Christinnen und Christen für den Sozialismus 1/3
Auch wenn es so mancher Linker nicht glauben mag: es gibt seit langem eine christliche Theologie – bei den Katholiken wie bei den Protestanten -, die konsequent und beharrlich unserer kapitalistischen Weltordnung den Kampf angesagt hat und diese ersetzt sehen will durch ein humanes, durch ein menschenrechtsorientiertes Wirtschaftssystem, das endlich ernstmacht mit den marxistischen Forderungen nach einer Welt ohne Ausbeutung, ohne Unterdrückung, ohne Entfremdung – kurz: nach einer Welt des Friedens und der Freiheit für alle Menschen auf diesem Erdball. Zum Beleg veröffentlichen wir hier den Vortrag des Theologen Martin Block, den dieser vor einigen Wochen bei der „Initiative für eine humane Welt (IHW) e.V.“ in der Göttinger Christophoruskirche gehalten hat. Block, seit über zwanzig Jahren in der Erwachsenenbildung und Altenarbeit tätig, war Schüler von Helmut Gollwitzer, dem renommierten Professor für Theologie an der Freien Universität zu Berlin und Duzfreund von Rudi Dutschke. Martin Blocks Credo: „Christlicher Glaube und gesellschaftskritische Analyse schließen einander nicht aus, sondern gehören zusammen.“ (Martin Block)
Grenzen der Berichterstattung
(Holdger Platta)
„Wo war das
noch mal?“
fragte die Lehrerin
nach dem Putsch
der Junta
in Chile.
„Im Fernsehen“,
sagten die Kinder.
I Entstehung und Geschichte der christlichen Bewegung ChristInnen für den Sozialismus (CfS)
1. Chile 1971 – 1973
Die linkskirchliche Gruppierung „ChristInnen für den Sozialismus“ (christianos por el socialismo) gründete sich in Chile im April 1971. Es war eine ursprünglich katholische Bewegung, der aber z.B. auch ein lutherischer Bischof wie der Deutsche Helmut Frenz als Gründungsmitlied angehörte. Gründungsmitglieder waren zumeist Priester, aber auch Lehrer – etliche Studenten, darüberhinaus viele Nonnen.
Aus dem Schlußdokument des 1. lateinamerikanischen Kongresses der CfS 1972 in Santiago de Chile:
„3.1 Einige Christen werden sich bewußt, daß die Wirklichkeit des Christentums nicht abgelöst von dem Kampf zwischen Ausgebeuteten und Ausbeutern gesehen werden kann. Statt dessen ist sie gekennzeichnet vom Kolonialismus und in manchen Fällen sogar von Bündnissen mit dem „abhängigen“ Kapitalismus.
3.2 Immer mehr Christen machen in der politischen Aktion, im Aufbau des Sozialismus und in der Befreiung der Unterdrückten des Kontinents die Erfahrung des geschichtlichen Vermögens ihres Glaubens. So entfaltet der christliche Glaube eine neue und kritische Kraft.“
Die „ChristInnen für den Sozialismus“ bildeten sich zu genau einem Zeitpunkt, an dem in Chile ein neuer Sozialismus, ein Sozialismus mit „menschlichem Antlitz“ von einem Großteil der Bevölkerung favorisiert wurde und verwirklicht werden sollte. Die politische Volksbewegung Chiles, in der sich mehrere linkspolitische Parteien vereinigten, war die „Unidad Popular.“ Sie bekam im Oktober 1970 ihren Kandidaten Salvadore Allende mit 36,3 % der Stimmen durch und war seitdem an der Regierung. Allende war ein Reform-Sozialist, ein Realpolitiker, der nach und nach, durch Gesetze und einen stetigen Bewußtseinswandel die chilenische Gesellschaft transformieren wollte. Nach den Wahlen setzte er sehr rasch ein Reform-Programm durch (anfänglich die 40 Direktiven aus dem Wahlprogramm), das vor allem die Löhne erhöhte, die Kranken– und Rentenversicherung durchsetzte und auch etliche Industrien verstaatlichte oder dieses zumindest vorantrieb.
Allendes Popularität nahm sehr rasch zu, da weite Teile des chilenischen Volkes merkten, daß er es ernst meinte mit einem humanen Sozialismus, mit einer tatsächlich menschenfreundlichen Politik. Aber auch der westliche Imperialismus, allen voran die USA unter Präsident Nixon, wurde auf das sozialistische Experiment in Chile aufmerksam und setzte Geld, Waffen, Militär-Contras und Geheimdienstkräfte ein, um der Regierung Allende zu schaden bzw. diese schlußendlich zu entmachten. Dies war am 11. September 1973 dann nach langer Zermürbungstaktik auch der Fall, denn ein von den Amerikanern unterstützter Putsch unter General Pinochet beendete die Regierung Allende. Allende nahm sich angesichts der Übermacht und der aussichtslosen Lage das Leben. Die Diktatur von General Pinochet sollte die nächsten Jahrzehnte Chiles politisches Schicksal sein.
Die historisch-politische Situation in Chile ist hier ein wenig ausführlicher dargestellt worden, da es sich am 11. September auch um das Ende der Hoffnungen von CfS in Chile handelte. Die oppositionellen ChristInnen wurden verfolgt, eingesperrt, umgebracht, wenn sie nicht vorher fliehen konnten. Viele flüchteten nach Argentinien oder Peru, andere bis nach Europa, wo es bald neue CfS-Gruppen gab.
Helmut Frenz, damaliger lutherischer Bischof in Chile und später u.a. Lehrbeauftragter an der Hamburger Universität, blieb aufgrund seines Amtes von Verfolgung und Folterung verschont. Andere Aktivisten wie die Theologen Arroyo, Gajardo und der Ökonom Hinkelammert mußten das Land verlassen, Hinkelammert hatte die Möglichkeit, an der Freien Universität in Berlin weiter wissenschaftlich zu arbeiten. Er sollte durch seine Publikationen „Die ideologischen Waffen des Todes“ oder „Zur Kritik der utopischen Vernunft“ einen außerordentlichen Einfluß auf die Theoriebildung von CfS bekommen. Durch ihn, den Ökonomen, bekam insgesamt die neu entstehende Befreiungstheologie entscheidende Impulse. Am wichtigsten aber war die Bewegung selber, die in den folgenden Jahren anwuchs und in Kirche und Öffentlichkeit wirksam wurde.
2. Europa seit 1973
In Europa gründeten sich – u.a. durch die ExilantInnen aus Chile – schnell neue CfS-Gruppen. Sie waren vor allem in Spanien, Frankreich, Italien, Belgien und Deutschland ansässig. In allen Ländern wurden die Gründung und überhaupt das Interesse an linkskirchlichen Aktivitäten angeregt von den politischen Nachtgebeten, die in Deutschland vor allem mit den Namen Dorothee Sölle und Fulbert Steffensky verbunden waren. In Deutschland waren es zumeist bildungsbürgerliche und mittelständische Berufsgruppen (Pastoren, Lehrer), die sich CfS zuwandten. CfS war und ist keine Partei, kein Verein, sondern eine Basisbewegung.
Als Gründungskern der deutschen Sektion von CfS kann die Tagung in Arnheim/Holland am 22./23. September 1973 gelten. Dort hieß es programmatisch: „Unsere Sache ist es, Christentum und Sozialismus zusammenzudenken. Nicht, daß wir es schon ergriffen hätten, wir jagen ihm aber nach (Phil 3,12).“ Zugleich läßt sich feststellen, daß die politische und kulturelle 68er–Bewegung in CfS einen christlichen Widerhall fand, der letztlich aber auf biblischem und befreiungstheologischem Grund fußte. Dazu einige weitere Eckpunkte aus dem Schlußdokument von CfS von 1972:
„2.1. Der Klassenkampf ist nicht nur auf die sozioökonomische Ebene beschränkt, sondern setzt sich auf dem Feld der Ideologie fort. Die herrschende Klasse erzeugt eine Reihe von ideologischen Legitimationen, die das Volk daran hindern, die gesellschaftlichen Verhältnisse überhaupt als Klassenkampf zu begreifen.
2.3 Es ist eine evangelische Forderung, jene vorurteilsbedingten und ausbeuterischen Absichten zu entlarven, für die der christliche Glaube herhalten muß. Stattdessen muß er sich in wissenschaftlich angemessener Weise mit den Armen, den Unterdrückten, der Arbeiterklasse vollziehen. Das bedeutet nicht, daß der christliche Glaube wiederum für fremde politische Zwecke instrumentalisiert wird, sondern daß seine originale evangelische Dimension wiederhergestellt wird.“
Glaube ist auch im CfS-Sinne – gut paulinisch und lutherisch – ein herzliches Vertrauen in den rechtfertigenden Gott. Dieser Gott ist kein ausschließender Gott, also geht es ihm um wirkliche und nicht nur realpolitisch reduzierte Gerechtigkeit. Der gerechte Gott hat in der jüdischen Tora sein Wort der Gültigkeit, Machbarkeit und Wirksamkeit mitmenschlichen Verhaltens und seiner Strukturen „ein für alle Mal“ mitgeteilt und damit alle an ihn Glaubenden zu einem solchen Verhalten aufgefordert. Wirkliche und wirksame Nachfolge im weltweiten, gerade auch polit-ökonomischen Sinne ist die Befolgung der jüdischen Tora, neugefaßt im „Gesetz Christi“ (Paulus). Konkret: dies bedeutet für die Umsetzung im politökonomischen Kontext nicht allein die bloße Verstaatlichung der Produktionsmittel (DDR, Sowjetunion), sondern ihre basisdemokratische, in jeder Hinsicht aufgeklärt-autonome Vergesellschaftung. Dies ist bisher bloße Forderung geblieben.
Des weiteren läßt sich feststellen, daß CfS eine Fort- und Weiterentwicklung von Gedanken und Veränderungen des II. Vatikanischen Konzils ist. Auch hier ist das Politische, das Gesellschaftliche als grundbildende Struktur neuentdeckt worden – und nicht gegen die, sondern mit der Beachtung und Hochschätzung des Individuellen zusammengebracht worden.
Die Entwicklung der bundesdeutschen CfS-Gruppen war bestimmt durch eine frühe Selbstverständnisdebatte. In den Gesamt– wie in Regionalkonferenzen wurde um Theologie wie Politik gerungen, ebenso um den Zusammenhang von beidem. Was bedeutet kontextuelle Theologie genau, wie steht diese zur traditionellen katholischen oder protestantischen Theologie, wie ist das Verhältnis zum Marxismus genau zu fassen, wie sieht eine Praxis auf dieser doppelten Basis aus, worauf arbeitet man hin, auf das Reich Gottes oder auf den Kommunismus oder auf beides? Was bedeutet das alles schließlich für die verfaßte Kirche und die Stellung von CfS in und zu ihr?
Es gab in CfS zu all diesen Fragen immer wieder unterschiedliche Ansätze und Antworten. Generell kann man festhalten, daß es eine leichte Minoritätengruppe gab, die stärker an die ArbeiterInnenbewegung anknüpfen wollte und eine leichte Majoritätsgruppe, die sich stärker den Neuen Sozialen Bewegungen verpflichtet sah (Eine-Welt-Solidarität, Anti-AKW, Friedensbewegung, ökologische und Antifa-Arbeit, später auch attac oder occupy/blockupy). Die Selbstverständnisdebatten nahmen nach dem sog. „Konsens-Dissens-Papier“ ab, denn sie waren zunächst geklärt. Dieses Papier ist mit der Erklärung von Arnheim und der CfS-homepage das einzige schriftliche Dokument über das Selbstverständnis von CfS.
CfS nahm in den ersten Jahren nach Arnheim zahlenmäßig stark (bis zu mehreren Hundert Mitgliedern und mehreren Tausend Sympathisanten) zu und hatte so auch eine größere Außenwirkung. In den 70er Jahren nahmen die Auseinandersetzungen über die Befreiungstheologie und radikale Politikformen auch öffentlichen Raum ein (vergleiche die Württembergische Landessynode im November 1976 mit der Austrittsdrohung Ernst Käsemanns und die Debatte um Bischof Hengsbach 1977, der die Theologie der Befreiung kritisierte). In den 70er und 80er Jahren wurde das Engagement von CfS-Gruppen für Lateinamerika, vor allem für das sandinistisch-revolutionäre Nicaragua, immer wichtiger. Vor allem die Ausbildung und Anstellung von DorfschullehrerInnen standen im Fokus, ebenso die „Pädagogik der Befreiung“, eine Abkehr vom sattsam bekannten „Frontalunterricht“, bekannt durch Paolo Freire.
1989 brach mit der Öffnung der Berliner Mauer der Ostblock bzw. der Warschauer Pakt zusammen, die grundlegende Option für eine gerechtere, eben sozialistische Gesellschaft blieb ungeachtet dessen unverändert. Die Zahl der Regionalgruppen nahm ab, die politische Arbeit wurde – wie in vielen linken Zusammenhängen – schwieriger und griff vielerorts nicht mehr. Die Kapitalismuskritik mußte neu formuliert werden, die politische Arbeit noch stärker als zuvor vernetzt werden, sollte sie nicht in ein völliges Nischendasein zurückfallen. Auch auf CfS hat die postmoderne Pluralisierung der Wirklichkeitsauffassungen eingewirkt und damit die Gefahr einer Beliebigkeit bzw. Wirkungslosigkeit erhöht. Da ist es sehr wichtig für die Gegenbewegung, wenn gerade in den letzten Jahren mit den Altvorderen Kuno Füssel, Ton Veerkamp und Dick Boer neue Entwürfe des Verständnisses eines christlichen Sozialismus herausgekommen sind: „Die 68er und die Theologie“ (Füssel), „Die Welt anders“ (Veerkamp) und schließlich „Erlösung aus der Sklaverei“ (Boer). In ihnen geht es um die Frage der Aufrechterhaltung einer visionären und gleichzeitig realpolitischen Option für eine Tora-Republik, dem biblischen Modell einer wahrhaft freien, gerechten und menschlichen Gesellschaft.
(Den 2. Teil dieses Artikels bringen wir morgen)