Das Schreiben der Hoheit – ein Märchen (3/3)

 In Allgemein, Kurzgeschichte/Satire, Roland Rottenfußer

„Eines Tages erhielt R., ein einfacher Mann aus dem Volk, Schreiner von Beruf, ein Schreiben der höchsten Majestät des Landes. Der Brief, den R. andächtig und voll erregter Spannung entrollte, enthielt eine Vorladung, der Adressat möge sich unverzüglich am Kaiserhof einfinden, wo die Hoheit mit ihm zu sprechen wünsche. Verständlicherweise war R. sehr besorgt und fragte sich, was eine solch hochgestellte Person von ihm wolle, denn ein Anlass für die geforderte Unterredung war im Brief nicht angegeben. R. war sich keiner Schuld bewusst…“ Eine Erzählung von Schuld, Sühne und Vergebung. Ähnlichkeiten mit real existierenden Religionen wären rein zufällig. Die ersten beiden Teile dieses Märchens können Sie weiter unten auf dieser Seite nachlesen. (Roland Rottenfußer)

Als R. aufwachte, war ihm warm, und ein angenehmer Duft stieg in seine Nase. Die helle Fläche vor seinen Augen kam näher, und als er deutlicher sehen konnte, verwandelte sie sich in das Gesicht einer Frau. Zu einem Entzücken erkannte R., dass es sich um eine ganz wunderschöne Frau handelte. Stell dir die schönste Frau vor, die du in deinem ganzen Leben gesehen hast und verdoppele, verdreifache, ja verzehnfache den Wert. Du wirst feststellen, dass ein derartiges Wesen eigentlich überhaupt nicht mehr vorstellbar ist. Man kann es – wenn überhaupt – nur so beschreiben, dass die vollkommenen Gesichtszüge der Frau überlagert und durchglüht waren von einem bezaubernden inneren Leuchten. Ihr bloßer Anblick tröstete und begütigte unsere Helden derart, dass alle Bekümmernis wie fortgewischt war von der Tafel seiner Seele.

„Bin ich etwa schon im Himmel?“, fragte R., dessen noch rauer Hals die Worte nur mühsam hervorbrachte. „Du bist ohnmächtig in einer Felsspalte gelegen, wo ich dich fand“, sagte die Stimme der wunderschönen Frau, die – wie man sich denken kann – klangvoller war als die schönste Musik. „Du warst schwer verletzt, den Tode nah. Aber niemand in meiner Obhut muss den Tod schmecken.“ R. sah sich nun um und gewahrte, dass er in einer einfachen Berghütte auf einem Lager aus weichen Blättern lag. „Warum wolltet Ihr mir helfen?“, stieß der Genesende hervor. Statt einer Antwort berührte ihn die wunderschöne Frau am Arm. Ströme pulsierender Wonne durchflossen da seinen ganzen Körper wie ein Segen, der selbst die letzten Spuren von Zweifeln und Missbehagen von ihm fortwuschen. „Warum bist du denn nicht gekommen?“, fragte die wunderschöne Frau. „Ich habe doch schon so lange auf dich gewartet.“ Und sie beugte sich zu ihm vor, dass er ihren Atem wie einen Frühlingshauch schmecken konnte. Und sie küsste ihn, und ihr Kuss war unbeschreiblich süß.

„Wer seid ihr?“, fragte R., vor Verwirrung nur fähig zu stammeln. „Ja weißt du das denn immer noch nicht, du dummer Mann?“ erwiderte die wunderschöne Frau lächelnd. „Ich bin die Hoheit, die dich gesucht hat.“ R. erhob sich mit einem Ruck von seinem Bett und fiel völlig überwältigt auf die Knie. Die Angst vor Bestrafung erhob sich in seinem Herzen noch einmal wie ein zuckendes Flämmchen, bevor sie ganz und für immer erlöschen sollte. Denn der Blick der wunderschönen Frau, ihre Aura von Güte und Seelenwärme, in die R. eingetaucht war wie in eine betörende Duftwolke, schloss jeden Gedanken an Vorwurf und Strafe völlig aus. „Die Hoheit – aber bist du denn kein Mann?“ vermochte er noch zu sagen. „Ich habe nie behauptet, ein Mann zu sein. Ich weiß, viele denken das, aber das bilden sie sich nur ein. Vielleicht bin ich für jeden, was er am meisten vermisst und was zu lieben ihm am leichtesten fällt.“

„Und du bist nicht gekommen, um mich zu strafen?“, fragte R., obwohl er die Antwort in seinem Herzen längst kannte. „Du hast mir also verziehen.“ „Nein“, antwortete die Frau, „es ist eher so, dass es nie etwas zu Verzeihen gab.“ „Aber warum dann? Und zu welchem Zweck hast du mir einen Brief geschickt, um mich an den Kaiserhof zu laden?“ „Oh du dummer, lieber Mann. Ich habe dich doch gerufen, um dir zu sagen, dass ich dich über alles liebe und immer lieben werde. Nur deshalb solltest du zu mir kommen: weil ich dich fragen wollte, ob du mich heiraten willst. Und statt dich zu freuen, bist du vor mir davongelaufen.“
R. kniete eine Weile sprachlos. Dann warf er ein: „Aber der Mittler, er sagte, dass du sehr streng wärst und dass man sehr harten büßen müsse, um deine Gnade zu erringen …“ Die wunderschöne Frau unterbrach ihn. „Ach der, das ist gar nicht mein Mittler. Er hat nie in meinem Namen gesprochen. Das hat er euch nur eingeredet.“ „Aber wie kannst du so sicher sein, dass wir uns immer lieben werden? Wir kennen uns doch noch gar nicht.“ „Da mache ich mir gar keine Sorgen, ich kenne dich schon sehr lange, und auch du kennst mich. Du liebst doch das Eichhörnchen und das Leberblümchen und das Murmeltier, und wer die liebt, der liebt in Wahrheit auch mich. In allem, was du liebst, liebst du auch mich, wie könntest du mir selbst gegenüber da kalt bleiben?“

„Nein“, sagte R. noch immer staunend vor Glück. „Ich kann dir gegenüber niemals kalt bleiben.“ Und die Kaiserin zog den Mann auf das Lager der kleinen Hütte, und das Lager war ein kostbares, weiches Bett, und die Hütte war ein Schloss, und sie versanken in einer süßen und trunkenen Liebesumarmung, die keine Ende mehr hatte.

 

– Ende –

Buchtipp zum Thema „Schuld“: Monika Herz, Roland Rottenfußer: Schuldentrümpelung. Wie wir uns von einer erdrückenden Last befreien. Goldmann Verlag, 256 Seiten, 9,99 €

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