseurin. „Und dann saß ich mit dem Textbuch daneben und habe geholfen, wenn einer nicht weiterwusste.“ Oder die Neuschauspieler lasen selbst noch etwas steif aus ihren Textbüchern ab. „Ich darf sie nicht zwingen“, meint Anne Ziegler-Weispfennig dazu. „Da geht es auch um Angst. Aber irgendwann schmeißen sie den Text auch noch weg.“ So kam es tatsächlich, als eines Tages Franz Xaver Kroetz einer Probe zu einem seiner Stücke beiwohnte. „Weg mit den Büchern“ rief er, und seitdem spielten die Darsteller immer frei – kleine Fehler inbegriffen.
Neun Mitglieder der Gruppe „Phönix aus der Asche“ waren bzw. sind autistisch, eines sogar blind. Die ungewöhnliche Theatertruppe bespielte auch renommierte Münchener Kleinkunstbühnen wie das „Fraunhofer“ und sorgte für ausverkaufte Häuser. Die Autoren, deren Stücke die Phönixe erarbeiteten, stellten keineswegs geringe Anforderungen an Textverständnis und Schauspielkunst: Werke von Loriot, Gerhard Polt, Franz Xaver Kroetz, Erich Kästner, Karl Valentin oder Friedrich Ani kamen zur Aufführung. „Es ist ein großes Glück, dass uns viele Münchner Autoren oder ihre Angehörigen die Rechte an ihren Stücken umsonst gegeben haben“, erinnert sich Anne Ziegler-Weispfennig.
Die „Süddeutsche Zeitung“ vom 03.12.2004 beschreibt lebhaft eine Szene aus einer Phönix-Aufführung: „’Öha’, sagt D. hebt langsam den Kopf und löst seine Augen erst jetzt vom Biertisch vor ihm, um über die Köpfe hinweg zum Ende des Raumes zu blicken. ‚Öha ist mehr körperliches Erstaunen.’ Er sitzt da mit seinem Wolljanker, eingeklemmt auf der Bierbank zwischen einer Frau in Lederhosen und einem jungen Mann mit anhaltend erstaunter Miene. Und schaut. Das bayerische Öha, sagt Gerhard Polt, ist ein Erkennen auf niedrigen Touren. Ein Wahrnehmen ohne Blitz, ein dem Dämmern ähnlicher Vorgang. Öha ist das, was Dorian gerade auf der Bühne des Jugendtreffs ‚s’Dülfer‘ im Hasenbergl gibt. So überzeugend, dass Regisseurin Anne Ziegler-Weispfennig unten auf dem Holzstuhl im Zuschauerraum das Skriptbuch für einen Augenblick sinken lässt und ‚Spitze’ nach oben ruft.“
Anne würdigt die Leistungen ihrer Schützlinge, aber sie fordert auch. Die Besonderheiten der Schauspieler werden mit einkalkuliert, aber die Regisseurin schont auch keinen, der nicht bereit ist, an seine Grenzen zu gehen. Wieder eine Schilderung aus der „Süddeutschen Zeitung“: „’Ach Jenny, das kannst du bei der Aufführung nicht bringen.’ Jenny steht mit schwarzer Strumpfhose und dunklem Sakko am Bühnenrand und rezitiert Valentin: ‚Hundekuchen frisst die Katze.’ Sie hat einen Hänger und fängt aufgeregt mit den Händen zu wedeln an, schüttelt den Kopf, kichert. ‚Schätzchen, lern deinen Text!’ Das Ensemble wird unruhig. Die Leiterin des s’Dülfer, Ulrike Hämmerle, gehört ebenso dazu wie die Schauspielerin Renate Groß und neuerdings auch Psycholinguist Sven Pipa, der für die Doktorarbeit forscht und konstatiert: ‚Was hier passiert, passt nicht mit dem zusammen, was in der Literatur steht.’“
Was ist das Schwierigste an der Arbeit mit Autisten? „Die Koordination, bestimmte Handlungen nacheinander zu vollziehen, ist das Schwierigste“, erinnert sich Annes Mitarbeiterin Renate Groß. „Es verlangt ungeheure Konzentration.“ Auch gelten soziale Interaktionen nicht gerade als große Stärke bei Behinderungen dieser Art. Ein „In-sich-Verschlossensein“ gilt geradezu als Erkennungsmerkmal des Autismus. In ihren leichteren Erscheinungsformen ist Autismus kein Hindernis für ein relativ „normales“ Leben bzw. für eine gedeihliche schulische und berufliche Entwicklung. Autismus betrifft allerdings „die Fähigkeit, die eigene Person mit der Umwelt zu verbinden und eine intakte Gefühlswelt zu entwickeln“ (Abendzeitung).
Meist waren die Menschen, mit denen Anne Ziegler-Weispfennig zu tun hatte, von einer milderen Variante von Autismus, dem „Asperger Syndrom“ betroffen. Diese Personen sind oft überdurchschnittlich intelligent, haben jedoch Schwierigkeiten, andere zu berühren oder ihnen näher zu kommen. Durch die Theaterarbeit lernten sie sogar, auf der Bühne Liebespaare darzustellen. Was das bedeutet, kann nur ermessen, wer Autisten vorher erlebt hat. Anlässlich einer Aufführung von Franz Xaver Kroetz Stück „Wildwechsel“ hob der Münchner Merkur 2002 diesen Aspekt hervor: „Ein Mann und eine Frau stehen auf der Bühne, sie umarmen und küssen sich. Nichts Ungewöhnliches, hat man oft gesehen. Spannend wird es, wenn die Schauspieler auf der Bühne junge Autisten sind.“ Hierfür ein Stück auszuwählen, das sich dem Thema Liebe und Sexualität von behinderten Menschen widmet, setzt der Kühnheit, die sowieso in einem solchen Projekt steckt, noch die Krone auf.
Die Süddeutsche Zeitung (März 1999) brachte den scheinbaren Widerspruch auf den Punkt: „Schauspieler neigen dazu, in der Öffentlichkeit ihr Innerstes zu veräußern. Das mag für viele gelten. Es gibt aber auch Schauspieler, die sind so in diesem Inneren zuhause, dass sie weder etwas davon heraus- noch jemanden hineinlassen können. Da verhindert das eigene Ich so völlig ungehemmt jede Kontaktaufnahme nach außen, dass sie verstummen oder in stereotype Verhaltensweisen verfallen, Schutz im Immergleichen suchen. Diese Menschen sind Menschen mit autistischer Behinderung.“ Laut SZ lernen die Schauspieler durch die Arbeit mit Anne Ziegler-Weispfennig, „wie sie dem Panzer um sich selbst Risse und Brüche zufügen können.“ Dies bedeutet auch, „die kleinen Brücken von einer menschlichen Insel zur anderen zu schaffen.“
Oliver Sachs ist Psychologie und Autor der Buchvorlage zum berührenden Hollywood-Drama „Zeit des Erwachens“ mit Robin Williams und Robert de Niro. Sachs setzte sich in einem andere Buch, „Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte“, ausführlich mit Autismus auseinander. Er vergleicht autistische Menschen mit „Inseln“ mit nur schwacher Verbindung zum „Festland“. Berührende Porträts von Autisten lieferten auch Dustin Hoffman in seiner oscargekrönten Rolle „Rainman“ und der Bollywood-Schauspieler Shah Rukh Khan in dem Film „My name is Khan“, der die sozialverträglichere Variante des Autismus (Asperger-Syndrom) zum Thema hat. Diese Filme haben geholfen, den Autismus einem größeren Publikum vertraut zu machen, reduzieren das Thema aber notgedrungen auf bestimmte Spielarten und „Typen“. In der Realität gibt es nicht „den Autismus“, vielmehr „Autismen“ mit unterschiedlichen Ausprägungen.
Die Dimension dessen, was Anne Ziegler-Weispfennig, Renate Groß und die „Phönixe“ mit ihrer Theaterarbeit geleistet haben, wird in einer Info-Broschüre deutlich, die Ute Heuler anlässlich einer Aufführungen mit Szenen von Polt, Loriot und Karl Valentin verfasst hat. Darin wird klar, dass von den Akteuren etwas vollbracht wurde, das es nach Ansicht der herkömmlichen Psychologie eigentlich gar nicht geben dürfte: „Ein Kinder- und Jugendpsychiater sagte einmal in einem Vortrag sinngemäß: ‚eindeutige Kontraindikation für die Diagnose Autismus ist meiner Ansicht nach eine schauspielerische Begabung.’ Also sind Autisten, die Theater spielen, eigentlich unmöglich. Das Münchner Projekt ‚Phönix aus der Asche‘, von der Schauspielerin und Theaterpädagogin Anne Ziegler-Weispfennig auf Anregung der Mutter eines Autisten vor nunmehr 7 Jahren mit ins Leben gerufen, zeigt das Gegenteil. In der Zeitung ‚Applaus’, Ausg. 7/8 2004 wurde es in dem Artikel ‚Lust auf Theaterspielen’ als ‚wohl erstaunlichste Initiative’ bezeichnet. Weiter: ‚Mit Hilfe des Rollenspiels und dank ihrer forsch-optimistischen Herangehensweise haben zehn autistische junge Erwachsene erreicht, was sie am meisten Überwindung kostet: Kontakt zu anderen aufzubauen und die Fähigkeit zu kommunizieren.’“
Es wäre aber ungerecht, die Betroffenen nur danach zu beurteilen, was sie vielleicht nicht oder weniger gut können als Nicht-Behinderte. „Wenn ich autistischen Schauspielern etwas erklärt habe, war es da“, schwärmte Anne Ziegler-Weisepfennig 1999 im Münchner Merkur von ihren Schützlingen: „Einer meiner Schüler schreibt Lyrik, der ist unglaublich. Er schreibt seit zwei Jahren über eine Freundin, die er sich ausgedacht hat, über Bianca. Und ein anderer ist ein Rechengenie: Wenn Sie ihm sagen, meine Großmutter ist am 24.08.1869 geboren, dann weiß der genau den Wochentag, und zwar sofort.“ Wichtig die Feststellung. „Die zehn in der Gruppe sind sehr verschieden.“ Anne Ziegler-Weispfennig prägte anlässlich der Aufführung eines Stücks von Werner Schlierf den Satz: „Es werden nicht Behinderungen ausgestellt, sondern Begabungen vorgestellt.“
Die Extrovertiertheit, der lebendige Selbstausdruck, das Aufeinander-Zugehen, das Schauspielern abverlangt wird, erscheint geradezu als das Gegenteil „typisch“ autistischer Verhaltensweisen. Das Zusammenspiel stellt hohe Anforderungen an die Fähigkeit, andere zu beobachten und auf sie einzugehen. „Man muss abwarten, bis der andere ausgesprochen hat und das Stichwort für einen selbst kommt“, so Renate Groß. Die Regieassistentin übernahm anfangs selbst Rollen, um den Schauspielern bei eventuellen „Hängern“ weiterzuhelfen. Gab es viele Fehler und unbeholfene Verhaltensweisen? „Klar“, erzählt Anne Ziegler-Weispfennig. „Es ist in der Vergangenheit auch vorgekommen, dass jemand mal zu früh auf die Bühne gekommen ist. Ich sage dann einfach: Du bist noch nicht dran.“
Wichtig ist bei der Theaterarbeit mit Behinderten (wie bei jede Theaterarbeit) immer die passende Zuweisung der Rollen. Dabei geht es nicht immer nur um die „naheliegende“ Lösung, oft erweist sich gerade eine scheinbar unpassende und skurrile Wahl als die künstlerisch ergiebigste. Gern erzählt Anne Ziegler-Weispfennig die Geschichte des Autisten Dorian, der als Kind sehr unter einem unmöglichen Pflegevater gelitten hatte. Anne besetzte ihn bewusst für die unsympathische Rolle eines Vaters im Stück „Schweig Bub“ von Fitzgerald Kusz. Sie hatte ein wenig Sorge, der Schauspieler könne diese Rollenzuteilung in den falschen Hals bekommen. Doch auf einmal, während der Proben, trat Dorian an die Rampe und sagte: „Ich danke dir, dass du mich dieses Arschloch von Pflegevater spielen lässt.“ Offenbar hatte Anne dem jungen Mann damit geholfen, seine Vergangenheit aufzuarbeiten.
Wie ihre Arbeit mit Jugendlichen aus sozialen „Brennpunkten“ ist auch das Theaterspielen mit Behinderten für Anne Ziegler-Weispfennig ein Weg zur Überwindung von „Sozialarroganz“. Sie erklärt dazu: „Man muss Berührungsängste aufbrechen, Vorurteile abbauen und zeigen, wozu autistische Behinderte fähig sind!“ Letztlich ist das, was der oder die Einzelne mitnimmt, wenn die Textzeilen längst wieder vergessen sind, vor allem eines: Selbstbewusstsein. Das resultiert zunächst daraus, dass Autisten bei der Bühnenarbeit mit ihren Gedanken, ihren Gefühlen und spezifischen Eigenschaften ernst genommen werden. Darüber hinaus erfahren sie so, dass sie etwas schaffen und zu Ende bringen können, das ihnen gewiss nicht jeder zugetraut hätte – auch nicht sie selbst. Autisten sind sich meist ihrer Situation, ihres „Andersseins“ bewusst, nicht immer können sie aber optimal damit umgehen. Theater zu spielen bedeutet in diesem Zusammenhang auch: „Ich gehe auf die Bühne und steh’ auch da zu meiner Behinderung.“ Die neun Phönixe haben durch die Probenarbeit gelernt, einander Spiegel zu sein, Feedback zu geben und sogar Kritik zu üben bzw. die Kritik anderer anzuhören und umzusetzen. „Mein Beitrag ist nicht zu lang. Aber ich kann schneller sprechen“, freute sich einer der Teilnehmer.
2001 konnte Anne Ziegler-Weispfennig stolz vermelden: „Wir sind mit unserer Arbeit so erfolgreich, dass man unseren Autisten ihre Behinderung auf der Bühne nicht mehr anmerkt.“ Ein bemerkenswerter Erfolg! Der Kreisjugendring übernahm die Trägerschaft für die Phönix-Gruppe. Die Probenräume der Phönixe konnten in den Jugendtreff Dülferstraße verlegt werden. Ulrike Hämmerle, die Leiterin des Treffs, kümmerte sich um die Belange der jungen Künstler. Der damalige KJR-Leiter Christian Müller begeisterte sich: „Die autistischen Jugendlichen haben die Bühne erobert.“ Müller betrachtet die Theatergruppe als Schulbeispiel für gelungene Integration. „Es geht hier nicht um Toleranz, sondern um Solidarität.“ Dazu kommt die Bereicherung, die nicht-behinderte Zuschauer durch den Kontakt erfahren: „Der gesunde Mensch bekommt ein Stück weit Zugang zur Lebenssituation autistisch Behinderter.“ Die Schirmherrin der Theatergruppe, Oberbürgermeister-Gattin Edith von Welser-Ude bestätigte, wie wenig man die Akteure auf der Bühne noch als „Behinderte“ wahrnahm: „Wenn man sie auf den Brettern, die die Welt bedeuten, sieht, dann merkt man nicht, unter welcher Form der Behinderung sie leiden. Man meint, sie hätten ihr Handicap überwunden.“
Begeistert und einfühlsam äußerte sich auch der Bezirksrat Dr. Rainer Großmann in einem Brief gegenüber Anne Ziegler-Weispfennig (2003): „Ich bin sehr beeindruckt, welche Fortschritte diese Jugendlichen in den letzten drei Jahren – ich verfolge sie seit ihrer ersten Premiere im Kinder- und Jungendtreff Hasenbergl – unter Ihrer Leitung gemacht haben. Dafür möchte ich Ihnen sehr herzlich danken und Ihnen meine große Anerkennung und Hochachtung aussprechen.“ Die Münchner Nord-Rundschau staunte 2002 über die Entwicklung, die die Truppe innerhalb von wenigen Jahren durchlaufen hatte: „Nichts scheint mehr unmöglich, kein Publikum zu groß. Schließlich hatten die Phoenixe beim letzten Bundeskongress für Autismus vor über eintausend Zuschauern gespielt und stehende Ovationen geerntet.“
Der menschliche Gewinn, den die Schauspieler aus ihrer Arbeit mit Anne Ziegler-Weispfennig ziehen, endet nicht, wenn der Vorhang gefallen ist. „Sie übertragen das Gelernte auch in andere Lebensbereiche“, erinnert sich Anne. „Das funktioniert richtig gut.“ Was die Mitglieder der Theatergruppe gelernt haben, erleichtert ihnen auch den Alltag. Um nur einige Beispiele zu nennen: die Scheu überwinden, auf andere zugehen und sie ausreden lassen, sich in andere Leben und Gefühlswelten hineinversetzen, mit der Gemeinschaft solidarisch sein, z.B. pünktlich und zuverlässig. Ganz praktisch betrachtet, verbesserten sich auch die Sprachbeherrschung und die Deutlichkeit der Aussprache. „Durch die Normalität entsteht eine Art von Stolz“, erklärt Anne Ziegler Weispfennig. „Das ist der Beweis, dass systematische Förderung Fortschritt bringt.“
Gegen Ende ihrer Tätigkeit für die Phönix-Gruppe nahmen Schwierigkeiten mit den Behörden zu. Es machte Anne wütend, dass „die öffentlichen Zuschüsse für den Autismusverband immer stärker gekürzt werden.“ Finanziell musste sich die Gruppe stets selbst tragen, und nur die Miete für den Probensaal wurde von der Stadt bezuschusst. „Wie soll man so die Menschen noch fördern?“ Das soziale Engagement der Politiker lasse sehr zu wünschen übrig, beklagte die Theatermacherin schon zur Jahrtausendwende. „Mit den Millionen, mit denen oben die Starkonten gestopft werden, könnte man auf der Kleinkunstebene wahre Wunder bewirken.“ Auch Dramatiker wie Franz Xaver Kroetz, der Annes früherer Jugend-Theatergruppe im Hasenbergl kurzerhand die Uraufführung von „Der Soldat“ überließ waren rar geworden. Oder wie Werner Schlierf, der Originaltexte der Phönixe zu einem eigenen Theaterstück („Unseren Traum wahr machen“) verwob. Solidarität verquickte sich damals auf das Schönste mit überquellender Kreativität. Damals.
Anne Ziegler-Weispfennig ging erhobenen Hauptes, und nicht die Querelen um die Finanzierung waren der Grund. „Nach über 40 Berufsjahren ist es Zeit.“ Renate Groß übernahm eine Zeit lang die Leitung der Gruppe. Sie sagte jedoch anlässlich des Stabwechsels: „Ich werde Anne trotzdem immer noch um Rat fragen.“ Annes Resümee: „Ich habe ihnen viel von meiner Kraft gegeben, aber auch unendlich viel zurückbekommen. Bereut hab ich’s nie.“