Das vergessene Menschenrecht
Jeder sollte die Möglichkeit haben, gesund und glücklich zu altern. Exklusivauszug aus „Rente und Respekt“. Ageismus — Altersdiskriminierung — ist so schlimm und so verbreitet wie Rassismus oder Sexismus. Gesehen wird das Problem jedoch wenig. Es gibt nicht einmal ein gebräuchliches Wort dafür. Dabei schreit die Art, wie unsere Gesellschaft Ältere behandelt, zum Himmel. Nicht nur die schändlichen Renten schlagen da zu Buche, auch ein an Konsum und Leistung orientierter Zeitgeist ist den weniger „Produktiven“ nicht gewogen. Wer dem grassierenden Jugendwahn nicht entsprechen kann, wird manipuliert, Jugendlichkeit so lange es geht zu simulieren. Es wird Zeit für einen Mentalitätswandel, der die besonderen Stärken des Älterwerdens würdigt. Grundlage wäre aber eine Verbesserung der gesetzlichen Rahmenbedingungen. Es braucht ein Menschenrecht auf glückliches Altern im Grundgesetz. Żaklin Nastic
Am 10. Dezember 1948 verabschiedete die Generalversammlung der Vereinten Nationen die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Darin enthalten ist das Diskriminierungsverbot aufgrund verschiedener Merkmale — jedoch bedauerlicherweise nicht aufgrund des Alters. Das lag unter anderem daran, dass die Altersdiskriminierung (im Englischen „Ageism“) noch gar nicht definiert, geschweige denn gesamtgesellschaftlich als Problem anerkannt war.
Erst Ende der sechziger Jahre prägte der US-amerikanische Dozent und Gerontologe Robert Neil Butler (1927 bis 2010) diesen Begriff. Bis heute ist die Altersdiskriminierung jedoch, im Vergleich zu anderen Formen der Diskriminierung in sozialen Kategorien, die am wenigsten erforschte. Dabei nimmt die Altersdiskriminierung seit den Achtzigerjahren — als die neoliberale Wende in den westlichen Ländern an Fahrt gewann — immer mehr zu.
Die von den medialen, politischen und wirtschaftlichen Eliten gepredigte Ellenbogenmentalität führt dazu, dass immer mehr Gruppen an den gesellschaftlichen Rand gedrängt werden. Ältere Menschen gehörten dabei zu einer der ersten Opfergruppen des verschärften innergesellschaftlichen Konkurrenzdenkens. Der „ideale“ neoliberale Mensch ist jung und hip. Und irgendwie imprägniert er sich gegen Alter, wehrt sich gegen Rentner als lästige Last. Das An-den-Rand-Drängen äußert sich durch Vorurteile am Arbeitsplatz, durch Marginalisierung in Medien und Politik sowie in einer unsozialen Pflege- und Rentenpolitik.
Trotz der Lücken in der bisherigen Forschung zur Altersdiskriminierung sind die verschiedenen Formen eben jener in unserer Gesellschaft für alle sichtbar. Im Arbeitsleben sind viele ältere Arbeiterinnen und Arbeiter dem Vorurteil ausgesetzt, dass sie nicht so gut arbeiten würden wie junge Kolleginnen und Kollegen. Dieses weit verbreitete Vorurteil lässt sich statistisch jedoch nicht belegen. Jüngere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter arbeiten zwar in manchen Bereichen — wie beispielsweise Computeraufgaben — schneller, jedoch dafür statistisch gesehen oft unpräziser (1). In diesen Fällen müssen die Jungen dann vielleicht ihre Arbeit noch einmal machen.
Eine reine Messung von Arbeit nach Schnelligkeit bringt keinen weiter. Vorurteile gegen ältere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind oft unbegründet und zu einer solidarischen Arbeitsumgebung, für die sich die Linke einsetzt, gehört es auch, Menschen aller Altersstufen nach ihren Fähigkeiten einzubinden.
Auch in den Medien kommen die Älteren weniger vor. Statistische Untersuchungen in den USA haben bereits in den Neunzigerjahren ergeben, dass ältere Menschen in der Werbung beispielsweise unterrepräsentiert waren. Während die Älteren in der Bevölkerung knapp 16 Prozent stellten, tauchten sie in der TV-Werbung der Hauptsender in gerade einmal sieben Prozent der Spots auf (2).
In Deutschland dürften die Ergebnisse heute ähnlich sein. Ältere Menschen werden einfach nicht als relevante Marktgruppe gesehen. Im deutschen Fernsehen endete bis vor kurzem die „werberelevante Zielgruppe“ mit dem 50. Geburtstag — von der Apothekenrundschau mal abgesehen. Danach war ein Mensch dem Fernsehen „als Konsument egal“ (3).
Auch in der Welt des Internets treibt die Altersdiskriminierung teilweise absurde Blüten. Bei der Dating-App Tinder beispielsweise mussten Menschen ab 30 Jahren jahrelang für die Funktion Tinder Plus einen doppelt so hohen Mitgliedsbeitrag zahlen wie Menschen bis zum Alter von 29 Jahren. Ein US-amerikanisches Gericht beendete diese groteske Praxis Anfang des Jahres 2019 mit einem Verweis auf die Altersdiskriminierung (4).
Nicht nur im Konsumenten- und Werbebereich, sondern auch in der herrschenden Politik versuchen ständig unterschiedliche Akteure, ältere Menschen zu marginalisieren. Immer wieder negativ fällt dabei die Arbeitgeberlobby INSM, die „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“, auf, die in den vergangenen 20 Jahren stets die radikalsten neoliberalen Antworten auf die Fragen der Gesellschaft favorisiert hat (5).
Aber auch die taz ist nicht davor gefeit, und im Sommer 2019 forderte eine junge Redakteurin in dem Blatt allen Ernstes, Rentnerinnen und Rentnern das Wahlrecht abzunehmen (6).
Solchen Schritten der propagandistischen Altersdiskriminierung muss sich die gesellschaftliche Linke entschieden widersetzen. Eine weitere, wenig thematisierte Diskriminierung des Alters besteht darin, dass zum Beispiel in der Mehrheit der Bundesländer kommunale Spitzenbeamte und Bürgermeister ab dem 60., 65. oder 67. Lebensjahr von der weiteren Tätigkeit ausgeschlossen werden. Ähnliches gilt für Notare und Schöffen. Gegen dieses faktische Berufsverbot für Ältere sollten Demokratinnen und Demokraten in Zeiten des Kampfes gegen Diskriminierung entschieden vorgehen. Natürlich sollte der 70-jährige Bauarbeiter nicht mehr wegen der kümmerlichen Rente gezwungen sein, auf dem Bau zu malochen, aber ein 78-jähriger Bernie Sanders, der für seine Überzeugungen kämpft, ist doch eine große Bereicherung für die politische Landschaft und die Arbeiterklasse in den USA.
Nicht nur werden ältere Menschen im Arbeitsleben mit Vorurteilen konfrontiert, so wie im Konsumbereich, in den Medien und durch Politik marginalisiert, sondern vor allem das ungerechte Rentensystem sorgt dafür, dass immer mehr Rentnerinnen und Rentner in die Armut und damit in die Isolation geraten.
Die Grundsicherung wird von vielen Menschen als Stigma begriffen, und diese ziehen sich dann vermehrt in die eigenen vier Wände zurück. Aufgrund der fehlenden finanziellen Möglichkeiten können sie sich keinen Café-Besuch oder gar das Kino oder das Theater mehr leisten.
Seit 1991 ist das Rentenniveau, also die durchschnittliche Höhe einer Rente im Verhältnis zum Durchschnittslohn, von 54 Prozent auf 48 Prozent gesunken (7). Der Anteil der alten Menschen in Armut steigt damit immer weiter an. Und reiche Menschen werden älter. Überall in der Welt. Auch bei uns. Selbst die jüngst beschlossene Grundrente wird daran allenfalls wenig ändern. Laut dem bekannten Soziologen und Armutsforscher Christoph Butterwegge handelt es sich dabei um reine Symbolpolitik und „Trippelschrittchen“ bei der Bekämpfung der Altersarmut (8).
Besonders betroffen von Altersarmut sind Frauen. Die Gefahr für Rentnerinnen, in die Armut abzurutschen, ist deutlich höher als die von Rentnern (9). Frauen werden nicht nur im aktiven Berufsleben deutlich schlechter bezahlt und haben mit einer gläsernen Decke zu kämpfen — im Alter haben sie noch weniger die Chance, in Würde zu altern und die Rentenzeit zu genießen. Ungerechtigkeiten dieser Art müssen ein Ende finden. Ein Hauptprojekt der linken Kräfte in Deutschland ist es, der Altersarmut entschieden entgegenzuwirken, damit alle Menschen in Würde altern können.
Um für mehr Gerechtigkeit in unserer Gesellschaft zu sorgen, muss auch die Pflege reformiert werden. Die Entwicklung menschenwürdiger Standards in der Pflege ist beispielsweise ein Arbeitsfeld, auf welchem sich zurecht das Deutsche Institut für Menschenrechte engagiert. Mit einer besseren Pflege können Autonomie und Unabhängigkeit älterer Menschen erreicht werden (10). Zuzahlungen bei zu pflegenden Personen ab der Pflegestufe III können kleine Familien oder Alleinerziehende mit Kindern schnell an die Armutsschwelle bringen (11). Oft sind diese dann nur eine Krankheit von der Armut entfernt. Eine Pflegereform nach sozialen Gesichtspunkten muss von der Linken erstritten werden.
Die Armut führt wenig überraschend auch zu einer geringeren Lebenserwartung (12). Höhere Mütterrenten und die Wiedereinführung der Rente mit 63 änderten nichts daran. Ökonomen warnen mittlerweile vor einer massenhaften Armut in Deutschland (13).
Die Politik der Marginalisierung von älteren Menschen durch eine verfehlte Rentenpolitik muss endlich beendet werden. Wir brauchen in Deutschland ein neues Rentensystem nach dem erfolgreichen österreichischen Vorbild!
Eine Kehrtwende hin zu einem Menschenrecht auf ein glückliches Älterwerden muss endlich her. Mit dem 2006 vom Bundestag verabschiedeten „Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz“ ist die Diskriminierung nach Alter auch in Deutschland verboten. Das reicht aber bei weitem nicht aus!
Wir brauchen mehr und vor allem bessere Jobs für ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, eine neue Pflege- und Rentenpolitik und mehr Respekt vor dem Alter. Wer nicht dem neoliberalen Idealtypus der jungen, hippen und konsumrelevanten Menschen nacheifert, muss sich Gedanken machen, wie wir eine neue solidarische Gesellschaft errichten können, in der Menschen in Würde altern können. Was es dringend braucht, ist ein Menschenrecht auf ein glückliches Älterwerden.
Analog zur Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte könnte Deutschland als Pionier solch ein Grundrecht gesetzlich verankern. Bereits seit dem Jahr 2010 gibt es nach einem Beschluss der UN-Vollversammlung eine Arbeitsgruppe zur Stärkung der Menschenrechte Älterer (14).
Auf den Erfahrungen dieses Gremiums könnte der Bundestag aufbauen, wenn es darum geht, ein konkretes Recht in Gesetzesform zu gießen. Nicht nur das Verbot von Altersdiskriminierung, sondern auch die Festschreibung von sozialen Menschenrechten für Menschen im hohen Alter könnten erstmals gesetzlich ausformuliert werden.
Deutschland mit seiner immer älter werdenden Gesellschaft könnte da als ein positives Vorbild dienen. Dafür braucht es jedoch eine starke gesellschaftliche Linke und ein Zurückdrängen des neoliberalen Politikansatzes mit seinen unrealistischen Menschenbildern.
Quellen und Anmerkungen:
(1) Richard A. Posthuma / Michael A. Campion: „Age Stereotypes in the Workplace: Common Stereotypes, Moderators, and Future Research Directions“, in: Journal of Management, Jahrgang 35 (2009), Nr. 1, Seiten 158 bis 188, hier: Seite 166.
(2) Abkhik Roy / Jake Harwood: „Underrepresented, Positively Portrayed: Older Adults in Television Commercials“, in: Journal of Applied Communication Research, Jahrgang 25 (1997), Seiten 39 bis 56, hier: Seite 50.
(3) Marina Kormbaki: „Die werberelevante Zielgruppe der 14- bis 49-Jährigen“, in: Hannoversche Zeitung, 18. Juli 2010; www.haz.de/Nachrichten/Medien-TV/Uebersicht/Die-werberelevante-Zielgruppe-der-14-bis-49-Jaehrigen
(4) Dami Lee: „Tinder settles age discrimination lawsuit with $11.5 million worth of Super Likes“, in: The Verge, 25. Januar 2019; www.theverge.com/2019/1/25/18197 575/tinder-plus-age-discrimination-lawsuit-settlement-super-likes
(5) Albrecht Müller: „Die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft hetzt die Jungen gegen die Alten auf“, in: NachDenkSeiten, 28. Oktober 2016; www.nachdenkseiten.de/?p=35 597
(6) Johanna Roth: „Rentner, gebt das Wahlrecht ab!“, in: tageszeitung, 01. Juni 2019; https://taz.de/Kolumne-Der-rote-Faden/!5597 166/
(7) Günter Eder: „Die Rentenpolitik bedarf einer Kurskorrektur“, in: Wirtschaftsdienst — Zeitschrift für Wirtschaftspolitik, Jahrgang 99 (2019), Nummerr. 6, Seite 425 bis 431.
(8) Christoph Butterwegge im Gespräch mit Dirk Müller: „Altersarmut lässt sich so nicht bekämpfen“, in: Deutschlandfunk, 11. November 2019; https://www.deutschlandfunk.de/kompromiss-zur-grundrente-butterwegge-altersarmut-laesst.694.de.html?dram:article_id=463 110
(9) Eric Seils: „Armut im Alter — aktuelle Daten und Entwicklungen“, in: WSI-Mitteilungen 5/2013, Seiten 360 bis 368.
(10) „Grundlagen für einen menschenwürdigen Pflegestandard schaffen“, in: Deutsches Institut für Menschenrechte, 27. Februar 2019; https://www.institut-fuer-menschenrechte.de/aktuell/news/meldung/article/grundlagen-fuer-einen-menschenwuerdigen-pflegestandard-schaffen/
(11) Kristiana Ludwig: „Pflege darf eine Familie nicht in die Armut führen“, in: Süddeutsche Zeitung, 01. November 2019; https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/pflege-altersheim-pflegereform-1.4660576
(12) „Armut geht mit verringerter Lebenserwartung einher“, in: Handelsblatt, 14. Oktober 2019; www.handelsblatt.com/politik/deutschland/studie-armut-geht-mit-verringerter-lebenserwartung-einher/25113 316.html
(13) Donata Riedel: „Ökonomen warnen vor massenhafter Altersarmut“, in: Handelsblatt, 19. September 2019; www.handelsblatt.com/politik/deutschland/diw-studie-oekonomen-warnen-vor-massenhafter-altersarmut/25032 854.html
(14) „Für eine Konvention über die Rechte Älterer«, in: Deutsches Institut für Menschenrechte, 15. März 2018; https://www.institut-fuer-menschenrechte.de/aktuell/news/meldung/article/fuer-eine-konvention-ueber-die-rechte-aelterer-gemeinsamer-workshop-des-polnischen-kommissars-fuer-men/
Żaklin Nastic ist seit 2017 Bundestagsabgeordnete der Fraktion DIE LINKE. Sie ist menschenrechtspolitische Sprecherin ihrer Fraktion und stellvertretende Vorsitzende der deutsch-polnischen Parlamentariergruppe sowie der deutsch-südosteuropäischen Parlamentariergruppe. Die Hamburgerin ist zudem Mitglied im Vorstand der Partei DIE LINKE.
Dieses Werk ist unter einer Creative Commons-Lizenz (Namensnennung – Nicht kommerziell – Keine Bearbeitungen 4.0 International) lizenziert. Unter Einhaltung der Lizenzbedingungen dürfen Sie es verbreiten und vervielfältigen.
Dank an den Rubikon, www.rubikon.news, wo dieser Artikel zuvor erschienen ist.
Die Frauenaltersarmut ist vorprogrammiert! Und sollten wir einen Kredit benötigen, um eine notwendige Reparatur durchführen zu können, dann werden wir ihn nicht bekommen, denn dann sind wir zu alt und nicht mehr kreditwürdig!
Die Bank meines Vertrauens, der ich jahrzehntelang vertraut habe, die ist nun nicht mehr zuständig und verweist mich freundlich, aber bestimmt an das zuständige Amt und da verliere ich dann noch den Rest meiner Würde!
Armut und Würde, geht nicht – weil nicht gewollt!