Das Krisensymptom

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Die Brutalität von Neofaschisten ist auch eine Folge der Gewalttätigkeit des Systems. Hitlergrüße, „Ausländer raus!“-Gebrüll, Attacken gegen Linke und Migranten — und Tausende „normale Bürger“ laufen mit. Nach zwei tödlichen Streits zwischen Asylbewerbern und Einheimischen mit zwei deutschen Opfern in Chemnitz und Köthen bricht sich die Aggression auf der Straße Bahn. Rechtsradikale und faschistische Kräfte heizen die Gewaltspirale an und gewinnen massiv an Zulauf. Sowohl die Gewalt als auch die Rechtsentwicklung haben Ursachen, die vom Kapitalismus nicht abzukoppeln sind. Eine Analyse. (Susan Bonath)

Die Gewalt des Kapitalismus

Wir schreiben den Beginn des 21. Jahrhunderts. Mehr und mehr befreit die Technologie den Menschen von der Arbeit. Sie hat uns die Massenproduktion beschert und zugleich ein globales neurales Netz geschaffen: das Internet. Jeder kann weltweit mit jedem kommunizieren. Diese Entwicklung hat uns nicht nur in die Lage versetzt, global zu planen und alle Menschen am Reichtum teilhaben zu lassen. Theoretisch könnten wir unter größter Schonung der Umwelt ein Paradies für jeden erschaffen.

Doch wir erleben das Gegenteil. Unsere Wirtschaft befindet sich in wenigen privaten Händen. Was auch immer diese Eigentümer produzieren lassen, es geschieht zu einem einzigen Zweck: Maximalprofite. So geht Kapitalismus. Und der rutscht seit Jahrzehnten von einer Krise in die nächste: Während sich das Kapital bei den Reichsten konzentriert, schreitet die Massenverelendung global voran. Großkonzerne, von Banken finanziert, plündern Ressourcen. Ganze Regionen werden unbewohnbar. Das Klima spielt verrückt. Kriege toben in der Peripherie. Das alles traumatisiert. Jeder im Elend Lebende, der kann, ergreift die Flucht.

Blicken wir ein Stück tiefer: Finanzblasen zerplatzen in immer kürzeren Abständen, weil diese Pseudo-Profite realwirtschaftlich nicht umsetzbar sind. Der profitgetriebene Zwang zu ständigem Wirtschaftswachstum lässt Geld- und Industriekapital zu mächtigen Monopolen verschmelzen, die kleinere Firmen im globalen Wettbewerb verdrängen. Das kollidiert mit einem begrenzten Planeten. Ressourcen gehen zur Neige. Anlagemöglichkeiten für neues Kapital schwinden. Die Staaten als Manager der Kapitaleigentümer reagieren mit Privatisierung der öffentlichen Daseinsvorsorge – und nicht zuletzt mit militärischer Aufrüstung.

Ein abstrakter Aggressor

Denn mit aller Macht will das Großkapital Profite sichern. Märkte müssen erobert, Gegenspieler niederkonkurriert werden. Krieg steht auf dem Programm. Beschleunigend wirkt ein weiterer Faktor: Die technologische Entwicklung setzt Arbeitskräfte frei. Aus kapitalistischer Sicht entsteht so eine wachsende überflüssige Masse von Menschen, die keine Kaufkraft mehr besitzen. In Folge spitzen sich Überproduktions- und Kapitalverwertungskrisen gleichzeitig zu. Die Verelendung wächst. Perfide: Die daraus resultierenden Kriege haben nicht nur die Aufgabe, Zugriff auf Märkte und Ressourcen zu ermöglichen. Sie dienen auch der Vernichtung überflüssig gewordener Kapitale. Dazu gehören sowohl Produktionsmittel als auch Humankapital – also Menschen.

Das offenbart eine brutale Einsicht:

Sowohl einheimische Langzeitarbeitslose, in Deutschland unter Hartz IV gegängelt und entrechtet, als auch die Massen von Flüchtenden aus der sogenannten „Dritten Welt“ repräsentieren die wachsende Gruppe überflüssiger Lohnabhängiger. Es geht dabei um Menschen, deren Lohnarbeitskraft das Kapital nicht mehr verwerten kann.

Theoretisch müsste es sie entsorgen. Der einzige Grund, weshalb das nicht so rabiat geschieht, wie es etwa an Juden, Kommunisten, Sinti und Roma und so weiter im faschistischen Deutschland praktiziert wurde, ist banal: Es könnte zu Aufständen führen.

Ich spreche bewusst vom „Kapital“. Das Ringen der Kapitalisten um selbiges bestimmt unser materielles Dasein. Das Kapital ist zu einem Gott mutiert, der über allem steht – auch über allen anderen Religionen. Finanzkapital, Politik und deren vulgärökonomische Vorbeter nennen das Kapital liebevoll „die Märkte“: Rohstoffmärkte, Absatzmärkte, Arbeitsmärkte und so weiter. Das harmlos klingende Wörtchen „Wettbewerb“ meint knallharte Konkurrenz – unten streiten sich die Lohnabhängigen um Jobs und Wohnungen, oben geht es um Kapitalanteile, Märkte, Profite. Der Autor Fabian Scheidler fand einen treffenden Begriff für „das Kapital“ in seinem gleichnamigen Buch: Die Megamaschine. Der Autor Tomas Konicz spricht von einem „automatischen Subjekt“, das alles verschlingt, das als abstrakter Aggressor wütet.

Subtil gewaltsame Verhältnisse

Halten wir fest: Der abstrakte Aggressor namens „Markt“, dem sich nachweislich weder einzelne Individuen noch ein einzelner Kapitalist widersetzen kann, regiert auf allen Ebenen. Ein abstrakter Feind macht hilflos. Wen soll man wie bekämpfen? Die Antwort der Marxisten, nämlich Enteignung und Vergesellschaftung der gesamten Wirtschaft, lässt selbst Linke erzittern: Das sei zu „radikal“, vielleicht utopisch. Die Masse fürchtet eine Revolution wie der Teufel das Weihwasser. Sie könne Gewalt produzieren, heißt es. Doch die Gewalt ist längst allgegenwärtig. Dröseln wir die Gewalt im Inneren des Systems ein wenig auf.

Was wir schon früh lernen: Alle Gewalt liegt beim Staat. Nennen wir ihn „Gesamtkapitalist“, denn als solcher regiert er. Ohne Gewalt wäre dies unmöglich. Nur gewaltsam ist die Unterdrückung einer Vielzahl Besitzloser durch wenige Besitzende, sind also Klassengesellschaften zu managen.

Der Überbau moderner Gesamtkapitalisten ist die bürgerlich-parlamentarische Stellvertreter-Demokratie. Das suggeriert: Jeder habe doch irgendwie etwas zu sagen. Dabei wissen wir: Das zum Finanzkapital verschmolzene Industrie- und Geldkapital bestimmt die Gesetze. Hauptzweck derselben ist der Erhalt der ökonomischen Eigentumsrechte.

Zum Beispiel: Niemand darf gratis wohnen. Mieter zahlen Miete an Immobilienbesitzer, Grundstückspächter zahlen Pacht, Eigentümer müssen Grundsteuern und Straßensanierungsanteile berappen. Wer irgendwo seinen Wohnwagen hinstellt und dort lebt, begeht eine Straftat. Oder die Lohnarbeit: Laut Grundgesetz dürfe angeblich jeder seinen Arbeitsplatz frei wählen. In der Praxis sieht das anders aus: Wer kein eigenes Kapital verwerten kann, muss seine Arbeitskraft verkaufen. Wer keine Arbeit findet, den darf das Jobcenter in jeden Billigjob unter Androhung der Existenzvernichtung zwingen. Und allgemein: Jeder Job dient letztlich nur einem: Dem Kapitaleigentümer – was auch der Gesamtkapitalist sein kann – zu Profiten zu verhelfen.

Das nennt man Ausbeutung von Arbeit, die in langen, gut verschleierten Ketten vonstattengeht. Dazu vorab: Neuen Mehrwert, also Realprofit, können Konzerne nur aus produktiver Arbeit herauspressen. Also dort, wo neue Waren entstehen. Im Dienstleistungssektor, wie Handel, Transportwesen, Finanzbranche, Werbeindustrie et cetera, wird Realprofit nur umverteilt.

Nehmen wir den Textildiscounter Kik: Den Realprofit erwirtschaften die Baumwollpflückerinnen und die Textilarbeiterinnen in Indien oder Bangladesch unter miesen Bedingungen. Durch den Verkauf in Deutschland zieht Kik einen Profitanteil aus der dort geleisteten Arbeit. Die Verkäuferin schafft keinen neuen Profit. Der Konzern beteiligt sie notgedrungen an seinem Profitanteil – freilich so gering wie möglich. Verkäuferin und Unternehmer leben vom Mehrwert, der in der Peripherie abgeschöpft wird. Zugleich beutet der hiesige Kapitaleigner die Verkäuferin natürlich auch aus. Kurzum: Alles hängt zusammen, und alles ist Barbarei.

Gesellschaft als Spiegel der Barbarei

Es ist lange bekannt: Verschärft sich die Barbarei von oben und wächst unten die Konkurrenz im Kampf um Existenz und Auskommen, entladen sich auch zunehmend meist lange angestaute Aggressionen innerhalb der unterdrückten Klasse. Rechte Kräfte unterteilen Täter in „Einheimische“ und „Ausländer“ – wobei sie grundsätzlich ausschließlich Straftaten von letzteren in den alleinigen Fokus rücken. Sie fokussieren also eine angebliche nationale Einheit friedliebender Menschen, die es – schon klassenbedingt – nicht gibt.

Neben den von ausländischen Tätern verübten Gewalttaten grassiert Gewalt genauso unter Deutschen.

Nur einige jüngere Beispiele: Vor einigen Wochen wurde ein 82-jähriger Mann aus Hünxe bei Düsseldorf mit einem Beil erschlagen aufgefunden. Der Mörder hat seine Tat inzwischen gestanden, wie Staatsanwaltschaft und Polizei meldeten: Er ist 40 Jahre alt, urdeutsch, hatte den Rentner betreut und wollte an das Geld seines Opfers kommen. Im bayrischen Pfaffenhofen an der Roth schoss kürzlich ein 41-jähriger Deutscher auf einen 29-jährigen Mann mit einer Armbrust und verletzte ihn schwer. In Bielefeld stehen Jörg W. und Kevin R. wegen Mordes an drei Männern – zwei Deutsche und ein Libanese – vor Gericht.

Haupttäter und Mitangeklagter haben das Töten gelernt: W. als ehemaliger Fremdenlegionär, R. als Bundeswehrsoldat. Vor dem Landgericht Stuttgart beginnt am 22. Oktober ein Prozess gegen einen 25-jährigen Deutschen, dem vorgeworfen wird, seine 22-jährige Lebensgefährtin Katharina K. in Backnang bei Ludwigsburg brutal erschlagen zu haben – vorausgegangen war ein Streit um das Sorgerecht des gemeinsamen Kindes.

Weit verbreitet ist Gewalt an Kindern. Wie Studien erneut ergeben haben, missbrauchten nach dem zweiten Weltkrieg Tausende von katholischen Geistlichen unzählige Minderjährige. Vor rund drei Wochen verurteilte das Landgericht Erfurt den 31-jährigen Turnlehrer und sogar Abteilungsleiter in Weimars größtem Sportverein, Robert P., zu knapp vier Jahren Haft. Sein Vergehen: Er hatte über acht Jahre lang in mehr als 80 Fällen schutzbefohlene Kinder schwer sexuell missbraucht. In diesem Fall schauten offenbar auch die Eltern weg. Denn einige der Opfer hatten sich lange vor dem Auffliegen bemerkbar gemacht.

Ende August verurteilte das Landgericht Dresden den 59-jährigen Hans-Jürgen P. aus Dessau zu einer nicht weniger milden Haftstrafe von knapp vier Jahren. Der Grund: Er hatte in mindestens 176 nachgewiesenen Fällen seine Tochter sieben Jahre lang brutal vergewaltigt. Bei der ersten Tat war das Kind sieben Jahre alt. Weitere Verbrechen gegenüber fremden Kindern stufte das Gericht als verjährt ein.

Anfang September verurteilte das Landgericht Verden in Niedersachsen einen inzwischen 70-jährigen Deutschen zu drei Jahren und vier Monaten Haft. Über viele Jahre hinweg hatte der Mann kleine Jungen zu sich gelockt und sich an ihnen schwer vergangen. Seine Nachbarn hatten dem Treiben offenbar tatenlos zugesehen. Sie hätten ihn „Pädo“ genannt – aber nichts unternommen. Dasselbe Gericht verhandelt aktuell gegen einen 51-jährigen Deutschen. Er gestand, immer wieder ein Mädchen im Grundschulalter vergewaltigt zu haben – als Freund der Familie. Die Mutter will nichts bemerkt haben.

Im sächsischen Aue verurteilte das Landgericht einen 54-jährigen Lehrer und Judotrainer zu dreieinhalb Jahren Gefängnis, weil er mehrfach eine 10-jährige Grundschülerin schwer sexuell misshandelt hatte. Nicht zu vergessen der laufende Kinderporno-Prozess in Limburg: Vier Deutsche sind angeklagt, Kleinkinder auf barbarische Weise sexuell misshandelt und derlei Filme konsumiert zu haben. Dies ist nur ein winziger Auszug aktueller Taten.

Quellen gesellschaftlicher Aggression

Die Gewalt in der Gesellschaft ist nicht von dieser abzukoppeln. Das normale Leben im Kapitalismus ist permanenter, meist subtiler Gewalt unterworfen. Wer nicht im Hamsterrad aus Erfolgszwang und Demütigung strampelt, fällt schnell hinten runter. Am Ende steht die Gewalt des Gewaltmonopolisten: Jährlich mehr als 50.000 Zwangsräumungen, eine Million Hartz-IV-Sanktionen oder das Abpressen immer höherer Mieten sind rohe Gewalt. Auf Demonstrationen prügelnde Polizisten sind Gewalttäter. Doch zugleich unterliegen sie dem Zwang der Lohnarbeit. Die Barbarei des unsichtbaren Gottes Kapital zerstört Familien, schürt Ängste, Panik, Hilflosigkeit, Aggressionen.

Ein weiterer Frustfaktor ist die Vereinzelung. Dazu ein Blick in die Geschichte: Der Mensch ist ein Gemeinschaftswesen. Er sehnt sich nach Gruppen Gleichgesinnter, mit denen er gemeinsam lebt, wirtschaftet und die ihm soziale Sicherheit bieten. Im Zuge der Industrialisierung im 18. und 19. Jahrhundert gab es an dieser Stelle einen Bruch: Das Kapital war auf der Suche nach Lohnarbeitern. Dazu mussten die Regierenden die Menschen aus ihren ökonomischen Verbünden reißen, um sie zu zwingen, sich dem Lohnarbeitsmarkt zu unterwerfen. Das geschah etwa über den „Wettbewerb“ sowie über Steuern, die der Staat erhob und die viele kleine Bauern und Handwerker in die Pleite trieben. Das Gemeinschaftswesen Mensch wurde auf die Kleinstfamilie zurückgeworfen. Das Gefühl von Haltlosigkeit erzeugt Aggressionen.

Nun ist bekannt: In den Heimatländern der Flüchtlinge tritt die Gewalt der Herrschenden in aller Regel noch viel offener zutage als etwa in Deutschland. Die Ausbeutungsstrategien sind brutaler, Armut und Hoffnungslosigkeit gegenwärtiger. Und doch gilt für alle: Gewalt, ob subtil oder offen, konditioniert die Menschen. Sie wird erlebt, erlernt, verinnerlicht. Sie prägt Verhaltensmuster und führt zum Aggressionsstau: Wo konkrete Zielfiguren fehlen, werden Aggressionen vielfach kanalisiert.

Imaginäre Ersatzgemeinschaften und Sündenböcke

Durchaus tat der Gesamtkapitalist einiges, um so entstandene Aggressionen abzufedern. Er schuf imaginäre Ersatzgemeinschaften. Fußballmannschaften und Fanclubs gehören ebenso dazu wie „die Nation“. Beiden ist zu eigen: Sie fokussieren das Gemeinschaftsbedürfnis auf Chimären, also auf Gruppen, die weder ökonomisch für einander einstehen, noch sich in ihrer Gesamtheit real kennen. Vielmehr sammeln sich in ihr sowohl Mitglieder der herrschenden als auch der unterdrückten Klasse, die in jeder Hinsicht ökonomische Konkurrenten sind. Nationalismus und Rassismus sind negative Auswirkungen der Vereinzelung.

Eine weitere beliebte Strategie der politischen Propagandaabteilung zum Kanalisieren der Aggressionen ist die Implementierung von Sündenböcken. Dabei hat sie es einfach: Schon das Nichterkennen des abstrakten Feindes verfestigt in vielen Menschen die Tendenz zu einer Projektion auf Ersatzfeindbilder.

Manch Geflüchteter – aber durchaus auch Einheimische – fokussiert emanzipierte Frauen als Sündenbock. Anderen dient der – vermeintlich faule – Hartz-IV-Empfänger als Sündenbock, für viele sind es Asylbewerber. Was auffällt: Immer geraten Minderheiten in die Sündenbockfunktion, die insgesamt als Gruppe leicht zu identifizieren, somit leicht auszugrenzen und vor allem eins sind: materiell schwächer.

PR-Kampagnen und das Pushen rechter Kräfte

Dass die gewalttätigen gesellschaftlichen Bedingungen Aggressionen erzeugen, ist der politischen Klasse sehr wohl bekannt. Daher befördert diese die Sündenbockstrategie vehement. Ihr Ziel ist es schließlich, das spätkapitalistische Arbeitshaus effektiv zu managen. Dabei gilt es, vor allem Aufstände der unterdrückten Klasse zu verhindern. Das tut sie noch immer auch nach dem altbekannten Motto: teile und herrsche. Wir kennen die Diskussionen in Parlamenten darüber, ob Erwerbslose erwerbslos aufgrund ihrer „Faulheit“ seien und Flüchtlinge Asyl suchen, um „den Sozialstaat“ zu plündern. Sozialschmarotzer in Hängematten, Wirtschaftsflüchtlinge und ähnliche abwertende Verallgemeinerungen fallen dort ständig.

Bereits im Jahr 1928 erkannte Edward Bernays in seinem Buch „Propaganda“, dass Menschen nicht logisch, sondern emotional zu ködern sind. Man weiß: Vor allem auf dieser Ebene entstehen Meinungen. Es wimmelt inzwischen von PR-Beratern. Organisiert in riesigen, global agierenden Unternehmen und Think Tanks, sind sie ausschließlich damit befasst, Kaufverhalten, Ansichten und Verhalten zu manipulieren. Die Berater des Konzerns McKinsey zum Beispiel gehen auch im Bundestag ein und aus. Sie haben unter anderem Hartz IV mit ersonnen und zugleich den Tafeln zur Ausgabe von Essensresten mit für diese kostenlosen Beratern und Werbebroschüren zum Aufschwung verholfen.

PR-Berater greifen Stimmungen auf, ermitteln Trends und geben Tipps, sie durch entsprechende Kampagnen in gewünschte Richtungen im Sinne ihrer Auftraggeber zu lenken. Sie arbeiten nicht nur für Politik und Staat, sondern ebenso für große Konzerne, Supermärkte, diverse Verbände, Organisationen und politische Parteien. Rechte „Projekte“, wie Pegida oder die Partei „Alternative für Deutschland“ (AfD), lassen PR-Manager im Hintergrund vermuten. Allgemein fördern Staaten in Krisenzeiten rechtsradikale Kräfte. Denn sie dienen einerseits der Kanalisation von Aggressionen, andererseits dem Machterhalt des Kapitals.

AfD: Partei des deutschen Mittelstandskapitals

Die Krise des zunehmend von globalen Finanzmonopolen gesteuerten und längst im imperialistischen Stadium angelangten Spätkapitalismus, bedingt durch die systemimmanente Kapitalakkumulation – bürgerliche Kritiker sprechen von Neoliberalismus oder Globalisierung –, macht selbstverständlich kleineren Unternehmen zu schaffen. Immer bedrohlicher erscheint deren Konkurrenz. Die Bundesregierung fördert jedoch genau diese Entwicklung. Kein Wunder: Es wird in Zukunft das Großkapital sein, das profitable Lohnarbeitsplätze schafft. Nur von diesen ist Mehrwert abzuschöpfen. Der Staat verdient daran mit. Denn ob Lohn- oder Unternehmenssteuern: Alles fließt letztlich aus dieser einen Quelle.

Das Mittelstandskapital bangt, will die Entwicklung umkehren. Es will die Macht im Staat übernehmen. So brachte dieser Schoß 2013 die AfD hervor – zunächst, ganz folgerichtig, als eurokritische Partei. Gesponsert von schwerreichen Mitgliedern, diversen Unternehmerverbänden und seit 2016 zum Beispiel auch von dem sogenannten „Verein zur Erhaltung der Rechtstaatlichkeit und bürgerlichen Freiheiten“, der erst jüngst in Bayern wieder mit verdecktem Werbesponsoring in Millionenhöhe für die AfD aufgefallen war.

Vereinsvorsitzender ist der 33-jährige selbständige PR-Berater David Bendels. Dank sozialer Angst in der Bevölkerung, hoher Finanzspritzen und guter PR-Beratung konnte die AfD schnell auf den Zug der Flüchtlingskrise aufspringen. Ihre ausländerfeindliche Angstkampagne hat die „Eurokritik“ abgelöst.

Erst dadurch wuchs die AfD zu einer ernstzunehmenden politischen Rechtsaußenkraft heran. Ihr Ziel: Ein imperialistischer, repressiver Nationalstaat, der die Interessen des nationalen und eurasisch ausgerichteten Kapitals schützt. Dafür setzt die AfD auch auf Faschisten.

Den Schulterschluss mit ihnen hat sie längst vor Chemnitz vollzogen, wo sie mit neofaschistischen Organisationen, wie Thügida, Pro Chemnitz, Pegida und freien Kameradschaften, aufmarschierte. Nicht ohne Grund: Faschismus als letzter erhoffter Ausweg aus einer Krise des Kapitalismus ist nur dann praktikabel, wenn dessen Protagonisten über Macht auf der Straße verfügen. Freilich: Eine organisierte Truppe, wie einst die SA der NSDAP, fehlt der AfD – noch. Doch eins ist sichtbar: Innerhalb der Partei gewinnt der Rechtsaußenflügel um Björn Höcke an Einfluss.

Spiegel des Ringens der Kapitalfraktionen um Macht

Die Kräfte in der AfD spiegeln insgesamt – wie auch die übrige Politik in Deutschland – die Zerrissenheit der kapitalistischen Klasse wider. Grob gesagt steht Alice Weidel für die eher „neoliberalen“ Kräfte, die rabiaten Sozialabbau, Entmachtung der Gewerkschaften, das Ende von Mindestlohn und Besitzsteuern, ja, den „totalen Markt“ propagieren – ganz im Sinne der Friedrich-August-von-Hayek-Gesellschaft. Bis heute führende AfD-Mitglieder, wie Alice Weidel, Beatrix von Storch und Peter Boehringer gehören ihr an.

Der Höcke-Flügel, vor allem im Osten Deutschlands tonangebend, demonstriert eher die Angst des „verhinderten Großbürgertums“, darunter viele Anwälte, Juristen, Lehrer, Polizisten und diverse Staatsbedienstete. Höcke und Co. predigen eine Art nationalen Sozialismus für Deutsche. Das dient letztlich dennoch dem großen Ziel, wie es der große Rest der Partei im Sinn hat: Schutz des nationalen Mittelstandskapitals.

Im Osten findet das Gemisch aus Nationalismus und (Pseudo-)Sozialpolitik nicht ohne Grund besonderen Anklang: Verfestigte Opfergefühle aufgrund zerrütteter Erwerbsbiographien, niedrigerer Renten und Löhne, ja, eine gesellschaftliche Übereinkunft, der westliche Kapitalismus habe sie „übers Ohr gehauen“, bestimmen dort das Bewusstsein. Der Slogan, Asylbewerber plünderten ihnen zustehende Sozialkassen, bedient nicht nur den Mythos, ein Staatshaushalt funktioniere wie Oma Ernas Geldbörse. Er trifft besonders dort auf angestaute Wut und Aggressionen, die für jene Kanalisation empfänglich sind.

Sozialer Anstrich ohne Inhalt

Kurzum: Die AfD ist keine Einheitsfront, sondern das Produkt der Konkurrenz innerhalb der Kapitalfraktionen. Im Bundestag fährt sie eine Mischung aus Neoliberalismus, Sozialchauvinismus und Deutschtümelei. Sie stimmte bisher konsequent gegen soziale Verbesserungen. Den Wunsch nach Vermögenssteuer nannte sie keifend „Sozialismus“, einen Antrag auf Abschaffung von Sanktionen gegen Hartz-IV-Bezieher bezeichnete sie als „Angriff auf die Leistungsgerechtigkeit“. In ihrem Parteiprogramm plädiert sie für das Aus von Vermögens- und Erbschaftssteuer sowie Pflichtarbeit für Erwerbslose zum Preis der Sozialhilfe. Ein Ja zum Mindestlohn – ohne Angabe einer Höhe – fand erst den Weg in selbiges nach massiver Kritik aus der Basis.

Zwecks Wählerstimmen versucht der Höcke-Flügel zunehmend, der AfD ein soziales Profil zu verpassen. Für 2019 hat er einen gesonderten Sozialpolitik-Parteitag der AfD durchgesetzt. Andere rechte Gruppierungen und Parteien, so auch die NPD, produzieren sich unter dem Slogan „Sozialstaat nur für Deutsche“ schon länger. Doch die ersten Gehversuche der AfD scheiterten am 1. September auf einer Konferenz des AfD-Kreisverbandes Märkisch-Oderland in Berlin kläglich.

Geredet werden sollte über den „überlasteten Sozialstaat“. Herausgekommen ist Gezeter gegen eine „linke Bagage“, „arbeitsscheue Lumpen“, „linke Gewerkschaften“. Und überhaupt: Es sei besser, den Sozialstaat weiter zurückzufahren, um „ausländische Schmarotzer“ loszuwerden, wie AfD-Fürsprecher Jürgen Elsässer ins Mikrofon raunte.

Und: Bloß nicht von oben nach unten umverteilen. „Wir sind schließlich keine Kommunisten!“ Nicht existente soziale Inhalte können also nicht der Grund sein, warum einfache Arbeiter die AfD wählen. Es ist die Sündenbockstrategie.

Ablenken vom Aggressor

Die Strategie ist einfach: Man separiert bestimmte Menschengruppen – „die Ausländer“, „die Moslems“, „die Araber“ – in „nicht zu unsereins“ gehörende Gruppen. Man schreibt ihnen allgemeine negative Eigenschaften zu: „Asylschmarotzer“, „Wirtschaftsflüchtlinge“, „Messerstecher“, „Kriminelle“. Um dies zu untermauern, sucht man von Personen der auszugrenzenden Gruppe begangene Delikte heraus, bauscht sie gezielt auf, während durch andere Gruppen begangene Straftaten verschwiegen werden. Schließlich trennt man die Anwesenheit der Geflüchteten vom Grund ihrer Flucht – Krieg, Elend, Imperialismus – und entmenschlicht sie. Bekannt ist eine ähnliche Strategie gegen Hartz-IV-Empfänger: „Sozialschmarotzer“, „Florida-Rolf“, „Faulpelze“, „Hartz-IV-Betrüger“, „selbst schuld“.

Letztlich gerät das allen Kapitalfraktionen zum Nutzen: Der Unterdrückte schaut nicht auf die Ursachen der Missstände. Er kommt nicht auf die Idee, sich mit seinesgleichen zu solidarisieren und seine Wut auf die wahren Aggressoren zu fokussieren – und entsprechend zu handeln. Denn letztendlich sind Erkenntnis und Solidarität der Anschub jeder Revolution. Einer Revolution, die an die ökonomischen Eigentumsverhältnisse geht. Die das Potential hätte, die profitgetriebene, mörderische „Megamaschine“ zu stoppen. Denn allein mit deren Laufen steht und fällt die Macht der Kapitaleigner.

 

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Dank für den Tipp an den Rubikon, www.rubikon.news, wo dieser Artikel zuvor erschienen ist.

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