Das Schreiben der Hoheit – ein Märchen (1/3)

 In Allgemein, Kurzgeschichte/Satire, Roland Rottenfußer

Flagellanten, Holzschnitt 1493

„Eines Tages erhielt R., ein einfacher Mann aus dem Volk, Schreiner von Beruf, ein Schreiben der höchsten Majestät des Landes. Ein Bote klopfte an der Tür und überbrachte es, eindeutig ausgewiesen durch das kaiserliche Siegel. Der Brief, den R. andächtig und voll erregter Spannung entrollte, enthielt eine Vorladung, der Adressat möge sich unverzüglich am Kaiserhof einfinden, wo die Hoheit mit ihm zu sprechen wünsche. Verständlicherweise war R. sehr besorgt und fragte sich, was eine solch hochgestellte Person von ihm wolle, denn ein Anlass für die geforderte Unterredung war im Brief nicht angegeben. R. war sich keiner Schuld bewusst, er konnte sich aber auch nicht vorstellen, dass die Hoheit ohne Grund nach ihm hatte schicken lassen, und so durchwühlte er sein Gedächtnis nach Gründen, warum er möglicherweise in Ungnade hatte fallen können.“ Eine Erzählung von Schuld, Sühne und Vergebung. Ähnlichkeiten mit real existierenden Religionen wären rein zufällig. (Roland Rottenfußer)

Eines Tages erhielt R., ein einfacher Mann aus dem Volk, Schreiner von Beruf, ein Schreiben der höchsten Majestät des Landes. Ein Bote klopfte an der Tür und überbrachte es, eindeutig ausgewiesen durch das kaiserliche Siegel. Der Brief, den R. andächtig und voll erregter Spannung entrollte, enthielt eine Vorladung, der Adressat möge sich unverzüglich am Kaiserhof einfinden, wo die Hoheit mit ihm zu sprechen wünsche. Verständlicherweise war R. sehr besorgt und fragte sich, was eine solch hochgestellte Person von ihm wolle, denn ein Anlass für die geforderte Unterredung war im Brief nicht angegeben. R. war sich keiner Schuld bewusst, er konnte sich aber auch nicht vorstellen, dass die Hoheit ohne Grund nach ihm hatte schicken lassen, und so durchwühlte er sein Gedächtnis nach Gründen, warum er möglicherweise in Ungnade hatte fallen können.

Je mehr R. so forschte und grübelte, desto mehr musste er zu seinem Schrecken eingestehen, dass seine Weste gar nicht so weiß war, wie  ursprünglich angenommen. Plötzlich  fiel ihm ein, dass er seinem Nachbarn, dem Müller, einen an der Unterseite fehlerhaft mit dem Bein verbundenen Tisch verkauft hatte – einen Makel , den er in der Eile durch ein größere Mengen billigen Leims zu vertuschen gesucht hatte. Er hatte wohl darauf spekuliert, dass der ungeschickte Müller nicht so genau hinsehen würde und er hatte das Geld dringend und sofort gebraucht. Außerdem erinnerte sich R. mit Scham daran, dass er im Wirtshaus im trunkenen Zustand oft gegenüber seinen Trinkkameraden ausfällig  geworden war. Der Junggeselle entlarvte sich zudem selbst als haltlosen Lüstling, der den Frauen des Dorfes, auch verheirateten, nachsah und mit ihnen im Geheimen wollüstige Fantasien verknüpfte. Noch schlimmer allerdings – und bei diesem Gedanken lief R. der Angstschweiß von der Stirn – waren seine fortgesetzten Lästerworte gegen die Hoheit selbst, die er leichtfertig und unter Alkoholeinfluss bisweilen auszustoßen gewagt hatte. Wären diese der Majestät zu Ohren gekommen, so seien  die Tage seines Erdendaseins wohl gezählt. Dergleichen würde der hohe Herr nimmermehr verzeihen können.

Wie bei einem Vogelschwarm die Bewegung des einen Tieres immer zugleich viele weitere in die gleiche Richtung zu ziehen scheint, so folgte in R.s Gedanken nunmehr eine peinliche Erinnerung auf die andere. Ein Schuldvorwurf hefte sich an den nächsten, bis der Himmel seines Gemüts von dem Schwarm ganz verdüstert schien und kein Sonnenlicht mehr durchdrang. R. entschloss sich zunächst, einige Zeit abzuwarten, denn präzise war die Zeit, zu der er sich bei Hofe einzufinden hatte, nicht bestimmt, und „unverzüglich“, das konnte man so oder so deuten. Sicher würde ja der Kaiser, wenn sich R. auf dem schnellsten Weg zu ihm begäbe, bald das Abendessen einnehmen und ein wenig ruhen wollen. Es wäre also schon deshalb angezeigt, seinen Besuch wenigstens bis zum nächsten Morgen aufzuschieben. Dieser Aufschub hätte auch den Vorteil, dass sich der Angeklagte gedanklich angemessen auf die zu erwartenden Anwürfe der Hoheit vorbereiten und diesbezügliche Verteidigungsstrategien ausarbeiten konnte.

In der darauffolgenden Nacht aber tat R. wegen der angst- und schamerfüllten Gedanken, die ihn jagten, kein Auge zu. Und als der Morgen anbracht, fühlte er sich dermaßen matt und ausgelaugt, so zu Boden gedrückt durch die auf ihm lastende Bedrohung, dass er sich außerstande sah, sofort der Aufforderung des Kaisers nachzukommen. Freilich bedachte er wohl, dass die Verspätung sein ohnehin schon beträchtlich angeschwollenes Schuldkonto noch um einen weiteren Posten erhöhen würde, doch überwog schließlich das Argument, dass bei einem Verbrecher seines Formats wohl  eine einzige weitere Verfehlung kaum mehr ins Gewicht fallen könne. Es wäre, als würde man einen einzigen,  schmutzigen Wassertropfen einer Waschwanne voll trüber und stinkender Brühe hinzufügen. Immerhin konnte sich R., solange noch Unklarheit über den Grund und das Ausmaß seiner Schuld bestand, Hoffnung machen, dass die eine oder andere seiner Verfehlungen vom Kaiser unentdeckt geblieben wäre. Und er konnte noch eine Weile von Begnadigung träumen, die freilich in einem so schwerwiegenden Fall wie dem seinen völlig unverdient auf ihn herabregnen würde. In dem Augenblick, in dem er sich dem Urteil der Majestät und damit der grausamen Realität stellte, konnten  all diese schönen Fantasien wohl in der Zeit eines Wimpernschlags zerplatzen. Also wartete R. weiter ab, erlitt jedoch mit jeder verstreichenden Stunde gesteigerte Seelenqualen. Denn schließlich konnte der Kaiser, mit Recht unwillig geworden angesichts eines solchen Abgrunds an Ungehorsams, jederzeit den Delinquenten von Wachen aus seiner Werkstatt oder aus dem Bett zerren lassen und seiner verdienten Strafe zuführen.

So empfand es R. nach der dritten schlaflos zugebrachten Nacht geradezu als Erleichterung, als sich ihm die Möglichkeit bot, seinem besten Freund, dem Schuster E. sein Leid anzuvertrauen. E. reagierte bei allem durchaus verständnisvoll, aber auch seine Stirn furchten schwere Sorgen in Anbetracht der Überlebenschancen eines Freundes, über dem die Drohung einer derart schweren Anklage schwebte. E. empfahl R. deshalb auf das Dringendste, den Mittler, Huldbrand Löblich, aufzusuchen – einen Mann, dem der Ruf vorauseilte, mit dem Kaiserhof in einem besonders engen Verhältnis zu stehen. Mittler, von denen es über das Land verteilt einige dutzend im Kaiserreich gab, rühmten sich ihrer intimen Kontakte zum Hof, ja zur Person der Majestät selbst und versicherten glaubwürdig, den hoheitlichen Willen und deren Ansichten zu bestimmten Alltagsfragen auf das Genaueste vorhersehen zu können.  Manche behauptete sogar, von einem Mittler Antwort zu bekommen, sei gleichbedeutend mit einem Bescheid von allerhöchster Stelle. Mittler erboten sich auch gelegentlich gegen ein kleines Entgelt, bei der Hoheit  selbst für das Anliegen des Bittstellers einzutreten – oftmals mit Erfolg, wovon eine Reihe von überaus ermutigenden Erzählungen zeugte.

Herr Löblich war ein Mann von dürrer, ja geradezu asketischer Körperform. Die Finger glichen an einigen Stellen verdickten Reisichzweigen, die Gesichtshaut einem dünnen, gelblichen Teig, der über einen Totenkopf gespannt war.  Der Mittler war ganz in einen schwarzen, sackartigen Kaftan gehüllt. Über dem lippenlosen Mund blickten die großen Augen ihr Gegenüber mit bohrender, vorwurfsvoller Intensität an. „Ich kann Ihnen in einem solch schwerwiegenden Fall wie dem Ihren nicht zu viel Hoffnung auf Begnadigung machen; aufgrund meiner engen Bekanntschaft mit dem Allerhöchsten und meiner außerordentlichen Erfahrung damit, wie der kaiserliche Zorn wenn nicht völlig besänftigt, so doch abgemildert werden kann, will ich es jedoch auf mich nehmen, in Ihrem Fall vorstellig zu werden.“ Er nannte eine hohe Geldsumme, die R.  Zähne knirschend, aber in Anbetracht der Bedrohungslage doch schließlich bereitwillig zu zahlen versprach.

Dann erklärte der Mittler, dass er befugt sei, Bescheinigungen über erbrachte Bußleistungen auszustellen, die bei Hofe als Beweis für die tätige Reue eines Beklagten durchaus Eindruck machen konnten. Wenn auch die letzte Entscheidung über eine mögliche Begnadigung, so beeilte sich Löblich hinzuzufügen, allein beim Kaiser lag, dessen Gnade oder Ungnade wie das Wetter völlig unvorhersehbar sei und durch keine noch so große Anstrengung seitens des Delinquenten erzwungen werden könne. Ja, es käme geradezu einer Beleidigung der Majestät und ungehöriger Unterschätzung seiner Machtbefugnis gleich, wollte man sich einbilden, es bestünde ein zwingender Zusammenhang zwischen der Intensität einer Bußleistungen und einer möglichen Begnadigung. Freilich könne er, Huldbrand Löblich, nicht umhin, dringend den Erwerb möglichst vieler und gewichtiger Bußbescheinigungen zu empfehlen, da man mit diesen zwar nicht mit Sicherheit, ohne sie aber mit Sicherheit nicht auf Begnadigung hoffen konnte. Sein Eingreifen als Mittler werde daher nicht zu Unrecht von vielen Bürgern als die letzte Bastion angesehen, die einen in Schuld Gefallenen noch vor der Auslöschung bewahren könne.

Herr Löblich brachte den Bittsteller nach diesem Gespräch also unverzüglich in einer der in seinem Keller befindlichen Bußzellen unter, wo dieser ohne Sonnenlicht, auf hartem Steinboden und bei karger, gerade lebenserhaltender Kost dahinvegetieren musste. Bald schon wurden dem Büßenden der eigene Gestank und der seiner Mitgefangenen zur größten Plage. Beschimpfungen untereinander, bei denen die Leidensgefährten einander gegenseitig ihrer Verbrechen bezichtigten und  jeder sich selbst als den aussichtsreicheren Bewerber um kaiserliche Gnade hervorhob, waren im Kerker die Regel. Hinzu kam, dass die Gefangenen mehrmals täglich gerufen wurden, um dutzende von Peitschenhiebe, ausgeteilt durch den Mittler selbst, in Empfang zu nehmen. Diese qualvolle Prozedur, die sich Löblich extra bezahlen ließ (gerechnet nach der Anzahl der Hiebe), erklärte er für in besonderem Maß bußwirksam. Bald schon war der Rücken R.s nicht nur von blutigen Striemen bedeckt, er war eine einzige, entzündete Wunde aus bloßgelegtem Fleisch. Die Schmerzensschreie des Büßers vermischten sich des Nachts mit denen seiner Mitgefangenen zu einem schaurigen Chor, und der nach Erlösung Verlangende konnte sich nirgendwo auf dem Kerkerboden mehr niederlegen, -setzen oder -kauern, ohne dass die entsetzlichsten Schmerzen jede seiner Körperhaltung zur Qual machten.

Mehr als alles andere quälte den Gefangenen jedoch die Sorge, alle Bemühungen und Entbehrungen könnten nicht ausreichen, um bei Hofe als strafmildernd angesehen zu werden. „Es gibt keine Art und Weise, wie du dich der Gnade der Majestät als würdig erweisen könntest. Selbst mit einem Turm aus Bußbescheinigungen erreichtest du doch niemals auch nur den Saum seines Mantels“, pflegte Löblich seinen Schützlingen einzuschärfen. „Eines aber kann den gerechten Zorn der Hoheit vielleicht dämpfen: Es ist das uneingeschränkte und demütige Eingeständnis deiner Unwürdigkeit.“  R. hatte immer versucht, sich die Hoheit vor seinem inneren Auge vorzustellen. Bilder von ihr waren ja nirgends in Umlauf, und auch auf der Straße hatte sich die höchste Machtinstanz des Landes ihrem Volk nie gezeigt. R. stellte sich immer einen bärtigen, älteren Herrn vor, der in dicke, muffige und sehr kostbar bestickte Gewänder gekleidet war, an den Fingern pflaumengroße Edelsteine und auf dem Kopf eine Krone, die so hoch war, dass sie, während ihr Träger ging, an der Decke des Thronsaals entlang kratzte. Vor allem aber musste der Kaiser einen strengen, erbarmungslosen, ja durchbohrenden Blick haben, der den ihm Unterworfenen seine Niedrigkeit bis in die Zehenspitzen hinein fühlen ließ.

Als R. schließlich in ein schweres Wundfieber verfiel und dem Tode nahe schien, ließ ihn Herr Löblich auf eine eigens dafür eingerichtete Krankenstation bringen und trug eine Heilsalbe auf seinen von Schlägen und Entzündungen verwüsteten Rücken auf. Der frühzeitige Tod eines Delinquenten, so Löblich, würde zwar in vielen Fällen eine ohnehin unvermeidliche Hinrichtung nur vorwegnehmen, aber die – wenn auch äußerst geringe – Hoffnung auf Begnadigung wäre damit eben auch zunichte gemacht. Er empfehle R. also, seine Genesung mit Hilfe einer diesem Zweck dienlichen positiven Einstellung voranzutreiben, denn eine längere Lebenszeit sei eben auch Zeit, in der er weitere Bußbescheinigungen erwerben und das schmale Reservoir seiner Resthoffnung etwas – wenn auch kaum im erforderlichen Umfang –  erweitert konnte.

Bald nach seiner Genesung und nachdem der mittlerweile bis auf die Knochen abgemagerte R. eine erste, schmerzhafte Salve von Peitschenhieben auf den frisch vernarbten Rücken empfangen hatte, suchte ihn Herr Löblich in seiner Zelle auf und verkündete ihm überraschend, dass er diese sofort für einen anderen Bußwilligen zu räumen hätte. Es seien in jüngerer Zeit sehr viele Schreiben des Kaisers bei einfachen Bürgern eingetroffen, was die Nachfrage nach Bußplätzen habe explodieren lassen. Herr Löblich habe zwar die Absicht, in mehreren Städten des Landes Bußfilialen zu eröffnen, damit diese segensreiche Dienstleistung möglichst vielen Beklagten würde zuteilwerden können. Aber solange der Ausbau dieser Filialen nicht vollendet sei, müssten für nachrückende Bußwillige eben die „Altfälle“ weichen, Subjekte, die schon etliche Bußmonate absolviert und eine beachtliche Menge von Bußbescheinigungen angesammelt hätten. Eine Begnadigung durch die Majestät sei zwar auch für diese Personen praktisch ausgeschlossen, jedoch immer noch um einiges weniger ausgeschlossen als bei den Bußanfängern, die nun auf dem Tiefpunkt ihrer moralischen Verwerflichkeit in die frei gewordenen Zellen einziehen mussten. R., so schloss Huldbrand Löblich, möge nun mit seinem Stapel Bußbescheinigungen, ohne viel Hoffnung, jedoch gefasst seinem sicheren Untergang entgegensehend, bei der Hoheit vorsprechen.

(Den zweiten Teil dieses Märchens lesen Sie morgen auf dieser Seite.)

 

Buchtipp zum Thema „Schuld“: Monika Herz, Roland Rottenfußer: Schuldentrümpelung. Wie wir uns von einer erdrückenden Last befreien. Goldmann Verlag, 256 Seiten, 9,99 €

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