Das war’s, Martin!

 In FEATURED, Kultur, Politik (Inland), Spiritualität

Herr und Frau Luther im ARD-Fernsehfilm

Arme Abendland! Die christlich-humanistische Bildung, die die meisten Menschen vergessen oder in sich abgetötet haben, muss nun lautstark gegen einen vermeintlichen Feind verteidigt werden. Nicht unbedingt der islamische Glaube irritiert, es ist die Tatsache, dass überhaupt noch Menschen ernsthaft an etwas glauben. Die Reformationsfeierlichkeiten des Jahres 2017 sind eine Chronik verpasster Gelegenheiten. Man hätte auf die Demokratisierung der Bildung verweisen müssen, die u.a. Luthers Verdienst ist. In Zeiten des Insektensterbens sind wir zugleich in einer Ära des Niveausterbens gelandet. Und der Aufschrei erfolgt erst, wenn es fast schon zu spät ist. Textverständnis und Liebe zur Sprache erodieren. Die Zeiten stinken, und die Kirchen schweigen. “Sorry, good old Marty Luther”, könnte man in Anlehnung an Reinhard Mey ausrufen. (Ludwig Schumann)

Für Thüringen spricht Schiller. Zumindest an der Autobahn. Und irgendwie habe ich das Gefühl: Ja, Mann, klasse. Da steht der Revoluzzer unter den klassischen Dichtern für mein Geburtsland. Sachsen-Anhalt stellt sich gewohnt verschwurbelt als “Ursprungsland der Reformation” vor. Das trieft geradezu vor Sinnlichkeit. Immerhin haben sie ein gemeinsames Hobby, der Schiller und der Luther: Äpfel. Schiller brauchte für seine Kreativität den Geruch verfaulender Äpfel. Luther wollte die Bäume dazu pflanzen. Ach, Fake News. Das hat ihm ein Pfarrer im 19. Jahrhundert angedichtet. Ich sag’s ja, er ist verloren, der Martin. Zumindest hat er verloren. Die Kinder, die am 31. Oktober unterwegs waren, feierten 500 Jahre nach dem Thesenanschlag offensichtlich kein Luther-Zombiefest, sondern einfach Halloween. Das ist die Bedeutung dieses Tages, die sie kennen. Da hilft auch kein Luther-Bonbon als Türgabe.

Dass der Martin etwas mit der Schule zu tun hat, genauer, dass die Reformation der Anlass für eine Demokratisierung der Bildung war, macht ihn für heutige Kinder in Deutschland nicht interessanter, schon gar nicht beliebter. Die Reformation setzte die Schule für alle auf die Tagesordnung. Der Glaubende sollte seine Bibel lesen können, damit er nicht der Predigt des Pfarrers hilflos ausgesetzt ist, sondern kritikfähig wird. Von syrischen Kindern in Schulklassen lernen unsere Kinder manchmal staunend, dass man neugierig auf Bildung sein kann, dass es ein Glück sein muss, Wissen anzureichern, dass Schule etwas Wunderschönes ist. Bis zur Reformation gab es eine Bildung lediglich für Eliten. Nun also für alle.

Heute stehen wir wieder an einem Scheideweg. Natürlich gibt es die Eliten noch, gibt es deren Kinder, die klug sind, Karrieren starten, alles wie gehabt. Wie gehabt? Nein, weil immer mehr Schüler bildungsmäßig abgehängt werden. Parallel zum sozialen Abriss in der Gesellschaft gibt es den der Bildung.

Haben Sie mal Bilder gesehen, wenn eine Brücke in Schwingungen versetzt wird, wie schnell das Ganze unkontrollierbar wird und schließlich zum Zerreißen führt. Plötzlich bricht sie auseinander und reißt, was darauf fuhr oder lief, in den Abgrund. Das passiert gerade in unserer Gesellschaft. Der Konsens kommt unserer Gesellschaft abhanden. Ein gutes Einkommen und eine gute Bildung sind die Schmiermittel für den Konsens. Kann ich aber nicht einmal den Tag bestreiten mit dem, was ich erarbeite, bin ich dem bildungsfernen Fernsehen erlegen, ist es egal, ob die Kinder in der Schule erscheinen oder nicht und was sie dort treiben, gibt die Bürgergemeinschaft etwas auf, was sie als Zeichen der Unabhängigkeit voller Stolz aus der Reformation gewann: Die Wahrnehmung der sozialen Verantwortung über den „gemeinen Kasten“ statt der Almosen der Kirche und die Bildung für alle, die ja nicht nur die Möglichkeit dazu enthielt, sondern auch die nachkontrollierbare Verpflichtung dazu. Da hätten wir die beiden wichtigsten Themen des Jubiläums, die nicht nur am Rande hätten vermittelt werden müssen. Margot Käßmann aber sagt bei Tagesschau online, dass wir bei diesem Jubiläum auch Luthers schwierige Seiten definiert haben, den Antisemitismus, den Antiislamismus und so weiter.

Das steht da am Ende. Ich verstehe es nicht. Das war seit Jahrzehnten und länger bekannt. Und auch hier müsste man ganz andere Fragen stellen: Zumindest wissen wir, dass nicht nur Luther, sondern alle Humanisten ähnlich dachten. Sie dachten im Zeitgeist. Ja, und auch ein Genie wie Luther konnte sich offenbar seinerzeit nicht in allem über den Geist seiner Zeit erheben. Wenn wir aber an die Gemeindekirchenratswahlen zu Beginn der Nazizeit denken, also rund vierhundert Jahre später: Nicht die Bekennende Kirche ging daraus als Sieger hervor, sondern die Deutschen Christen, die mit vielem auch den von den Nazis gewünschten Antisemitismus aufnahmen. Und heute? Das muss ich jetzt nicht ausführen. Ich weiß nur nicht, womit wir uns brüsten sollten, weiter zu sein?

„Storm? Ach du Gott! Welcher Schüler will denn das heutzutage lesen. Solchen langweiligen Kram!“ So dieser Tage eine Deutschlehrerin im Lehrerzimmer. Real News! Meine Lehrer brannten noch für das, was sie mit uns lasen: Storm, Schiller, Tolstoi. Bald entdeckte ich für mich den jungen Majakowski. Es lag da ein weites Feld vor uns. Wir waren bei Martin? 500 Jahre Reformation? Hat ja auch etwas mit Literatur zu tun. Sozusagen von der Sprache angefangen. Ist aber bestenfalls noch ein Randthema. Wobei er ein Hauptthema im Literaturunterricht sein müsste, zum Thema: Woher kommt unsere Sprache und was hat sie mit Wahrnehmung zu tun, auch mit Zeitgeist? Um das Wissen für morgen aufzubereiten, braucht es die Kenntnis der Wurzeln. Gut, aber was haben die Feierlichkeiten ansonsten noch gezeigt? Dass sich die Kirche an den Rand der Gesellschaft laboriert hat. Zu leise, zu begütigend, zu wenig gesellschaftskritisch. Wessen Stimme ist sie? Sie hat sich bis zur Unkennbarkeit verschwiegen. Es spricht doch Bände, wenn die einzige Gemeinde in Sachsen-Anhalt, die wuchs – seit dem politischen Umbruch übrigens auf 200 Prozent! – die Magdeburger Domgemeinde ist, also die ehemalige Gemeinde des Dompfarrers Quast, der sich keine Zügel hat anlegen lassen.

Und seltsam, im Zuge der zehn Jahre anhaltenden Reformationsjubiläumsvorbereitung im säkularen Reformationsland mit vielleicht noch zwanzig Prozent eingeschriebener Christen formiert sich eine Gruppierung zum Schutze des christlichen Abendlandes. Gegenüber dem behaupteten Überrolltwerden durch den Islam, wofür man bei ca. 3 Prozent Ausländeranteil wohl das Bild der Lawine bemühen muss, um sich ordentlich zu fürchten, besinnt man sich der Herkunft. Ein Volk, das am 31. Oktober Halloween feiert, dass bei Umfragen nach der Bedeutung von Weihnachten auf ein Geschenkefest verweist, das also religiös verwaist ist, trägt plötzlich das christliche Abendland vor sich her. Mit Urangst in den Gesichtern. Nur ist das nicht die Angst, die angestammte Heimat, also das christliche Abendland, zu verlieren, sondern vielmehr die Angst des säkularen Menschen, dass ein Glaube an ihn herangetragen werden soll, dem er sich hilflos ausgeliefert weiß. Er kann sich ja nicht mit der Ausrede, einen anderen Glauben zu besitzen, herausreden; zugleich steckt er aber voller Ängste, bekennen zu müssen, dass er keinen Glauben hat außer der Angst vor der Verbindlichkeit.

Dieses christliche Abendland-Verständnis hat nichts, aber auch gar nichts mit der Reformation zu tun. Mit Angst reformiert man auch keine Gesellschaft, im Gegenteil: Angst zerfrisst sie. Angst kann freilich wunderbar gedeihen, wenn ein großer Teil der Gesellschaft aus dem gemeinsamen Bildungskontext fällt. Es ist ein schleichender, kaum aufzudeckender Prozess: Erst verschwinden die Insekten aus der Landschaft. Eines Tages hängen keine Äpfel mehr am Baum, oder viel weniger als gedacht. Man hört kaum noch Vogelstimmen. Es schreit niemand. Es wird einfach leiser. Wenn es zu spät ist, will man zur Umkehr blasen. Auch das wäre ein Thema der Reformationsfeierlichkeiten gewesen: Wie sähe eine Schulreform 2017 aus, angesichts der Bildungskrise, die beim besten Willen nicht mehr zu übersehen ist, es sei denn, man sitzt einem Ministerium vor.

Nur mal als Beispiel: Als ich vor vier Jahren in einer Schule im ländlichen Raum eine Schreibwerkstatt durchführte, war es selbstverständlich, dass die gesamte Klasse antrat. Die Schüler beherrschten ihr Handwerk, nämlich Lesen und Schreiben. Vier Jahre später ist dazu nur noch die Hälfte der Klasse in der Lage – und, genau genommen, können von den für die Schreibwerkstatt vorgesehenen vierzehn Schülern nur noch vier oder fünf eine Geschichte tatsächlich schriftlich fixieren, sofern sie an diesem Tag gerade über das Wollen und das notwendige Konzentrationsvermögen verfügen. Maschine an Brücke: Wir haben ein Problem!

Und warum ist man in der Kirche so leise, wenn es um das Wohl und Wehe der afrikanischen Bauern geht, die von ihrem Grund und Boden vertrieben werden, weil europäische Großkonzerne beispielsweise Soja anbauen wollen als Viehfutter für die elend gehaltenen Massenschweine in europäischen Ställen? Es hat immer etwas direkt mit uns zu tun. Auch die Flüchtlinge, die hier vor der Tür stehen, sind hausgemacht. Durch Landgrabbing oder Waffenverkauf. Wer A sagt, wird B aufnehmen müssen. Aber das wird nicht thematisiert. Die Bevölkerung, meine Damen und Herren Politiker, ist klüger als Sie denken. Nur redet ja keiner mit ihnen. Also gehen sie das christliche Abendland verteidigen. Und wenn ich mir das Gezerre um Jamaika anschaue, sehe ich, dass niemand den Schuss aus den letzten Wahlen wirklich gehört hat. Ja, die Reformation, äh, der Luther, der war damals gar nicht so gut, so heldenhaft, wie ihn das 19. Jahrhundert sah? Kein Vorbild? Oh, welch wichtige Erkenntnis, wenn man sonst keine Probleme lösen will.

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