Das Quaken der Frösche im Teich

 In FEATURED, Gesundheit/Psyche, Politik (Inland)

Corona-Tagebuch, Teil 21. Was haben Frösche, das Gundermann-Kraut, die Philosophie Hegels, das “Soziale Kreditsystem” Chinas und die Anarchie gemeinsam? Antwort: Sie alle sind Gegenstand der höchst anregenden Betrachtungen Götz Eisenbergs. Corona hat eine Tendenz zur Überanpassung in der Gesellschaft hervorgebracht. Zwischen bedingungslosem Gehorsam und kindlichem Leichtsinn schienen die Menschen keinen rechten Ausgleich zu finden. Vielfach sind die Maßnahmen der Regierungen zur Erweiterung ihrer Machbefugnisse vorhersehbar. Ebenso die Scheinbegründungen, die sie dafür angeben. Vorhersehbarkeit, Kontrollierbarkeit sind im Grunde lebensfeindliche Bedürfnisse. So lange es in einem Gemeinwesen noch Leben gibt, gibt es auch Überraschungen. Der Weg des sensiblen Beobachters ist in diesen Zeiten oftmals einer, der in die Vereinzelung führt. Die aufmerksame Wahrnehmung der Natur hilft, im besten Sinne “zu sich” zu kommen. Götz Eisenberg

„Er glich dem Blatt, das ein Knabe mit der Rute vom Zweig herunterschlägt, weil es ihm als Vereinzeltes auffällt.“ (Robert Walser)

Ich sitze auf meinem angestammten Baumstamm und lese. Vor mir gründeln nun zwei Schwäne. Die Jungen scheinen geschlüpft und die Schwanenmutter, vom Brüten befreit, kann sich endlich wieder bewegen und selbst versorgen. Wie auf ein geheimes Signal hin fangen plötzlich die Frösche an zu quaken, alle auf einmal. Sie veranstalten ein unglaubliches Konzert. Ebenso unvermittelt, wie es begonnen hat, hört es auch wieder auf, und es ist danach plötzlich umso stiller. Wann bekommen die Küken den ersten Schwimmunterricht? Mitunter transportieren Schwanenmütter ihre Jungen zunächst eine Weile auf ihrem Rücken, um sie an das neue Element zu gewöhnen.

Ich verbringe die wunderbaren Frühlingstage draußen. Gestern bin ich fünf Stunden gewandert und dabei nur sechs Menschen begegnet. In einer Wiese, durch die ein Bach mäandert, habe ich Sauerampfer entdeckt und gepflückt. Nach einer guten halben Stunde hatte ich genug beisammen, um eine Suppe daraus zubereiten zu können. Das ist eine echte Delikatesse. Ich lebe im Moment weitgehend von Sachen, die ich draußen finde. Am Wochenende gab es eine grüne Soße – nur aus Kräutern zubereitet, die ich am Samstag auf Wiesen und im Wald geerntet habe: Brennnessel, Giersch, Taubnessel, Löwenzahn, Bärlauch, Spitzwegerich, Sauerampfer, Gundermann, Pimpinelle, Knoblauchrauke. Die meisten dieser Kräuter hat mir mein Vater gezeigt, als ich ihn als Kind abends oder am Wochenende auf seinen Gängen durch Feld und Wald begleitete. „Kein Buch (und keine CD oder DVD, G.E.) kann lehren“, hat Italo Calvino einmal gesagt, „was man nur aIs Kind lernen kann, wenn man ein waches Ohr und ein waches Auge für den Gesang und den Flug der Vögel hat und wenn jemand da ist, der ihnen prompt einen  Namen zu geben weiß.“ Anders als eine technikfixierte Roboter-Pädagogik Glauben machen will, lernen Kinder ja anfangs ihren Eltern zuliebe. Und wenn die Übertragung gelingt, später auch den Lehrerinnen und Lehrern zuliebe. Es muss Zuneigung im Spiel sein, wenn Lernen gelingen soll. Erst später löst sich Lernen von dieser libidinösen Einbindung ab und versachlicht sich.

Ein Freund von mir hat ein Theaterstück über den DDR-Liedermacher Gundermann geschrieben und inszeniert. Ihm hatte ich letztes Jahr zur Premiere einen Topf mit einer Gundermann-Pflanze geschenkt. Jedenfalls nahm ich das an. Später stellte sich heraus, dass ich ihn verwechselt hatte und es irgendeine Rauken-Art gewesen ist, aber kein Gundermann. Nun habe ich meinen Fehler korrigiert, und Christian hat sich gestern eine Gundermann-Pflanze ausgegraben. Einstweilen hat er sie in den Hof gesetzt, aber er hofft, dass der Topf im Laufe der nächsten Monate den Weg auf die Bühne findet. Theater findet ja im Moment nicht statt, worunter der Freund, der als freier Regisseur und Schauspieler arbeitet, zu leiden hat. Nicht nur aus pekuniären Gründen. Dass sein Gundermann-Stück vor der Corona-Unterbrechung nur drei Mal aufgeführt wurde, ist ein Jammer. Wie viel Mühe und Arbeit und Lust steckt in einer solchen Inszenierung! Und nun soll plötzlich alles für die Katz gewesen sein?

Jetzt werde ich mein Rad besteigen und ein bisschen aus der Stadt raus fahren. Ich lese ein tolles Buch, das mir neulich ein aufmerksamer Zeitgenosse in den Briefkasten geworfen hat. Es stammt von Neil Ansell und heißt Tief im Land – Meine Jahre in den Wäldern von Wales. Ein zeitgenössischer Thoreau, wenn man so will. Der Absender hatte dem Buch ein Begleitschreiben beigefügt, in dem er mich bat, das Buch an Jürgen Roth weiterzuleiten, der kurz zuvor in Gießen aus seinem inzwischen bei Zweitausendeins erschienenen Kiebitz-Buch gelesen hatte. Sogar einen frankierten Umschlag hatte er dazu gelegt. Jürgen kannte und besaß das Buch bereits, und ich fragte den Spender, was ich nun mit dem Buch tun solle. Wenn ich es noch nicht kennte, könnte ich es behalten und lesen. Er würde sich freuen. Nun habe ich es endlich getan und nicht bereut. Ein Buch voller liebevoller Natur- und vor allem Vogelbeobachtungen. Neil Ansell hat fünf Jahre in einem aufgelassenen Cottage ohne Strom und fließendes Wasser gelebt. Und, wie Thoreau, fern der Menschen. Einmal spricht er mit einem Nachbarn über Füchse und fragt ihn, ob er diese für Schädlinge halte. Er antwortete: „Nein, Füchse sind keine Schädlinge, sie waren zuerst hier. Der Mensch ist der Schädling.“

Am Abend habe ich die arte-Doku Überwacht: sieben Milliarden im Visier gesehen. Eine Horror. Der Erfinder des Sozialen Kreditsystems, Professor Zhang Zheng aus Peking, kommt zu Wort und verspricht den Filmleuten vom Sender arte: „Mit dem Sozialen Kreditsystem hätte es keine Gelbwesten-Bewegung gegeben. All das ließe sich verhindern!“ Das Soziale Kreditsystem entwickelt sich zum Exportschlager. China exportiert es in zahlreiche Länder, die ein Interesse an der totalen Überwachung ihrer Bevölkerung haben. Und welche Regierungen hätten das nicht? Auch einige europäische Länder sollen unter den Interessenten sein.

Dass etwas so kommt, wie man es vorhergesehen hat, zeugt nur davon, wie berechenbar und verdinglicht alles ist. Menschliches Verhalten ist in dem Maße vorhersehbar, wie es der Entfremdung unterliegt. Wären Menschen frei, gäbe es wahre Spontaneität und unvorhersehbare Entwicklungen. Für Bakunin bedeutete, Anarchist zu sein, gegen die Kausalität zu sein. Er sagte, es komme darauf an, den Dingen und den Verhältnissen die Kausalität entziehen. Der freie Wille, auf den Bakunin setzte und hoffte, beginnt erst jenseits der Bedingtheit. Ich spiele damit auf meine in Teil 20 vorgetragene These an, dass es offenbar keinen halben Ausnahmezustand gibt. Die Leute haben als brave Staatswichtel anfangs staatlichen Anweisungen gehorcht, der Appell an ihre Vernunft und Selbsttätigkeit nach der partiellen Lockerung des Lockdowns überfordert sie. Sie gehorchen, oder sie schlagen über die Stränge. Beides ist, psychisch gesehen, gleich infantil. Etwas Drittes, Erwachsenes kennen und können sie nicht. Das Dritte wäre ein Befolgen der Regeln aus Einsicht in ihre Vernünftigkeit. Recht zu behalten mit einer Vorhersage, ist keine wirkliche Genugtuung. Der frühe Max Horkheimer schrieb: “Der Eintritt von Verhältnissen, die aus dem Begriff abzulesen sind, legt dem Idealisten das Gefühl der Befriedigung, dem historischen Materialisten eher das der Empörung nahe.”

Im Hegel-Jahr 2020 (Hegel kam vor 250 Jahren, am 27. August 1770 in Stuttgart zur Welt) möchte ich eine Passage aus Camus‘ Tagebuch 1951 – 1959 zitieren, in der er Kierkegaard und Hegel sich indirekt begegnen lässt und über die ich herzliche lachen musste, als ich sie zum ersten Mal las: „Kierkegaard stieß Hegel gegenüber eine furchtbare Drohung aus: ihm einen jungen Mann zu schicken, der ihn um Ratschläge bittet.“

Soll, muss ich diesen spöttischen Eintrag kommentieren? Nur soviel: Kierkegaard hat Hegel zeit seines Lebens dafür kritisiert, dass seine Philosophie in die Niederungen des wirklichen Lebens nicht hineinreicht. In den lichten Höhen des „absoluten Geistes“ kommen die Nöte eines pubertierenden Jünglings nicht vor. Michel Onfray beginnt seine Camus-Biographie Im Namen der Freiheit mit einer Interpretation dieses Tagebucheintrags. Er stellt dort die an den existentiellen Nöten der Menschen orientierte dänische der preußischen Art zu philosophieren gegenüber, die die Wirklichkeit auf Begriffe reduziert und gewissermaßen von oben herabsteigt. Leider ist die Ignoranz gegenüber dem alltäglichen Leben und der empirischen Wirklichkeit der Menschen auf den Marxismus übergegangen. Paul Nizan, den Camus gelesen und geschätzt hat, schrieb in einem seiner frühen Aufsätze: „Die Philosophie muss begreifen, dass es nicht nur den homo faber und den homo sapiens, den homo phenomenon und den homo nooumenon … gibt, sondern auch den Hilfsarbeiter mit dreißig Francs am Tag und den Monsieur, der an den Champs-Elysées wohnt, das Mädchen aus dem 13. Arondissement, das auf seine Monatsregel wartet.“ Die an Hegel orientierte linke Theorie ist unfähig, das wirkliche Leben dieser Menschen zu beschreiben, die Verschiedenheit ihrer Träume, ihrer Sehnsüchte, die verschiedenen Gerüche ihrer Viertel, ihre Redensarten, ihre Krankheiten, ihren Liebeskummer und ihre Todesangst. Nichts kann die gelebte Erfahrung eines jeden dieser Menschen ersetzen, und wenn es uns, den Linken, nicht endlich gelingt, die Alltagswelt beredt werden zu lassen, ist unser Zug endgültig abgefahren.

Ein Redakteur der hiesigen Tageszeitung, für die ich einmal im Monat eine Kolumne schreibe, bezichtigt mich wegen meiner dort vorgetragenen Kritik der Digitalisierung der Technikfeindschaft.  Für ihn gehört die Technik nur in die richtigen Hände, und schon würde sie zu einem Segen für die Menschheit. Ich sei in seinen Augen ein Romantiker. Ich nehme diesen Vorwurf als Lob. Technische Entwicklungen sind in meinen Augen nicht neutral und für alle Zwecke offen, sondern sie stehen von vornherein im Dienst der Profitproduktion und der Absicherung von Herrschaft. Dieser Zweck ist ihnen strukturell eingeschrieben und sie können ohne gravierende Änderungen nicht in den Dienst der Befreiung treten. Gegenwärtig bedeutet Technik Vernichtung und Krieg, egal in welcher politischen Hand. Die arte-Dokumentation Überwacht: sieben Milliarden im Visier, die sich mit der Digitalisierung und dem chinesischen Projekt eines Sozialen Kreditsystems beschäftigt, hat mich in dieser Sicht der Dinge bestätigt.

Wenn ich solcher Kritik ausgesetzt bin – und das bin ich relativ oft – fällt mir häufig ein Satz von Robert Walser aus seinem Roman Der Räuber ein: „Er glich dem Blatt, das ein Knabe mit der Rute vom Zweig herunterschlägt, weil es ihm als Vereinzeltes auffällt.“ Zeitlebens, also schon lange, bevor ich auf diesen wunderbaren Walser-Satz stieß, fürchte ich, dieses Blatt zu sein. Der Satz beschreibt mein Lebensgrundgefühl.

 

Kommentare
  • Volker
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    Zur Schwanenmutter: Kreuzfahrtschiffe funktionieren ähnlich, tragen auf Rücken tausende Touris über’s Wasser, weil zu faul zu schwimmen.

    Ich lebe im Moment weitgehend von Sachen, die ich draußen finde.

    Da muß man sich aber gut auskennen, steht ja nirgends geschrieben, ob ungiftig oder nicht. Nach Tschernobyl und Fukushima weiß man eh nicht, ob Kraut und Pilz heimlich strahlen. Wanderer pflückt Wiesenchampignons und wird high davon – dank Atomkraft.
    Andere wandern durch Städte, finden Sachen in Containern, allemal für ein Süppchen gut. Man lebt ja bescheiden.

    Anders als eine technikfixierte Roboter-Pädagogik Glauben machen will, lernen Kinder ja anfangs ihren Eltern zuliebe

    Ja. Eltern freuen sich riesig meist, wenn Kinder alles auf einmal wissen wollen, wieso Regen nass …  und so Sachen. Nach vierundzwanzig Stunden Homeschooling allerdings, drehen sie am Rad, flippen aus und traumatisieren Wissensdurst. Du fragst mir Löcher in den Bauch, zappel nicht so, mehr fällt denen nicht mehr ein dazu. Voll genervt darüber, dass Kinder blöde Fragen stellen, für die man dumme Antworten benötigt. Beispielsweise: Lern erstmal was anständiges mit Smartphone …
    Kein Kind möchte mit Schuldgefühlen aufwachsen, Löcher in Eltern gefragt zu haben, fragt lieber sprechende Puppe Anna, wie man elternschonend Fragen stellt, ohne als Nervensäge zu gelten. Kannst du nicht mal…

    »Anna Buppa … Witter mi Zappeli … burum? …«

    »Bubi, Deine Anfrage konnte nicht beantwortet werden.«

    »… bäääääääääähhhhhhh … mummi mumma … äääääääähhhhhhhhh …«

    »error«

    »…duuf buppa du«

    (…) und wenn es uns, den Linken, nicht endlich gelingt, die Alltagswelt beredt werden zu lassen, ist unser Zug endgültig abgefahren.

    Alltagswelt der Alltäglichen mit links meistern?

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