Das Trauma der Erziehung

 In FEATURED, Gesundheit/Psyche

Seelische Gewalt ist allgegenwärtig und soll aus unseren Kindern willfährige Untertanen machen. Psychische Gewalt geschieht versteckt. Sie hinterlässt keine sichtbaren Narben und sie findet täglich unbemerkt statt. Sie trägt dann einen freundlicher klingenden Namen: Erziehung. Slogans wie „Kinder brauchen Grenzen“ haben heute Hochkonjunktur. Im Bestreben, keine „kleinen Tyrannen“ zu züchten, gebährden sich Erwachsene als große Tyrannen, lassen Säuglinge schreien, ignorieren ihre vitalen Bedürfnisse. Die Traumaspuren verfolgen Kinder, die so behandelt wurden, noch bis ins Erwachsenenalter. (Birgit Assel)

Es ist ein großer Fortschritt, dass Kinder in Deutschland seit Juni 2000 ein Recht auf gewaltfreie Erziehung haben: „Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig“, so steht es im Paragraph 1631 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB).

Die Erziehung von Kindern ist ein Thema, das heute viele Eltern beschäftigt. Und es ist ein Thema, um das heftig gestritten wird. Es gibt eine Vielzahl von Erziehungsstilen — von autoritär bis laissez-faire. Nur wenigen Eltern ist dabei bewusst, dass jede Form von Erziehung, egal welcher Erziehungsstil für richtig gehalten wird, Kinder zu Objekten macht.

Bei der Erziehung ihres Kindes gehen Eltern davon aus, dadurch Einfluss auf das spätere Leben des Kindes nehmen zu können: wie erfolgreich es in der Schule sein wird, welchen Beruf es einmal wählt, wie es seine Beziehungen gestalten wird — kurzum, ob es zu einem erfolgreichen Mitglied der Gesellschaft wird.

Ohne Ziele für die Zukunft bräuchte es keine Erziehung — das Kind könnte einfach so bleiben, wie es ist!

Doch die eigentliche Frage ist, warum Eltern weiterhin an dem Glauben einer „guten“ Erziehung festhalten. Warum haben sie so wenig Vertrauen in ihre Kinder, dass sie in der Idee verhaftet bleiben, etwas aus ihren Kindern „machen“ zu müssen?

Das ist nicht so leicht zu verstehen, wir bekommen nur schwer Zugang zu den wahren Gründen, die oft tief in unserer Psyche verborgen sind, weil sie sehr schmerzhaft und kaum auszuhalten sind.

Wir werden als lebendige kleine Menschen geboren, wir kommen als Entdecker auf die Welt — wir kennen keine Regeln, wir wissen nichts vom Leben der Erwachsenen, alles, was wir brauchen, ist die Nähe und die Geborgenheit unserer Mutter. Wir kennen ihren Herzschlag, wir kennen ihre Stimme, wir kennen ihren Geruch — das ist uns vertraut! Wir haben, wenn alles gut gegangen ist, mit unserer Mutter gemeinsam die Geburt geschafft — was leider heute immer seltener der Fall ist.

Lassen Sie uns die Perspektive wechseln.

Ein Mensch wird geboren — wie sieht er die Welt?

Heute ändert sich mein Leben komplett und das meiner Mama auch. Weder sie noch ich wissen, was uns erwartet. Zum ersten Mal spüre ich einen Schmerz in meinem Körper und ich weiß nicht, woher dieser Schmerz kommt. Das einzige, was ich kann, ist schreien! Meine Mama weiß zum Glück, was ich brauche, und ich bekomme ihre Brust. Sie stillt den Schmerz, es war also Hunger. Vielleicht kann noch ein bisschen bei meiner Mama auf dem Bauch bleiben, so dass ich ihren Herzschlag höre und ihren Geruch immer um mich habe, das wäre schön.

Es passiert so viel Unbekanntes um mich herum, dass ich dieses vertraute Gefühl unbedingt brauche — ohne diese Sicherheit bekomme ich Angst! Ich brauche ihre Körpernähe, ich brauche ihre Stimme, ich brauche ihre Bewegungen, wenn sie mich bei sich trägt. Das alles brauche ich, um langsam in meine neue Umgebung hineinzuwachsen. Wie lange das so sein wird, wissen weder Mama noch ich — doch wenn sie mir vertraut und meine „Sprache“ versteht, zeige ich ihr, wenn ich nicht mehr von ihr getragen werden will, sondern schon für kurze Zeit alleine auf Entdeckungsreise gehen kann.

Ich kann schlafen, wenn ich müde bin, ich werde gestillt, wenn ich hungrig bin, und wenn ich mich unwohl fühle und deswegen weine, dann sorgt meine Mama dafür, dass ich mich wieder wohlfühle. Mama begleitet mich, ich kann Vertrauen in eine mir noch unbekannte Welt fassen und je älter ich werde, umso mutiger erkunde ich meine Umgebung.

Die Realität

Die Realität der meisten neugeborenen Menschen sieht leider anders aus. Häufig wurden sie schon durch die vielen pränatalen Untersuchungen in Stress versetzt. Wenn die Mutter auch Stress erlebt, weil sie sich Sorgen macht, weil sie Angst hat, weil sie sich und ihrem Körper nicht vertraut, dann erlebt das Ungeborene nicht nur seinen eigenen Stress, sondern auch den der Mutter. Die Idee von den paradiesischen neun Monaten gehört seit der Entdeckung der vorgeburtlichen Psychologie in die Kiste der Mythologie.

Kommt zu dem erlebten Stress noch der Geburtsstress für Mutter und Kind dazu, dann sind im Grunde genommen alle weiteren Probleme schon vorprogrammiert.

Wenn ich von Stress schreibe, dann meine ich nicht den „normalen“ Stress, den wir erleben, wenn wir zum Beispiel unter Zeitdruck sind, sondern einen Stress, den wir nur schwer regulieren können, weil er uns seit Beginn unseres Lebens in den Knochen steckt beziehungsweise in unseren Zellen und in unserer Psyche „gespeichert“ ist. Daher bezeichne ich diesen Stress als „Trauma-Stress“, ausgelöst durch Ereignisse in unserem Leben, die wir nicht verarbeiten konnten, die uns in große Not, Ohnmacht und Hilflosigkeit gebracht haben, denen wir nicht entkommen konnten.

Trauma-Stress ist lebensgefährlich, weil die Alarmhormone Adrenalin und Noradrenalin in großen Mengen ausgeschüttet werden und wir an Übererregung sterben können. Bei dieser Art von Stress ist unsere Psyche in höchster Alarmbereitschaft. Um unser Überleben zu sichern, wird diese Übererregung zusammen mit den erlebten Gefühlen der Todesangst, und oftmals auch die Erinnerungen an das Ereignis selbst, abgespalten, also in einen separaten Bereich unserer Psyche verschoben. Unser Körper kann sich nun wieder regulieren, Blutdruck und Herzfrequenz sinken wieder auf ihren Normalstand. Dieser Trauma-Stress kann jederzeit wieder ausgelöst werden und uns in einen Ausnahmezustand versetzen, ohne dass wir wissen, warum. Panikattacken sind in der Regel ein Zeichen dafür, dass wir Trauma-Stress abspalten mussten …

Je jünger wir sind, desto weniger Selbstregulationsmöglichkeiten haben wir. Wir sind darauf angewiesen, in Stress-Situationen von anderen Menschen beruhigt und reguliert zu werden.
Was passiert also, wenn ein Säugling schon mit Stress auf die Welt kommt und die Mutter auch noch unverarbeitete Traumata in sich trägt?

Säuglinge können ihren Stress nur dadurch zeigen, indem sie laut und anhaltend Schreien — sie geben Alarm, dass etwas nicht stimmt. Die Mutter versucht das Kind zu beruhigen, kommt aber selbst in Stress, weil ihr Kind sie triggert, ihr Trauma anspricht, was sie aber nicht weiß. Der Stress der Mutter bereitet dem Baby noch mehr Stress, es schreit noch lauter und lässt sich nicht beruhigen, was wiederum die Mutter zur Verzweiflung bringt, weil sie spürt, dass sie nicht in der Lage ist, ihr Kind zu beruhigen. Wenn sie Glück hat, ist sie von Menschen umgeben, die diese Stress-Situation für beide entspannen können.

Als mein Sohn ein Baby war und ich ihn nicht beruhigen konnte, weil mein eigener Stresspegel wuchs und wuchs, war meine Mutter mir eine große Hilfe, indem sie mir meinen Sohn abnahm und beruhigend auf ihn einwirkte. Es war erstaunlich, wie schnell sich mein Kind beruhigte, wenn er die leise, summende Stimme meiner Mutter hörte, die ihn sanft in ihren Armen wiegte. So konnte ich auch aus meinem Stress-Programm aussteigen und wieder für meinen Sohn da sein, so wie er es brauchte.

Was ließ mich so reagieren? Zwar wusste ich, dass meine Mutter mich und meine Schwester als Babys nachts schreien ließ, damit wir „schlafen lernen“, doch dass das Schreien meines Sohnes eben diesen unverarbeiteten Stress in mir triggerte, wusste ich nicht.

Dass man Kinder früher einfach schreien ließ, hatte mit der „Schwarzen Pädagogik“ zu tun: man ging davon aus, dass ein Säugling schon früh nur danach trachtet, seinen Willen der Mutter aufzuzwingen. Der Erziehungsratgeber der NS-Zeit „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“ stand in fast allen Haushalten.

Die größte Angst junger Eltern ist, ihr Baby zu verwöhnen

Nun sollte man meinen, diese Zeiten seien vorbei, heute wüssten alle Eltern, dass Babys, deren Schreien ignoriert wird, traumatisiert werden, weil sie noch nicht die Fähigkeit entwickelt haben, sich selbst zu regulieren.

Leider ist das ein Irrtum! Auch heute glauben noch viele Eltern, oder sie befürchten sogar, sie könnten ihre Babys verwöhnen, wenn sie jedem Schreien nachgäben. Karl-Heinz Brisch, Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Bindungsforscher, der Kurse für Eltern — wie zum Beispiel das Feinfühligkeitstraining „Safe“ — anbietet, sagte bei Scobel in einer Sendung zum Thema psychische Gewalt in der Erziehung, dass werdende Eltern die größte Sorge haben, ihr Baby zu verwöhnen, und sich sogar fragen, wann sie mit „Frustrationstraining“ anfangen sollten.

Dass junge Eltern sich noch heute mit dieser Frage beschäftigen, ist schon sehr erstaunlich, zeigt aber auch, wie sehr die Denkweisen der vorigen Generationen junge Menschen bis heute prägen und wie wenig die eigene Kindheitsgeschichte aufgearbeitet wurde. Wären diese jungen Eltern selbst mit einer sicheren Bindung aufgewachsen, würden sie sich solche Fragen mit Sicherheit nicht stellen.

Schon im Säuglingsalter beginnen Eltern häufig mit der Erziehung: Mit Babys wird zum Beispiel das Schlafen trainiert. Das Buch „Jedes Kind kann schlafen lernen“ von Anette Kast-Zahn und Hartmut Morgenroth wurde zu einem Bestseller. Hier werden die Bedürfnisse des Säuglings aus erzieherischen Gründen übergangen, aus Angst, er würde sich zu einem Tyrannen entwickeln.

Was passiert, wenn ein Säugling schreien gelassen wird? Der kleine Mensch liegt in seinem Bett, kann selbst noch nicht laufen, schreit nach seinen Eltern, möchte sehen, dass sie da sind, dass er in Sicherheit ist. Die Eltern kommen nicht. Er bleibt alleine, hilflos. Er schreit weiter, ruft lauter, warum kommt denn niemand, er hat Todesangst. Damit sein kleiner Körper überleben kann, passiert das, was wir Abspalten nennen. Diese unbändige Angst, dieser Stress wird von seiner Psyche verdrängt, in einen abgeschlossenen Bereich verschoben.

Der vermeintliche Erziehungserfolg, das Kind schreit nicht mehr, ist also nur ein „Wegpacken“ dieser überwältigenden Gefühle, von Hilflosigkeit, Verzweiflung, Todesangst. Diese Form von ganz früher Gewalt, der sich die wenigsten Eltern — oder überhaupt Menschen — bewusst sind, wird die Psyche und die Gehirnentwicklung des Kindes massiv schädigen.

Das Kind wird nicht in seiner Bedürftigkeit wahrgenommen, sondern es wird zu einem „Objekt“ gemacht, mit dem man lernt „umzugehen“, damit es möglichst pflegeleicht ist, schnell durchschläft und es geregelte Nahrungsaufnahmezeiten hat.

So fängt der „Wahnsinn der Normalität“ an und überdauert die ganze Kindheit.

Wie irre sind wir eigentlich?

Der Erziehungswahnsinn der Normalität

Wie wenig wir als kleine Kinder mit unseren Bedürfnissen wahrgenommen wurden, zeigt dieser Erziehungswahnsinn, in dem Eltern und Großeltern gefangen sind.

Der Leitspruch in der Erziehung heißt: Kinder brauchen Grenzen! Wie ist es dazu gekommen, dass so gut wie alle Menschen das ernsthaft glauben? Nun, ich versuche einen Erklärungsansatz: Es gibt äußere sowie innere Grenzen, und es gibt Glaubenssätze.

Die äußeren Grenzen zielen darauf ab, dass ich in meiner körperlichen Integrität nicht verletzt werde. Doch genau das wird mit kleinen Kindern ständig gemacht und oftmals sogar mit Gewalt, zum Beispiel beim Zähneputzen, beim Wickeln, beim Zwingen in den Kindersitz und so weiter. Die Argumentation bei meinen Beispielen ist, dass es sich um Vorsorge- und Schutzmaßnahmen handelt, die nun einmal sein müssen. Dem stimme ich zu, doch mit Kreativität, Zeit und Geduld braucht man Kindern gegenüber keine körperliche Gewalt anzuwenden — leider haben viele Eltern genau das nicht!

Die inneren Grenzen haben viel mit Bedürfnissen zu tun. Wurden meine Bedürfnisse als Kind nie gesehen und ernstgenommen, dann kenne ich sie selbst vielleicht gar nicht mehr und gehe ständig über meine eigenen inneren Grenzen hinaus — ich arbeite zu viel, ich schlafe zu wenig, ich überfordere mich, ich kann nicht nein sagen und so weiter. Bin ich als Mutter oder als Vater sowieso schon am Limit und will dann mein Kind auch noch, dass ich für seine Bedürfnisse da bin, dann kann das der berühmte Tropfen sein, der das Fass zum Überlaufen bringt.

Viele Eltern machen ihre Kinder verantwortlich, wenn ihnen der Geduldsfaden reißt, ohne zu bemerken, dass sie ihre eigenen Bedürfnisse nicht kennen und ständig ihre eigene innere Grenze — die sie gar nicht wahrnehmen — übertreten.

Glaubenssätze werden meist unhinterfragt übernommen: Beim Essen hat man am Tisch zu sitzen; Kinder müssen sich unterordnen; es muss geregelte Essens- und Schlafenszeiten geben; die neuen Medien sind gefährlich; wenn Erwachsene sprechen, haben Kinder still zu sein und so weiter. Diese Glaubenssätze dienen dann dazu, Erziehung zu rechtfertigen.

Wem schadet es, wenn nicht gemeinsam am Tisch gegessen wird? Wem schadet es, wenn Kinder sich nicht unterordnen, sondern ein gemeinsamer Konsens gefunden werden kann? Wem schadet es, wenn dann gegessen wird, wenn auch der Hunger da ist oder dann geschlafen wird, wenn die Müdigkeit eintritt?

Essens- und Schlafstörungen können eine Folge sein, weil die inneren Bedürfnisse nicht berücksichtigt werden, es feste Essenszeiten gibt, auch wenn der Hunger sich noch nicht eingestellt hat oder feste Schlafenszeiten, obwohl keine Müdigkeit empfunden wird.

Wer kein Gefühl für Hunger hat, weiß oftmals nicht, wie viel er essen soll und wann er satt ist. Wer nie seine Müdigkeit fühlen durfte, wird nie wissen, wann er schlafen möchte.

Eltern sollten sich fragen, weshalb sie diese oder auch andere Glaubenssätze haben und welche Bedürfnisse sich dahinter verbergen, die nicht ausgesprochen werden oder ihnen nicht einmal bewusst sind.

Kleine Kinder, sofern sie keine Essenstrainings oder Schlaftrainings machen mussten, haben ein sehr gutes Gefühl für ihre eigenen Grundbedürfnisse. Und sie haben, je älter sie werden, ein Gefühl für die eigene Autonomie!

Kinder sind die größten Kooperationsmeister

Die Wahrheit ist, dass die meisten Kinder sich unserer Erwachsenenwelt anpassen müssen — und nein, das war früher nicht besser, als viele Frauen noch nicht gearbeitet haben! Meine Mutter war zum Beispiel immer zuhause, dennoch waren ihre Bedürfnisse stets wichtiger als meine Bedürfnisse.

Heute werden schon ganz kleine Kinder in eine Kindertagesstätte gebracht, weil beide Elternteile arbeiten müssen. Das Kind muss früh ins Bett — ob es müde ist oder nicht, interessiert niemanden.

Morgens muss es dann geweckt werden. Es muss sich schnell anziehen lassen, es muss sich schnell wickeln lassen, er muss sich schnell die Zähne putzen lassen und, und, und. Wehrt sich das Kind, droht Ärger oder gar die Verletzung der körperlichen Integrität — das passiert im Stress sehr schnell!

Ist es endlich in der Kindertagesstätte, ist es viele Stunden mit Menschen zusammen, die es sich nicht selbst ausgesucht hat, denen es sich aber anpassen muss. Die meisten Kinder lassen das mit sich machen und protestieren vielleicht nur zu Anfang. Doch da ihr Protest eh keinen Erfolg hat, passen sie sich der Situation an, das heißt sie kooperieren.

Kinder kooperieren ständig, nur leider fällt das den meisten Eltern nicht auf. Sie nehmen es einfach als selbstverständlich hin, schließlich haben sie es als Kinder auch nicht anders gelernt.

Zu dieser sehr großen Kooperationsbereitschaft, die Kinder einfach haben müssen, kommen nun noch irgendwelche willkürlichen gesetzten Grenzen seitens der Eltern dazu — denn Kinder brauchen ja Grenzen!

Das Gute in meiner Kindheit war, dass ich viel draußen sein konnte — es gab kaum Autos und draußen fühlte ich mich auch freier als daheim. Auch das können viele Kinder heute nicht mehr: sie passen sich dem Tagesablauf der Eltern an, weil sie keine andere Wahl haben! Und auch zuhause passen sie sich an, weil die Eltern ihre Ruhe brauchen oder der Haushalt noch erledigt werden muss — von älteren Kindern wird dann erwartet, dass sie mithelfen, auch wenn sie keine Lust dazu haben.

Wir fordern von Kindern Respekt! Doch wo, bitte schön, bleibt unser Respekt gegenüber den Kindern?

Wir machen Kinder zu Objekten und wundern uns dann, wenn sie sich einfach mal nicht anpassen wollen, sondern streiken — morgens beim Aufstehen, beim Anziehen, beim Zähneputzen mal nicht kooperieren, sich diesem Druck verweigern.

Der Neurobiologe Gerald Hüther sagt:

„Was passiert, wenn sich fünf Menschen zusammentun, die wirklich wissen, was sie wollen? Und sich dann auf den Weg machen, in einen co-kreativen Prozess und in einer individuellen Gemeinschaft loszulegen (…) vielleicht werden dann Träume wahr?“

Wir können diese Idee auch auf Familien übertragen, indem sie sich zusammensetzen — die Eltern mit ihren Kindern — und herausfinden, was sie als Familie gemeinsam wollen!

Funktionieren kann das nur, wenn alle wissen, was sie wollen und wenn sie wissen, wer sie sind.

Die Erziehung trägt mit dazu bei, dass wir nicht mehr wissen, was wir wollen und nicht mehr wissen, wer wir sind. Unser Wille wurde uns aberzogen, und unser Ich besteht aus lauter Zuschreibungen und Bewertungen, die wir erst von unseren Eltern, dann von unseren Erziehern und später von unseren Lehrern bekommen haben.

Ohne einen eigenen gesunden Willen und ohne ein eigenes gesundes Ich führen wir ein fremdbestimmtes Leben, in das wir unsere Kinder auch noch mit hinein nehmen.

Franz Ruppert, einer der führenden Psychotraumatologen Deutschlands, sagt zurecht, die meisten Menschen sind in ihrer Identität traumatisiert, sie wissen nicht, was sie wollen, und nicht, wer sie sind! Stattdessen identifizieren sie sich mit allem Möglichen, das kann der Verein sein, das kann der Beruf sein, das kann die Partei sein, das kann die Nation sein.

Meine tiefste Überzeugung ist: Wenn wir wüssten, was wir wollen, und wüssten, wer wir sind, dann kämen wir nicht auf die Idee, unsere Kinder erziehen zu müssen. Sie müssten nicht werden, weil sie schon sind.

Hören wir also auf, aus unseren Kindern mittels Erziehung etwas machen zu wollen. Sorgen wir dafür, dass ihre Lebendigkeit nicht kaputtgemacht wird, weder von uns noch von anderen Menschen.

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Dank für den Tipp an den Rubikon, www.rubikon.news, wo dieser Artikel zuvor erschienen ist.

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