Christentum mit dem Rücken zur Menschlichkeit
Zum letzten Wochenendbeitrag einer Northeimer Superintendentin. „Vertraue auf Allah, aber binde dein Kamel an“, sagen die Muslime. Manche Christen lassen das Kamel (oder abendländischer: den Esel) einfach weg und erwarten von Gott allein die Lösung aller Probleme, auch solche praktischer und politischer Natur. Das könnte man als Zeugnis privaten Glaubens durchgehen lassen, zeugte es nicht teilweise von einer achtlosen Bagatellisierung der Probleme vieler armer und leidender Menschen. Holdger Platta ist über eine geschriebene Predigt gestolpert, die seinen Widerspruch erregt. Er sagt aber auch klar: für einen Agnostiker ist weder der Glaube an die Existenz noch jener an die Nicht-Existenz Gottes zwingend. Auch als jemand, der „weiß, dass er nichts weiß“, weiß er aber zumindest eines: Unmenschlichkeit muss angeprangert werden, in welchem Gewand auch immer sie sich zeigt. (Holdger Platta).
HdS-vertraute Leserinnen und Leser wissen es natürlich schon längst: nein, ich bin kein Christ, sondern Agnostiker. Ich gehöre also zu jenen Typen, die zu den beiden Grundfragen von Religionen – Gibt es einen Gott? Hat sich Gott irgendwie/irgendwo/irgendwann/durch irgendwen uns Menschen offenbart? – lediglich antworten können: wir wissen es nicht, ich weiß es nicht. Was als Bekenntnis zur eigenen Unwissenheit aber auch das Bekenntnis miteinschließt (ich würde sagen: konsequenterweise!): auch das Gegenteil können wir nicht behaupten. Also im Ton von gesichertem Wissen verkünden: nein, einen Gott gibt es nicht, Gott hat sich nicht uns Menschen offenbart – egal, wann und wie und wo und durch wen! Ich weiß, daß ich nichts weiß – und das ganz gewiß auf einem Gebiet allerhöchster oder allertiefster Gewißheitsansprüche (heißt in Wahrheit: Ungewissheiten!).
Wie bekannt, sehen das „Atheisten“ oft anders, nicht alle, aber viele von ihnen: die glauben, sicher zu wissen, daß es Gott nicht gibt, daß Gott sich uns Menschen nicht offenbart hat. Was bedeutet: diese Spezies der „Atheisten“ gehören selber einer Glaubensgemeinschaft an. Auch diese Position – die Position der negativen Glaubensgewißheit – ist demnach folgerichtig nicht mein Ding.
Einhergeht für mich mit dieser Grundeinstellung – mit diesem Selbsteingeständnis eigener Unwissenheit in beide Richtungen hin – ein zweites:
Ich sehe mich außerstande, einfach mal so oder gar pauschal, voller Verachtung oder Häme, mit Feindseligkeit gar, auf Menschen herabzublicken oder gar auf diese loszugehen, die von sich selber sagen, daß sie gläubige Menschen seien (egal, ob als Juden, Christen, Muslime oder sonstwas). Ich halte dieses Bekenntnis so lange für deren persönliches Bekenntnis, das mich nichts angeht und in das ich nicht besserwisserisch hineinzureden habe, wenn diese Mitmenschen mich nicht zu missionieren versuchen – zum ersten – und wenn diese Menschen – zum zweiten – nicht irgendwelchen Unfug verkünden, der sich auf unser Diesseits bezieht oder gar faschistisches Gedankengut transportiert ( wie zum Teil die Esoteriker) oder Unrecht und Leid und Ausbeutung und Unterdrückung auf dieser Welt mit religiöser ‚Argumentation’ rechtfertigen will. Da kann ich ganz schön fuchtig werden, ich gebe es zu. Wenn da einer – zum Beispiel! – mit der „Zwei-Reiche-Lehre“ Martin Luthers kommt, mit der Grundauffassung nämlich, ein Christenmensch habe alles weltliche Unrecht und alle weltliche Herrschaft als ‚gottgewollt’ hinzunehmen nach dem Motto (O-Ton Luther!) „Dein Los auf Erden sei Leid, Leid, Kreuz, Kreuz!“, dann trete ich dieser inhumanen Rechtfertigungsideologie des Bestehend-Schlechten ebenso entschieden in den Weg wie der unsäglichen „Prädestinationslehre“ eines Calvin, derzufolge einem jeden Menschen schon vor dessen Geburt bestimmt sei, ob er zu den ‚Auserwählten Gottes’ zähle oder zu den ‚Verdammten’. Und wer, demzufolge, den Armen hülfe, aus ihrer Armut herauszukommen, verstieße damit gegen Gottes ‚Ratschluß’ und ‚Wille’. Auch solche „Bibel-Auslegung“, halten zu Gnaden, ist Ausdruck furchtbarster Menschenfeindlichkeit für mich – und im übrigen, ein jeder weiß das, der auch nur einmal das Neue Testament gelesen hat, absurdeste Fehl-Exegese der Bibel, bösartiges Geschwätz und gröbster Unfug.
Woraus, im Umkehrschluss, zu entnehmen ist, dass christlicher Glaube, wenn man das Neue Testament ernstnimmt, Herrschaftsideologie gerade nicht ist, Rechtfertigungslehre des Schlimmen auf dieser Welt gerade nicht ist, sondern – ganz im Gegenteil – Botschaft der Barmherzigkeit und Mitmenschlichkeit. Mit dem Zentralwort der christlichen Botschaft benannt: „Nächstenliebe“, nicht Kadavergehorsam oder auch nur totale Gleichgültigkeit in „Sachen“ Mitmenschlichkeit! Und daraus folgt (wen sollte es wundern!):
Es gibt im Bereich des Christlichen sone und solche. Da gab es die Herrschafts- und Unrechtslegitimierer wie Luther und Calvin, da gab es aber auch Thomas Müntzer und humane Christen. Da gab es, im Dritten Reich, „Christen“ à la Reichsbischof Johann Heinrich Ludwig Müller, der eine NS-Variante von „Christentum“ durchzusetzen versuchte und selber, seit 1931, NSDAP-Mitglied war, und da gab es, im Dritten Reich, die christlich-motivierten Widerständler gegen das Nazi-Regime, Martin Niemöller, Dietrich Bonhoeffer und die Geschwister Sophie und Hans Scholl. Wer die letzteren, die christlichen Widerständler, als eifernder Atheist, in einen Topf wirft mit den „Deutschen Christen“ des Reichsbischofs Müller, der zeigt nicht nur, dass er keine Ahnung hat (oder haben will), der zeigt auch, wie buchstäblich blindwütig sein Christenhass ist. Solche Einstellung kann nicht mehr wahrnehmen, was christliche Realität hüben und „christliche“ Realität drüben ist, solche Einstellung kann nicht mehr analysieren und differenzieren, sie kann nur eines noch: in gleichmacherischer Wut alle Christen, die einen wie die anderen, mit seiner Feindseligkeit überziehen. Humane und reife Aufklärung sieht anders aus! Dito die Position der Rationalität, dito „Aufklärung“ schlechthin!
Dies also die lange Vorbemerkung zu einem Protestschreiben von mir, das ich hier zur Diskussion stellen will, Vorrede zu einem Leserbrief, der in der heutigen Mittwochsausgabe der Northeimer HNA (= der „Hessisch-Niedersächsischen Allgemeinen“) veröffentlicht worden ist, als Reaktion auf die „Gedanken zum Sonntag“ einer „Superintendentin“ in der letzten Wochenendausgabe der HNA. Und da ich mich in meinem Leserbrief auf den gesamten Text dieser „Ober-Aufseherin“ beziehe (= dies die wörtliche Übersetzung des Amtstitels „Superintendentin“ ins Deutsche), Publikation demzufolge des gesamten Textes auch hier, als sogenanntes „Großzitat“. Zunächst also der Pastorinnen-Text:
„Gedanken zum Sonntag
Die Gewitterkiste für den Notfall
Ich habe lange nicht mehr an sie gedacht. Aber neulich fiel sie mir wieder ein: die „Gewitterkiste“ meiner Großmutter. Darin hütete sie ihre wichtigsten Unterlagen. Fotos, Dokumente, die Familienbibel, kaum Geld, aber ein bisschen Schmuck und das gute Tafelsilber. „Kind“, schärfte sie mir frühzeitig ein, „jeder braucht so eine Kiste. Wenn im Haus der Blitz einschlägt oder Schlimmeres passiert, kannst du mit einem Griff das Wichtigste retten.“ Ein Stück Sicherheit mitten im Unwetter. Ich fand das sehr beruhigend.
Nun ist die Gewitterkiste zurück. Sie heißt nur anders, nämlich „Zivilschutz“. Die Bundesregierung rät zu Vorratskäufen. In den Notvorrat gehören Wasser, Knäckebrot und Reis, Streichhölzer und Kerzen und manches mehr. Tatsächlich will jeder dritte Deutsche, so eine Umfrage, einen entsprechenden Vorrat anschaffen für besondere Notsituationen. Viele diskutieren darüber. Gibt es tatsächlich eine Gefährdungslage bei uns, die diese Vorsorge notwendig macht?
Ich weiß noch nicht, was ich tun werde. Gewitterkiste oder Notvorrat: Sicher schadet es nicht, für den Fall der Fälle gerüstet zu sein. Ein wenig Balsam für unsere verschreckten Seelen. Und ein Grund, hin und wieder dankbar zu sein, besonders wenn wir solche Notvorräte niemals einsetzen müssen. Aber klar ist auch: Wir haben eben nicht alles im Griff. Es gibt keine letzte Sicherheit.
„All eure Sorge werft auf Gott, denn er sorgt für euch“, heißt es in einem Brief an die ersten Christen. „Passt auf euch auf, aber lasst euch nicht verrückt machen“, so verstehe ich das. In unserem Leben ist nicht alles vorhersehbar und vor allem nicht alles selbstverständlich.
Dass wir seit Jahrzehnten in Frieden leben und unsere Kinder zu Essen haben und zur Schule gehen dürfen, ist ein großes Geschenk.
Stephanie von Lingen, Superintendentin in Northeim“
Ich gebe zu, als ich das am vergangenen Samstag las, ging mir gleich an verschiedenen Stellen dieses heillos naiven Textes der Hut hoch. Wie kann man, gerade mal siebzig Jahre nach Auschwitz, als ernsthafter Christ dieses abgestandene Petrus-Wort zitieren (by the way: aus dem 1. Petrus-Brief, Kapitel 5, Vers 7)? „Alle eure Sorge werft auf Gott, denn er sorgt für euch“? Konnten die Menschen im Archipel des nazistischen Vernichtungssystems noch all ihre Sorgen auf Gott werden, da dieser Gott für sie sorgen werde? Adorno hat mal die Unmöglichkeit von Gedichten nach Auschwitz deklarieren wollen (und diese These später wieder zurückgenommen). Hier möchte man nachgerade aufschreien und ein Verbot derart geschichtsvergessenen Geredes fernab aller Menschennähe fordern. „Passt auf euch auf, aber lasst euch nicht verrückt machen“ – hätte das diese Stephanie von Lingen, „Superintendentin“ der lutherischen Kirche, auch den Insassen der Vernichtungslager ins Gesicht gesagt? Ist dieses Bagatellisierung- und Beschwichtigungsgequatsche nicht Ausdruck zumindest völliger Gedankenlosigkeit?
Aber diesen Akzent wollte ich in meiner Antwort gar nicht setzen. Ich wollte die objektiv gegebene Inhumanität dieses Textes, diese Abkehr der Autorin von jeglichem Leid auf unserer Welt an einem ganz anderen Punkt zutagefördern, am Beispiel nämlich heutiger Inhumanitäten auf unserem Erdball. Nebenbei: genötigt auch vom Kürze-Zwang, den die HNA ihren Leserbriefschreibern auferlegt (maximal 1.300 Zeichen, inkl. Leerzeichen). Rückkehr also nicht in furchtbarste deutsche Vergangenheit, sondern Aufdeckung des völligen Gleichgültigkeitscharakters dieses Textes gegenüber Not, Leid, Hunger und Sterben in der Gegenwart, in der Welt des Septembers 2016. Hier also meine Leserbrief-Replik (auch diese vollständig), in jener Version, wie sie heute von der HNA – dankenswerterweise – abgedruckt worden ist:
„Das Elend der Nachbarn übersehen
Du lieber Himmel, möchte man rufen: diese ‚Gedanken zum Sonntag‘ von Superintendentin Stephanie von Lingen sollen die Äußerungen einer Christin sein?
Sie schreibt über die Vorratsplanungen der Bundesregierung für den Ernstfall – und vergisst dabei, dass sich rund zehn Millionen Menschen in unserem Land die Kosten dafür (von Experten geschätzt auf 300,- Euro) nicht leisten können: Hartz-IV-Betroffene nämlich. Wo bleiben da Nächstenliebe und Barmherzigkeit?
Weiter schreibt sie: ‚Dass wir seit Jahrzehnten in Frieden leben und unsere Kinder zu Essen (sic!) haben und zur Schule gehen dürfen, ist ein großes Geschenk.‘
Wer ist ‚wir‘? Wir alle? Gab es und gibt es nicht Kriege weltweit? Werden überall die Kinder satt – in Griechenland zum Beispiel, wo wieder und wieder Kinder ohnmächtig werden, weil sie ohne Frühstück zur Schule kommen müssen? Und alle 5 Sekunden stirbt auf diesem Erdball ein Kind den Hungertod.
Welche Christlichkeit ist das, die nicht über die eigene Haustür hinauszudenken vermag und selbst das Elend in unmittelbarer Nachbarschaft übersieht? Bei Jesus heißt es: ‚Was ihr getan habt einem unter diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.‘ (Matthäus-Evangelium, Kap. 25, Vers 40).
Mir scheint, die Superintendentin sollte mal wieder in die Bibel schauen! Damit sie ihre Christlichkeit wiederentdecken kann.
Holdger Platta
Sudershausen“
Vielleicht nur eine Nachbemerkung noch: Nein, „selbstverständlich“ steht eine Antwort der „Superintendentin“ noch aus. Doch drei Anrufe erreichten mich heute bis zum frühen Nachmittag: Sie kamen allesamt von Christen, von protestantischen Christen, und alle drei AnruferInnen äußerten – tatsächlich, es war so! – Dank für meinen Text. Und Zustimmung ohnehin!
Für mich, den Agnostiker, ein weiterer Beweis dafür, dass man nicht alle ChristInnen über einen atheistischen Kamm scheren soll! Das entspräche, im übrigen, auch ansonsten meinen Erfahrungen mit vielen Christen heute nicht.