Christinnen und Christen für den Sozialismus 2/3

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Hielt die Grabrede auf Rudi Dutsche: Helmut Gollwitzer

Hielt die Grabrede auf Rudi Dutsche: Helmut Gollwitzer

Auch wenn es so mancher Linker nicht glauben mag: es gibt seit langem eine christliche Theologie, die konsequent und beharrlich unserer kapitalistischen Weltordnung den Kampf angesagt hat und diese ersetzt sehen will durch ein humanes, durch ein menschenrechtsorientiertes Wirtschaftssystem, das endlich ernstmacht mit den marxistischen Forderungen nach einer Welt ohne Ausbeutung, ohne Unterdrückung, ohne Entfremdung. Zum Beleg veröffentlichen wir hier den Vortrag des Theologen Martin Block, den dieser vor einigen Wochen bei der „Initiative für eine humane Welt (IHW) e. V.“ in der Göttinger Christophoruskirche gehalten hat. (1. Teil dieses Artikels hier)


II Theologie und politische Theorie

1. Kontextuell-ökumenische Theologie, Option für die Armen, prophetische Vision

Mit der Befreiungstheologie wird in aller Regel die „Option für die Armen“ verbunden. Dies ist richtig und außerordentlich wichtig, darf jedoch keineswegs den Blick auf andere Grundsätzlichkeiten der Kontextualität (Ethnien, Geschlecht, Chancengerechtigkeit) verstellen und auch nicht auf Einsichten der Befreiungstheologie, die bereits bei wegweisenden Theologen wie Karl Barth und Karl Rahner zu finden sind, beispielsweise die neuzeitliche Fassung einer sozialen und dynamischen Trinitätslehre, d.h. dem Verhältnis der drei göttlichen Personen Gott-Vater, Gott-Sohn und Gott-Heiliger Geist zueinander und dann auch zum Menschen bzw. zur gesamten Schöpfung. Hier wäre auf das umfangreiche Werk des Systematikers Jürgen Moltmann (Jg. 1926) zu verweisen, der diese relationale, also beziehungsstarke Trinitätslehre mitentwarf.

Doch noch einmal zurück zu den beiden „Kirchenvätern“ des 20. Jahrhunderts, evangelischerseits Karl Barth, katholischerseits Karl Rahner. Beide entwickelten, unabhängig voneinander, eine recht ähnliche Trinitätslehre, die für die Neuzeit Tertullians altes Prinzip „Una substantia – tres personae“ (eine Substanz – drei Personen) neu formulierte. Barth und Rahner sind als Theologen des 20. Jahrhunderts metaphysikkritisch (Kritik möglichst aller Denk-Voraussetzungen), das heißt, sie gehen wie alle kritischen TheologInnen davon aus, daß eine bloße Vorstellung des Göttlichen nicht ausreicht, sie muß auch erfahrungsgesättigt sein, allerdings sollte diese Erfahrung auch wieder in einer kritischen Weise reflektiert dargelegt werden können. Beiden Theologen gelingt dies in ihrer Trinitätslehre, wo es nicht mehr in erster Linie um das göttliches Wesen oder die Wesenheit geht, eine wie auch immer luftige oder gedachte Substanz, sondern um das Beziehungsgefüge der göttlichen Personen zueinander. Wie stehen sie zueinander, wie wirken sei aufeinander? Sie werden erst zu ihrer eigenen Person, indem sie von den anderen göttlichen Personen gespiegelt, reflektiert werden, auf sie bezogen sind und eine Reaktion erfahren. Dies entspricht nicht nur Hegelschem Denken, sondern auch der personalen „Ich-Du-Beziehung“, wie sie vor allem der jüdische Theologe Martin Buber entwickelte.

Für die Befreiungstheologie sind nun folgende Eigenschaften Gottes von Bedeutung: Gott-Vater wird voll und ganz erst durch Gott-Sohn und Gott-Geist erkannt. Sie erkennen einander, anerkennen einander und sind miteinander und erst aufgrund der jeweils anderen sie selbst. Gott ist keine leidensunfähige Person, läßt mit sich reden, läßt sich umstimmen, läßt aber zugleich den von ihm geschaffenen Menschen die Freiheit, sich für oder gegen ihn zu entscheiden. Die drei göttlichen Personen leben in sich, in der inneren Trinität, wie die Theologie sagt, bereits das sich befruchtende, begeisternde und gerechte Leben, das auch für die Menschen in Schöpfung und Geschichte vorgesehen war und ist. Darauf fußt ein Großteil der Befreiungstheologie, das ist ihre eigentliche Grundlegung in der Trinitätslehre. Moltmann faßt das in das schöne Bild der einander anregenden, einander begeisternden, ja miteinander tanzenden göttlichen Personen zusammen. Barth und Rahner waren da die Vorbereiter, wobei Barth vor allem die Ursprungs-Dominanz von Gott-Vater starkmachte, Rahner eher die glaubensmäßige Vorgängigkeit der Trinität vor aller rationalen Erfaßbarkeit.

Zweites wichtiges Kriterium für die Befreiungstheologie: die „Theologie von unten.“ Dies ist das kontextuelle, das geschichtliche, das inkarnatorische Moment („Gott wird Mensch“). Es gab, zu Zeiten der Dialektischen Theologie in den 1920er Jahren, die schroffe Gegenüberstellung von Barth („Theologie von oben“) und von Bultmann („Theologie von unten“). Das bedeutete, Barth entwickelte seine Theologie von der Erkenntnis Gottes her, Bultmann von der Erkenntnis des Menschen her. Die Befreiungstheologie schlägt sich hier auf die Seite Bultmanns, kritisiert ihn aber wiederum (z.B. durch seine Schülerin Dorothee Sölle), daß er zwar die persönliche Existenz und Ko-Existenz, nicht aber die Ökonomie und Sozio-Politik menschlicher Gesellschaften miteinbezog in sein theo-anthropologisches Konzept.

Befreiungstheologie wäre hier also als „konsequente Inkarnationstheologie“ zu kennzeichnen: das bedeutet, im Verhältnis des Menschen zu Gott spielt sein gesamtes irdisches Dasein und Geschaffensein, seine Existentialität, seine Geschichte (individuell wie gesellschaftlich) und auch seine politische, soziale und ökonomische Verfaßtheit eine Rolle – als konsequente „Fleischwerdung.“ Erst wenn all dies in der angemessenen, der scharfgeschlossenen Weise gesehen wird, werden auch die Widersprüche und Widersprüchlichkeiten menschlichen Lebens voll erfahrbar und ausdeutbar. Die einseitig geistige, individuelle und eben auch häufig bürgerliche, mittelständische Sicht auf Gott und eine entsprechende Theologie macht selbige harm– und zahnlos, läßt wesentliche Arbeits– und Kritikfelder menschlichen Lebens aus oder zu kurz kommen. Die Befreiungstheologie (zunächst Gustavo Gutierrez und Leonardo Boff, später viele weitere) räumt mit diesen (wissentlichen wie unwissentlichen) Verkürzungen auf und schafft somit die volle Perspektive auf ganzes bzw. ganzheitliches Leben, Arbeiten und Hoffen – und im Zuge dieser Verdeutlichung auch auf das häufige Scheitern ebendieser Perspektive.

Um dies noch zu verdeutlichen: es ist ein wesentlicher Unterschied, in welcher Situation ein Mensch sich an Gott wendet, inwieweit er Außenseiter oder vollintegriert, Obdachloser, Mittelschicht oder Funktionselite darstellt. Es ist ebenso Kontext, welches Geschlecht, welche Hautfarbe man hat oder welcher beruflichen Schicht bzw. Klasse man angehört. An dieser Stelle hat ein Großteil katholischer wie evangelischer Theologie in der Vergangenheit häufig sehr idealistisch und damit entsprechend der vorherrschenden Auffassung und Ordnung argumentiert. Weder Barth noch Rahner noch eben die Befreiungstheologie bleiben bei diesen verkürzt-idealistischen Voraussetzungen stehen, sondern versuchen im Gegenteil, die Menschen in ihren sehr zahlreichen Bedingtheiten möglichst tiefenscharf und kreativ zu erfassen.

Schließlich – als drittes Moment – ist die prophetische, die erinnernde, mahnende und kritisierende, aber eben auch die visionäre Sicht der jüdischen heiligen Schriften von großer Wichtigkeit für die Befreiungstheologie – und damit auch für CfS, die hier immer mitgemeint sind. In den prophetischen Büchern des Ersten Testaments, gerade bei Jesaja, Jeremia und auch Amos und Hosea geht es um die (soziale) Gerechtigkeit Gottes. Durchaus nicht nur im ethischen Sinne, also im Blick auf die „Verteilung der Güter“: wieviel muß ich jedem Menschen an gerechter Chance oder gerechtem Gut zukommen lassen? Sondern eben auch im eminent theologischen Sinne: wer ist denn Gott, an den wir uns wenden, wenn wir auf uns und unser Leben, auf Politik, Gesellschaft und Wirtschaft schauen? Ist es eine Idolatrie, ein selbstgemachtes Götzenbild, das der schärfsten Fetischkritik unterliegt, wie die Propheten immer wieder betonen – oder ist es ein Gott, der einen Bund mit dem Volk Israel schloß, ein gutes Leben in Gleichheit, Freiheit und Gerechtigkeit für seine Geschöpfe gab und immer wieder neu gibt, der aber immer wieder von seinem Bündnispartner enttäuscht wird und so viele Prophetinnen und Propheten seine harten und schneidenden Wort sprechen ließ? Das ist die Frage, das ist aber auch die Antwort, denn die jüdischen Propheten sind eben die Vertreter der Gerechtigkeit, wie sie genauso die Vertreter der zuvorkommenden Gnade und Liebe Gottes sind. Sie müssen unter ihrem Auftrag, unter ihren Mitmenschen leiden, sehen dieses Leid (Ausgrenzung, Verfolgung, Gefängnis) als Zeichen ihrer Verbundenheit mit Adonaj, dem Namen, dem Heiligen Israels.

Die Befreiungstheologie und auch CfS haben sich die prophetische Tradition zueigen gemacht, bauen auf ihr auf und können dadurch eigene Verfolgung, Mißachtung bis hin zur Tötung in eine Traditionslinie und eben auch Erklärungslinie stellen. Hier kommen theologische und ethische Momente bei der eigenen Glaubens– und Lebenspraxis zusammen. Warum widerfährt mir Verfolgung, Zwang, Zurücksetzung, Benachteiligung? Antworten dazu kann einem dieses existentielle, dieses Nachfolge-Modell geben, das seit frühester jüdischer Zeit große Bedeutung hatte und christlicherseits bei Jesus und vielen seiner radikalen Nachfolger gelebt und erlitten werden mußte.

2. Methodischer Marxismus

Helmut Gollwitzer sprach von einem „methodischen Atheismus“ im Gegensatz zu einem metaphysischen. Methodisch bedeutet hier mithilfe des Atheismus, also aus atheistischer Perspektive etwas sehen. Metaphysisch hingegen wäre Atheismus anstelle des Christentums, quasi als „Glaubensersatz.“ Atheismus ist also in der Analyse der Welt zunächst sinnvoll. Denn: alles vorgängig und somit unkritisch von Gott herzuleiten, sei wissenschaftlich erklärtermaßen nicht haltbar. Das heißt andererseits aber keineswegs, daß die Möglichkeit der Existenz Gottes ausgeschlossen ist. Weiter Gollwitzer: er befürwortete für die theologische Arbeit einen methodischen Atheismus, angeschlossen an die frühchristliche Gleichsetzung der Jesus-Anhänger mit den Nicht-Gläubigen, den atheoi. Ähnlich möchte ich hier mit dem Gebrauch des Marxismus innerhalb der Befreiungstheologie umgehen, also plädiere ich für einen methodischen, nicht für einen metaphysischen Marxismus.

Es gab Befürchtungen seit Entstehung der Befreiungstheologie, daß der Marxismus einen zu hohen, ja einen dogmatischen Anspruch innerhalb der sich entwickelnden Befreiungstheologie in den 60er und 70 er Jahren des vergangenen Jahrhunderts erheben könnte. Päpstliche Kritik bis hin zu Enzykliken, Entzug der Priesterfunktionen, der Lehrerlaubnis und einer 2007 erfolgten „Notificatio“ gegenüber dem Befreiungstheologen Sobrino belegen dies. Sie belegen allerdings nicht – und da ist der ehemalige Vorsitzende der Glaubenskongragation, Kardinal Ratzinger, durchaus keine löbliche Ausnahme -, daß die päpstliche und vatikanische Kritik den Sachverhalt, um den es geht, in der entscheidenden Tiefe und Schärfe begriffen hätte. Also den Zusammenhang von Theologie und Marxismus, wie ihn die Befreiungstheologie sieht.

Allerdings: auch die evangelische Kirche machte in weiten Teilen diese methodische Anwendung einer marxistischen Gesellschaftsanalyse nicht mit, sondern sah im Marxismus vor allem den Stalinismus der Kriegs – und Nachkriegszeit und blieb einem alten antikommunistischen Grundvorbehalt tief verhaftet. Dabei ist die entscheidende Frage, die sich Befreiungstheologie wie auch die neu entstehenden Basisgemeinden stellten, wie man die Welt von heute in all ihren unterschiedlichen politischen, sozialen und ökonomischen Hinsichten überhaupt noch grundlegend als Einheit verstehen und daraufhin positiv verändern könne. Hier greift marxistische Analyse insofern, als sie erkennt, daß unsere Gesellschaft fundamental dem Widerspruch der kapitalistischen Wirtschaftsweise ausgesetzt ist und damit dem Widerspruch von Kapital und Arbeit. Des weiteren ist sie ausgesetzt dem Widerspruch von Gebrauchs- und Tauschwert, von abstrakter und konkreter Arbeit, schließlich dem von Bedürfnisinteresse und Profitinteresse. Dies sind so tiefe und grundlegende Widersprüche in theoretischer und praktischer Weise, daß man um die Systemfrage (Kapitalismus) nicht herumkommt. Marxistische Analyse sieht die Widersprüchlichkeit in den gegenwärtigen Gesellschaften schärfer als alle anderen gesellschaftlichen Deutungsversuche, so die Befreiungstheologie, ihr gelingt es aber auch, diese Widersprüchlichkeit als menschengemacht und insofern als historisch veränderbar zu dekonstruieren. Das ist das große Verdienst marxistischer Sichtweise – und ihre Negierung ein „Hauptschaden“ christlicher Theologie, so Gollwitzer.

Theologie hingegen ist die wissenschaftliche Rede von Gott, einem Objekt, über das man eigentlich nicht reden, allenfalls „performativ“ reden kann, also in uneigentlicher, subjektiver oder poetischer Weise. „Hilf doch, Herr!“ oder „Maranatha – Herr, komm!,“ also eben persönlich, direkt, unverblümt. Mit Barth sagt auch die Befreiungstheologie (und mithin CfS), daß man von Gott nicht reden kann, aber muß, über Barth hinaus sagt sie, daß man von Gott auch eingedenk des gesamten sozioökonomischen Kontextes reden muß.

In Frage steht nun der Zusammenhang von Theologie und Marxismus, also der Analyse oder Rede Gottes und der Analyse oder Rede von der Welt. Hier könnte man idealtypisch folgende Methoden skizzieren, wie genau man diesen fraglichen Zusammenhang zu bestimmen hat: einerseits als ein Identitätsmodell (ist gleich), andererseits als ein Entsprechungsmodell (wird gleich). Die Identität von Gott und Welt ist kein christliches, es entspricht eher einem „pantheistischen“ oder „panentheistischem“ Weltbild: alles ist Gott bzw. alles ist in Gott. Aber auch die Entsprechung, daß Gott die Welt, den Menschen geschaffen hat, sodaß „alles sehr gut“ war bzw. „seinem Bilde“ entsprach, kann unterschiedlich gewichtet werden: katholischerseits widersprechen sich in diesem Zusammenhang Gott und Welt nur insoweit, als die Welt sich durch sündiges, fehlendes Verhalten aus diesem Zusammenhang selbst reißt. Evangelischerseits liegt der Bruch zwischen Gott und Welt oder Mensch tiefer, er ist durch kein noch so gutes, gerechtes Verhalten zu heilen. Aber auch das schließt marxistisches Denken keineswegs aus: der Marxismus ist eher förderlich in der Sünden-Aufdeckung, nämlich in der Entdeckung der „strukturellen Sünde“ in Politik und Gesellschaft. Umgekehrt kann und soll man allerdings versuchen, sich selbst und auch die Welt in eine gerechtere, eine gottförmige(re) Verfassung zu bringen. Da gibt es dann keine oder nur marginale Unterschiede zwischen einer katholischen und einer evangelischen Befreiungstheologie.

All diese Unterschiede werden in CfS theoretisch und praktisch gelebt, in recht vielen Varianten und Zwischenschritten und gelegentlich sehr lebhaften Debatten und Aktionen. Diese müßten dann aber einer weiteren und gründlicheren Untersuchung vorbehalten bleiben. Entsprechende Literatur findet man auf der CfS-homepage: www.chrisoz.de

(Den dritten Teil dieses Artikels bringen wir morgen auf “Hinter den Schlagzeilen”)

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