Das Schweigen der Jugend
Gerade junge Menschen scheinen sich für autoritäre Ideen begeistern zu können — warum ist das so? Die Autorin gehört zu einer Generation, zu der sie manchmal nicht gehören möchte. Während sie immer davon ausgegangen war, es sei eine evolutionäre Aufgabe der 14- bis 25-Jährigen, als engagierte Anwälte des Neuen zu fungieren, es in die Welt zu tragen, sich gegen Autoritäten aufzulehnen und so die Gesellschaft progressiv zu verändern, scheinen sich die meisten dieser jungen Menschen heute für einen anderen Weg entschieden zu haben. Es ist nicht nur ein Weg des Gehorsams und des Desinteresses, vielmehr zeigt sich durchaus die Begeisterungsfähigkeit, die sonst für diese Altersgruppe typisch ist. Allerdings beruht dieser Enthusiasmus auf der wahnhaften Vorstellung von einer Überlegenheit der eigenen Gruppe und auf der strukturellen Ausgrenzung anderer. Es ist eine wiederauflebende Begeisterung für das Recht des Stärkeren. Wie kann das sein? Und warum weicht jugendliche Rebellion gerade in Zeiten des aufstrebenden Autoritarismus einer Tendenz zur blinden, fast fanatischen Regierungstreue? Madita Hampe
Junge Menschen sind meist noch wenig verbraucht von einer Welt, die sie gerade erst richtig kennenlernen, und somit durchaus in der Lage, die systemimmanenten, über Jahre gesellschaftlich etablierten Absurditäten und Ungerechtigkeiten als solche zu erkennen und sich zunächst einmal zumindest zu wundern über den Status quo. Stellen junge Menschen dann fest, dass auch ihre Eltern, Lehrer und andere Orientierungsfiguren nicht in der Lage sind, jene Ungereimtheiten zu erklären, wandelt sich ihre Verwunderung zunehmend in Ärger und Wut. Denn sie erleben, dass die Befragten sich ganz offensichtlich beim Versuch, ihr alltägliches Handeln zufriedenstellend zu begründen, zunehmend im Sumpf der eigenen Rechtfertigungsmechanismen verlieren.
Diese Erkenntnis ist der Nährboden für pubertäre Rebellion, die, insofern sie sich gesund entwickelt, zur politischen Selbstermächtigung führt. Die Ablösung von den Eltern als autoritäre Projektionsfläche findet nicht selten auf gesellschaftlicher Ebene und um gesellschaftliche Streitthemen herum statt. Gerade das ist für die Geburt souveräner, mündiger und aufgeklärter Bürger unerlässlich. Ganz offensichtlich ist derzeit in diesem Prozess etwas fundamental durcheinandergeraten.
Emotionales Aufbegehren
Am Anfang der politischen Willensbildung, im Idealfall mit 14 oder 15 Jahren, steht dabei ein sich entwickelndes, moralisches Bewusstsein, das vor allem von großer Emotionalität geprägt ist. Die Bereitschaft, sich mit bestehendem Unrecht, insbesondere dem Leid Schwächerer, abzufinden, ist gering. Schließlich sind die meisten Jugendlichen in diesem Alter selbst noch nicht ganz autonom, auf gewisse Weise immer noch klein und abhängig im Haushalt der eigenen Eltern. Somit identifizieren sie sich meist automatisch mit den Marginalisierten und Schwachen.
Ein jugendlicher Blick auf ein System ist immer auch ein Blick auf diejenigen, die von diesem System vergessen wurden.
Ihr Aufbegehren ist damit zwar unbequem für all jene, die sich, und sei es nur gezwungenermaßen, im Status quo eingerichtet haben, dennoch ist es gesellschaftlich sehr bedeutsam.
Gerade ihre ausgeprägte Emotionalität lässt Jugendliche in einem bestimmten Alter hoch ethisch denken und handeln. So zerfließen sie beim Anblick eines Obdachlosen, ertragen es nicht, ein gequältes Tier zu sehen, und sind tief erschüttert, wenn sie das erste Mal mit medialen Schilderungen großer menschlicher Tragödien in Berührung kommen. Sie speisen einen Großteil ihrer pubertären Wut auf Eltern und Autoritäten aus eben jenem Entsetzen über die Untätigkeit und die schlichte Hinnahme einer Welt mit so eklatanten Grausamkeiten. Diese Emotionalität und die daraus hervorgehenden Handlungen haben einen Wert an sich, auch wenn sie nicht auf rational begründeten moralischen Urteilen, sondern wesentlich auf Empfindungen beruhen. Gleichzeitig ist es genau diese Sensibilität, aus der sich in den folgenden Jahren mit wachsender intellektueller Kompetenz ein wirkliches moralisches Urteilsvermögen entwickelt.
Auf dem Weg zur Souveränität
Natürlich spielt auch das Gefühl, individuell begrenzt und bevormundet zu werden, in diesem Prozess eine wichtige Rolle. Der Wunsch nach Freiheit entspringt wesentlich dem Bedürfnis nach Autonomie. Eine Autonomie, für die der Jugendliche, nach eigenem Empfinden, absolut reif genug ist. Die Ablehnung der privaten Bevormundung durch die Eltern geht oft einher mit der Ablehnung politischer Fremdbestimmung. Deshalb sind junge Menschen auch eher in politisch linken, emanzipatorisch-progressiven Bewegungen zu verorten.
Der Drang nach Freiheit und Selbstbestimmung geht natürlich oft mit einem gewissen Größenwahn einher, der illusionären Annahme, man könne von allem und jedem unabhängig sein, und ist dennoch der erste Schritt auf dem Weg zu einem selbstständig denkenden und handelnden Erwachsenen. Die Erfahrung der persönlichen Emanzipation ist essenziell für die spätere politische Emanzipation. Es ist das Gefühl, allein lebensfähig zu sein, das einen zumindest aus der gedanklichen Abhängigkeit von den Herrschenden zu befreien vermag.
Rebellion ruft nie Begeisterung hervor bei denjenigen, die die Verantwortung tragen, weder private noch politische. Das ist völlig verständlich, schließlich hat man selbst all die Jahre über fremde Köpfe hinweg entschieden, im Idealfall nach bestem Wissen und Gewissen und zum Wohl der Betroffenen. Irgendwie funktioniert hat es ja, kein Grund also, nun plötzlich etwas grundlegend in Frage zu stellen, nur weil irgendjemand gerade zwei Härchen der Selbstbestimmung an sich entdeckt hat. Die pubertäre Rebellion verstärkt sich indirekt selbst und zwar durch die Ablehnung, die sie erfährt.
Junge Menschen haben sehr gute Ideen und treffen oft intuitiv moralisch sehr integre Entscheidungen. Dennoch müssen sie häufig resigniert feststellen, dass die Euphorie, die sie bei ihren „revolutionären“ Ideen erfasste, nicht ansatzweise auf die Vertreter des Status quo überspringt.
Dem anfänglich optimistischen Aktionismus vieler junger Menschen liegt die naive Vorstellung zugrunde, die Welt sei so absurd, so fehlerhaft, so ungerecht, weil bis jetzt noch niemand auf die Idee gekommen war, sie positiv zu verändern.
Die Tatsache, dass Generationen vor ihnen höchstwahrscheinlich genau das Gleiche gedacht haben, dringt gar nicht in ihr von einer innovativen Idee begeistertes Bewusstsein vor, zumindest so lange nicht, bis sie schmerzlich feststellen, dass die Kontinuität gesellschaftlicher Abläufe keineswegs durch das pure Infragestellen einer neuen Generation ins Wanken gerät.
Genau an diesem Punkt ergibt sich für einen hartnäckigen, klugen und kritischen Teil der Jugend die Möglichkeit, die Dynamik sich selbst verstetigender Machtstrukturen zu verstehen. Ist das geschafft, stehen dem jungen Menschen drei Möglichkeiten offen:
Er resigniert, gibt auf vor der übermächtig scheinenden Stabilität der Macht, passt sich an, begreift seinen verbleibenden Denkraum vielleicht noch als partielle Autonomie und verlagert seine geistig-moralische Entwicklung nach innen. Er wird militant, versucht mit allen Mitteln Lücken und Angriffspunkte im Netz autoritärer Strukturen zu finden, sie zu nutzen und gegen sie zu kämpfen. Er beginnt, eine eigene Haltung, eigene Werte und Ideale zu entwickeln, die er allein deswegen aufrechterhält, weil sie aus sich heraus die Entscheidung für ein integres Leben symbolisieren – ungeachtet seiner Chancen, andere zu überzeugen oder zu beeinflussen. Er erlangt somit wahre Souveränität, weil er sich weder einem System unterwirft, noch seinen Widerstand an ihm ausrichtet.
Auch wenn die dritte und letzte Möglichkeit wahrscheinlich die gesündeste ist, so hat der Jugendliche doch in allen drei Fällen ein wesentliches Maß an Persönlichkeitsentwicklung vollzogen.
Underdog-Mentalität und Konditionierung
Auf individueller Ebene, in der Beziehung zu den eigenen Eltern, hat dieser Konflikt ein natürliches Verfallsdatum: den 18. Geburtstag. Natürlich bleiben manche Menschen länger oder kürzer in Abhängigkeit zu ihrer Ursprungsfamilie, aber in der Regel endet der Kampf um Autonomie in dem Moment, in welchem dem jungen Menschen diese juristisch gewährt wird. Auf politischer Ebene gibt es keine Volljährigkeit, kein Datum, ab dem einem mündigen Bürger zustünde, nicht mehr fremdbestimmt regiert zu werden. Das Ringen um politische Souveränität der Bevölkerung hält ein Leben lang an. Hier bleiben viele junge Menschen auch nach Vollendung des 18. Lebensjahres in der Rolle des Rebellen.
Jeder, der dem System, in dem er sich befindet, vehement widerspricht, gerät in eine Art Underdog-Rolle. Seine Ansichten werden von der Mehrheitsgesellschaft nicht geteilt, und so sieht er sich gezwungen, nicht nur eine gewisse Unnachgiebigkeit an den Tag zu legen, sondern auch weitreichende intellektuelle Kompetenzen zu entwickeln. Schließlich müssen Haltung und Argumente akribischer, kritischer Prüfung, wenn nicht sogar Denunziation und Verleumdung standhalten. Es ist also gerade der Widerstand einer Gesellschaft gegen die Progressivität der Jugend, der dieser dabei hilft, die Verhältnisse, in denen sie lebt, noch besser zu verstehen, sich im politischen Diskurs zu verorten und die Diskrepanz zwischen ihren eigenen Idealen und der Realität des politischen Systems bewusst zu erfahren.
Genau das ist es, was heutzutage kaum mehr stattfindet; zumindest nicht in dieser Eindeutigkeit. Junge Menschen werden in ihren Bestrebungen für Veränderung seit einigen Jahren geradezu politisch hofiert und vereinnahmt. Man denke nur an die Reaktionen von allen Seiten des politischen Spektrums, mit Ausnahme des rechts-konservativen Flügels, auf die Klimabewegung von Fridays for Future bis Extinction Rebellion. Das Ganze mutete an wie eine Zwangsumarmung, die so schnell erfolgte, dass der Umarmte gar nicht richtig einschätzen konnte, wie ihm geschah — als junge Klimaaktivisten plötzlich nichts als Beifall erhielten von denjenigen, gegen die sich eigentlich ihre Anschuldigung der ökologischen Verantwortungslosigkeit richtete.
Im Handumdrehen standen ihre Forderungen in den Parteiprogrammen mehrerer im Bundestag vertretener Parteien und wurden durch mediale Überrepräsentation in die Mitte der Gesellschaft erhoben. Die sowieso auf wankenden Füßen stehenden großen Parteien hatten verstanden, dass sie es sich in keiner Weise leisten konnten, langfristig auf den Zuspruch einer ganzen Generation wahlberechtigter Bürgerinnen und Bürger zu verzichten. Darüber hinaus weiß man mittlerweile, dass sich progressiv-liberale Forderungen junger Menschen oft mit der Zeit ohnehin etablieren und nach und nach zum neuen Standard werden.
Warum also nicht diese Entwicklung zu eigenen Gunsten und zum eigenen Profit künstlich beschleunigen? Die Strategie, dem politischen Gegner die Sprengkraft seiner Anliegen zu entziehen, indem man dessen Themen selbst besetzt, ist ein alter Hut. Doch gerade, wenn es sich nicht um eine gegnerische Partei, sondern um eine aufstrebende gesellschaftliche Gruppe, nämlich die Jugend, handelt, ist diese Entwicklung hochproblematisch.
Junge Menschen werden nicht mehr durch die Gegenwehr einer veränderungsträgen Gesellschaft in ihrem progressiven, idealistischen Tatendrang, ihrer moralisch erhabenen Begeisterung gebremst und damit indirekt verstärkt, sondern in einer Art konditionierenden Zwangsumarmung brav gelobt. Sie werden somit selbst zum trägen Moment in der Gesellschaft.
Nach Lob und Anerkennung sind wir fast so süchtig wie nach dem Gefühl, dass die eigenen Forderungen von denjenigen, an die wir sie richten, wirklich verstanden, ernst genommen oder sogar gewürdigt werden. Die Akteure, auf die junge Menschen eigentlich ihre Wut zu kanalisieren pflegten, diejenigen, die für die Misere, die sie anprangern, verantwortlich sind, sind plötzlich diejenigen, von denen sie gelobt und hofiert werden.
Dadurch ist es, wenn überhaupt, nur unter größter Kraftanstrengung möglich, die Dynamiken von Herrschaft und Regierung wirklich zu verstehen. Mündige Staatsbürger müssen begriffen haben, dass der Staat sie nicht um ihrer selbst willen liebt und respektiert, sondern dass sie ihren politischen Einfluss einem historischen Kontext verdanken und dass diejenigen, die Macht auf sich vereinigen, nur im äußersten Fall bereit sind, etwas davon abzugeben.
Um Gesellschaften positiv zu verändern, bedarf es mehr als einer guten Idee und der Überzeugung, moralisch richtig zu handeln. Es geht um politische Partizipation an geeigneten Stellen, das Vor-sich-her-Treiben der Regierung mit unterschiedlichsten Mitteln, und schlussendlich auch um die Bereitschaft, die eigenen Ideen selbst und unabhängig von anderen umzusetzen. All das kommt nicht zustande, wenn junge Menschen nicht in jene Underdog-Rolle zur Abgrenzung von der Mehrheitsgesellschaft geraten, sondern stattdessen von Anfang an konditionierend vereinnahmt werden.
Eine Entwicklung, die sich unter anderem auch in einer Art intellektueller Verwahrlosung niederschlägt. Viele junge Menschen sehen überhaupt keine Notwendigkeit mehr, das eigene geistige Handwerkszeug im Kontrast zu einer konservativ vorherrschenden Mehrheitsmeinung zu schärfen. Sie erfahren keinerlei relevanten Gegenwind und hantieren plötzlich auf einer Ebene des öffentlichen Diskurses mit unausgereiften Argumenten und Forderungen, die normalerweise einem ganz anderen qualitativen Anspruch genügen müssten. Junge Menschen sind heute weder dumm noch ungebildet. Es mangelt ihnen nicht an Wissen oder Kompetenzen, sondern vielmehr an der Fähigkeit zu abstrahieren, Analogien herzustellen und das Gelernte außerhalb des erlernten Bezugsrahmens anzuwenden.
Die Lähmung des Lobes
Weiterhin wird dadurch die moralische Entwicklung behindert. Erfährt der junge Mensch in einem Stadium, in dem die eigene moralische Haltung größtenteils auf Emotionen und Empathie basiert, was keineswegs falsch ist, gezielt Lob und wenig Tadel, verknüpft er seine Kritik an den Herrschenden mit deren Lob und Anerkennung. So wird er zwar in seiner Kritik bestärkt, diese wird aber niemals existenziell, denn er will weder das Gefühl, sich selbst unabhängig ausdrücken zu können, noch das Lob der Autoritäten verlieren.
In existenziellen Situationen, im Ausnahmezustand beispielsweise, wo Kritik an der Regierung geächtet wird, sind auf diese Weise konditionierte Menschen viel eher dazu bereit, dem politischen Kurs zu folgen oder ihn sogar zu verteidigen, als diejenigen, die eine normale moralische und politische Entwicklung durchlaufen haben. Auf diese Weise gerät der gesamte antiautoritäre Ablösungsprozess durcheinander.
Natürlich verhielten sich auch früher nie alle Jugendlichen rebellisch. In der Regel sind diejenigen, die wirkliche Veränderung erwirken, immer eine kleine Minderheit; aber eben eine prägende Minderheit, und das nicht zuletzt, weil viele Zuschauer und Randständige, also Menschen, die selbst nicht aktiv werden, eine ähnliche, kohärente Entwicklung durchlaufen wie „die Rebellen“. Dennoch zeigt ein Blick in die Geschichte, dass es schon häufiger historische Ausnahmesituationen gab, die in Bezug auf die Rolle der Jugend von gegenläufigen Tendenzen gekennzeichnet waren. Diese Tendenz beschreibt die plötzliche Umkehr von jugendlicher Rebellion in autoritären Gehorsam. Auf historischer Ebene könnte man hier von einer Art totalitärem Einschub sprechen.
Die destruktive Begeisterung
Essenziell für die Vitalität und Schaffenskraft junger Menschen, die gerade in ihr Leben als Erwachsene starten, ist vor allem Begeisterung. In der Regel die Begeisterung für ihre eigenen Ideale und Vorstellungen, aber auch für gewisse kulturelle Räume: Kunst, Musik oder Unterhaltung. Doch gerade in extremen Situationen der Geschichte, in großen Kriegen, bei denen massenhaft junge Männer entflammt für ihr Vaterland an die Front zogen, oder auch im Dritten Reich, wo vor allem junge Menschen fanatisch einem Führer zujubelten, scheint sich die Begeisterung für humanistische Ideale umzukehren in eine Begeisterung für das Recht des Stärkeren und vor allem in eine Ekstase der Autorität.
Es ist jene besondere Energie junger Menschen, die sich in zwei Richtungen wenden kann. Sie wollen unbedingt Hoffnung für ihr weiteres Leben empfinden und sind daher angewiesen auf jede Art der Begeisterung. Das heißt, besonders in Zeiten des Fanatismus sind sie anfällig dafür, Führungspersönlichkeiten oder Gruppen zu folgen, die diese Begeisterung in einer Gruppendynamik aufleben lassen, auch wenn sie auf der Ausgrenzung anderer beruht. Das Gefühl des Wir gegen sie vermag genauso viel Euphorie hervorzurufen wie die idealistische Verschworenheit einer Underdog-Gruppe in der Subkultur.
Für den Philosophen Max Stirner liegt der Ursprung dieser jugendlichen Begeisterung in der geistig-ideellen Entwicklung, der Hinwendung zu den eigenen Idealen. Der junge Mensch sei im Gegensatz zum Kind in der Welt des Geistes und der Vernunft zuhause. In „Der Einzige und sein Eigentum“ schreibt Stirner:
„Geist heißt die erste Selbstfindung, die erste Entgötterung des Göttlichen, d.h. des Unheimlichen, des Spuks, der oberen Mächte. Unserem frischen Jugendgefühl, diesem Selbstgefühl, imponiert nun nichts mehr: Die Welt ist in Verruf erklärt, denn wir sind über ihr, sind Geist. (…) Den reinen Gedanken zu Tage zu fördern oder ihm anzuhängen, das ist Jugendlust, und alle Lichtgestalten der Gedankenwelt, wie Wahrheit, Freiheit, Menschentum, der Mensch usw. erleuchten und begeistern die jugendliche Seele“ (1).
Stirner betrachtet dies jedoch keineswegs rein positiv. Es sei zwar ein Fortschritt zum Entwicklungsstadium des Kindes, das in rein gedanklichen Prozessen ohne Ideen feststecke und sich somit im ständigen Kampf des Siegens und Unterliegens befinde. Doch die Welt der Ideale berge auch Gefahren, sodass es keineswegs förderlich sei, sie grundsätzlich auf den Erwachsenen auszuweiten. Stirner schreibt weiter:
„Solange man sich nur als Geist weiß und all seinen Wert darin legt, Geist zu sein (dem Jünglinge wird es leicht, sein Leben, das Leibliche, für ein Nichts hinzugeben, für die albernste Ehrenkränkung), solange hat man auch nur Gedanken, Ideen, die man einst, wenn man einen Wirkungskreis gefunden, verwirklichen zu können hofft; man hat also einstweilen nur Ideale, unvollzogene Ideen oder Gedanken.“
Die Distanz zum Tod
In Anlehnung daran könnte man vermuten, dass die Begeisterungsfähigkeit junger Menschen für große Ideen auch, oder vielleicht insbesondere, wenn diese destruktive Folgen haben, etwas mit ihrer eigenen Entfernung zum Tod zu tun hat. Der Tod ist für sie etwas Abstraktes, gefühlt Lichtjahre entfernt. Also fürchten sich junge Menschen oft weit weniger vor ihm als diejenigen, die sich mit seinem Näherrücken und zwangsläufig mit der eigenen Sterblichkeit auseinandersetzen müssen.
Der Tod hat so in gewisser Weise einen idealistischen Wert. Junge Menschen sind eher bereit, ihn in Kauf zu nehmen für die Umsetzung ihrer Ideen. In Kriegen, kriegsähnlichen oder Ausnahmezuständen gilt das sowohl für den eigenen Tod als auch für den Tod anderer. Das Leben als Schützenswertes an sich verliert damit an Wert. Die Würde des Lebendigen wird antastbar, weil es einer höheren Idee, einem höheren Ideal oder im schlimmsten Fall einer Ideologie untergeordnet wird. Stirner schreibt dazu:
„Der Jüngling fand sich als Geist und verlor sich wieder an den allgemeinen Geist, den vollkommenen heiligen Geist, den Menschen, die Menschheit, kurz alle Ideale.“
Genau deshalb ist der Prozess der Ablösung von und in einer Welt, die dem Jugendlichen zunächst Widerstand leistet, so wichtig, damit seine Begeisterung nicht von destruktiven Mächten missbraucht wird und in blinden, fanatischen Gehorsam umschlägt. Dieser Prozess verhindert oder verhindert heute eben nicht mehr, dass junge Menschen undurchdachte, fixe Ideen zum Leidwesen Schwächerer absolut setzen. Denn die Gefahr ideeller Überzeugtheit ist immer die, dass es sich um die falsche, die destruktive, ausgrenzende Überzeugtheit handelt, und die Überzeugten gerade wegen ihrer vehementen Begeisterung nicht mehr in der Lage sind, sich selbst als Teil einer zerstörerischen Ideologie zu erkennen.
Diese Dynamik in Kombination mit der oben beschriebenen Konditionierung ist der Grund dafür, warum mit zunehmend autoritären Regierungsstilen auch eine autoritäre Verschiebung auf Seiten der Jugend einhergeht. Wenn junge Menschen austreten wollen aus diesem klebrigen Vertrag mit der Autorität, der Gefolgschaft und Loyalität gegen Wertschätzung und Lob tauscht, müssen sie selbst erkennen, dass sie einer Pseudoautonomie aufgesessen sind und echte Souveränität nur erlangen werden, wenn sie den Mut haben, das verlockende Angebot des Lobes auszuschlagen und außerhalb der Komfortzone selbst die Verantwortung für ihr Denken und Handeln zu übernehmen. So können sie schließlich zurückfinden zu einer echten, authentischen Rebellion. Die Belohnung hierfür ist ein Leben, das sie selbst gestalten können. Man könnte auch sagen: Ein Leben in Freiheit.
Quellen und Anmerkungen:
(1) Max Stirner, Der Einzige und sein Eigentum, LIWI Verlag 2020
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Vielleicht ist es ja auch einfach so, dass ein paar mehr Menschen in verschiedenen Parteien erkannt haben, dass es für das Überleben der Menschheit förderlich ist, die Erderwärmung in einem erträglichen Rahmen zu halten und es geht gar nicht so sehr um Wählerstimmen, sondern um ein Bekenntnis zu klimaschutzgewährenden Maßnahmen.