Den Hetzern trotzen
Mindestlöhner müssen sich mit Bürgergeldbeziehern gegen die Spaltungskampagnen verbünden. Preisexplosionen bei Energie und Lebensmitteln bringen vor allem Arme in Bedrängnis. Trotzdem steigt der Mindestlohn nächstes Jahr um nur 3,4 Prozent — zu wenig, um die Inflation aufzufangen. Derweil hebt die Ampel das Bürgergeld um zwölf Prozent an, was manch ein Geringverdiener als ungerecht empfindet. Den Frust wiederum schlachten die Medien trefflich aus, um Beschäftigte gegen Erwerbslose aufzuhetzen — ein Teufelskreislauf, der letztlich beiden Gruppen schadet. Besser wäre es, den Ist-Zustand zu analysieren und Möglichkeiten des politischen Kampfes auszuloten. Susan Bonath
Ich werde ein paar Fragen zu Recht enttäuschter Beschäftigter untersuchen und über Möglichkeiten nachdenken. Eine perfekte Lösung kann ich aber nicht liefern, zumal einer solchen im gegenwärtigen System der grundlegende Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit entgegensteht. Dieser führt zu gegensätzlichen, unversöhnlichen Interessen von Eigentümern der Produktionsmittel und des sie schützenden Staats auf der einen, und Lohnabhängigen auf der anderen Seite.
Warum wurde das Bürgergeld stärker erhöht als der Mindestlohn?
Das Bürgergeld stellt dem Vernehmen nach das Existenzminimum dar, es ist also eine Grundsicherung. Diese Art Sozialleistungen zahlt ein kapitalistischer Staat keineswegs aus Menschlichkeit, sondern nur aus einem Grund: um Revolten zu vermeiden und schlimmste soziale Verwerfungen zu verhindern, die einen Anstieg der Kriminalität zur Folge hätten, der nicht mehr zu bewältigen wäre.
Die Höhe des Bürgergeldes ist eine politische Entscheidung. Diese Leistung soll die grundlegendsten menschlichen Bedürfnisse decken. Doch gerade bei diesen Grundbedarfen sind die Preise besonders stark in die Höhe geschossen. Laut Statistischem Bundesamt stieg beispielsweise der Preis für Lebensmittel zwischen August 2020 und August 2023 um 33 Prozent, bei Strom sogar um rund 55 Prozent.
Dementgegen wurde Hartz IV, heute Bürgergeld, seit 2020 bis jetzt gerade einmal um 16,2 Prozent angehoben. Der aktuelle Satz gleicht also die Inflation nicht aus. Ab kommendem Jahr soll es, sofern die angekündigte Steigerung tatsächlich kommt, rund 30 Prozent mehr geben als noch im Jahr 2020. Der Kaufkraftverlust wäre damit noch immer nicht vollständig, aber zumindest fast ausgeglichen.
Der Mindestlohn hingegen ist Sache von Verhandlungen der Gewerkschaften mit den Kapitaleignern und ihren Verbänden. Da letztere in der Mindestlohn-Kommission stärker vertreten sind, konnten sich die eher zahnlosen SPD-nahen Gewerkschaften des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) nicht durchsetzen.
Das von der SPD gepredigte Konzept der vermeintlichen Sozialpartnerschaft zwischen Unternehmern und Arbeitern ist also wieder einmal — wenig verwunderlich — kläglich gescheitert. Das liegt am grundsätzlichen Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit im Kapitalismus: Die Privateigentümer der Produktionsmittel wollen mit möglichst niedrigen Lohnkosten maximalen Profit erwirtschaften. Verbesserungen müssen Lohnabhängige erkämpfen, alles andere ist Augenwischerei.
Wie hat sich der Mindestlohn tatsächlich entwickelt?
Wie gesagt stiegen die Preise für Lebensmittel zwischen August 2020 und August 2023 um 33 Prozent, die Preise für Energie um 55 Prozent. Andere Posten haben sich geringer in unterschiedlicher Höhe verteuert. Aber für absolute Grundbedürfnisse müssen eben auch Geringverdiener einen hohen Teil ihres Lohns ausgeben. Darum vergleichen wir auch die Mindestlohn-Entwicklung damit.
Der Mindestlohn stieg in dieser Zeit von 9,35 Euro im Jahr 2020 auf 10,45 Euro ab Juli 2022, also um zwölf Prozent. Dann griff die Politik ein und erhöhte ab Oktober 2022 den Mindestlohn auf zwölf Euro pro Stunde Dies sind 28 Prozent mehr als noch zwei Jahre zuvor — was die Inflation bei Lebensmitteln fast, aber nicht vollständig ausgleicht. Dieses Zugeständnis kam also nicht von den Unternehmern, sondern von der Politik.
Ab 2024 soll es mit der neuen Erhöhung 33 Prozent mehr Mindestlohn geben als vier Jahre zuvor. Sollte die Inflation nicht weiter steigen, würde die untere Lohngrenze somit zumindest die Preissteigerungen bei Lebensmitteln geradeso abfedern — im Gegensatz zum Bürgergeld, wo es nicht ganz reicht.
Festzuhalten bleibt also Folgendes: Der Mindestlohn stieg tatsächlich seit 2020 stärker als das Bürgergeld. Dies kam allerdings nicht durch Zugeständnisse der Unternehmerseite zustande, sondern war nur durch einen politischen Eingriff möglich.
Die geplante Erhöhung des Bürgergeldes übersteigt somit nicht die tatsächliche Entwicklung des Mindestlohns im Zeitraum 2020 bis 2024, auch wenn dieser aktuell nur um 3,4 Prozent angehoben wird. Die Politik sorgte bei den Beschäftigten schon zeitiger für einen annähernden Inflationsausgleich.
Lohnt sich arbeiten finanziell nicht mehr?
Eine Parole, die stets durch die Medien getrieben wird, lautet: Eine hohe Grundsicherung bereite „Faulpelzen“ die Hängematte und arbeiten lohne sich nicht mehr. Würde dies stimmen, hätten die Konzerne und Betriebe jedoch längst mit Massenkündigungen seitens der Beschäftigten zu kämpfen. Dies ist nicht der Fall, und der Grund liegt auf der Hand: Wer arbeitet, hat eben doch mehr.
Das erschließt sich bereits aus den Freibeträgen, die beim Bürgergeld ausschließlich für Erwerbseinkommen — nicht aber für Kindergeld oder Unterhalt — gelten. Denn gering verdienende Beschäftigte können mit Bürgergeld aufstocken, wobei diese Freibeträge nicht als Einkommen angerechnet werden. Dazu gehören die ersten 100 Euro insgesamt sowie 20 Prozent von 101 bis 520 Euro, 30 Prozent von 521 bis 1.000 Euro und zehn Prozent für das Erwerbseinkommen darüber.
Nehmen wir als Beispiel eine fiktive alleinstehende Person in Leipzig. Das Jobcenter erstattet dort maximal rund 402 Euro für die gesamte Warmmiete. Würde diese Person, sagen wir, 398 Euro Warmmiete zahlen, bekäme sie ohne Arbeit 502 plus 398, insgesamt also 900 Euro.
Hätte diese Person nun eine Arbeitsstelle als Reinigungskraft für 1.000 Euro netto monatlich, könnte sie trotz übersteigender Höhe mit Bürgergeld aufstocken. Denn ihr stünde ja der Freibetrag von insgesamt 328 Euro zu. Das Jobcenter würde also nur 672 Euro als Einkommen berechnen und ihr monatlich 228 Euro dazugeben. Insgesamt hätte diese Person dann also 1.228 Euro zur Verfügung, ohne diese Arbeitsstelle müsste sie von insgesamt 900 Euro leben. Das ist schon ein spürbarer Unterschied.
Ist der Abstand zwischen Mindestlohn und Bürgergeld zu klein?
Diese Frage wird gern gestellt, um — in der Regel zu Recht — frustrierte Beschäftigte dazu zu bringen, niedrigeres Bürgergeld zu fordern.
Was die Medien aber selten dazusagen: Je niedriger das Bürgergeld als absolute Grundsicherung für alle Lohnabhängigen bei Erwerbslosigkeit ist, desto schlechter ist die Verhandlungsposition von Beschäftigten gegenüber ihren sogenannten Arbeitgebern.
Zunächst einmal kann eine Entlassung fast jeden Beschäftigten treffen, zum Beispiel, wenn das Unternehmen pleitegeht. Und wer schon älter ist, vielleicht die eine oder andere Erkrankung hat, wird es schwer haben, eine neue, einigermaßen bezahlte Arbeitsstelle zu finden, die bestenfalls noch seinen Qualifikationen entspricht.
Je schlechter lohnabhängig Beschäftigte in so einem realistischen Fall finanziell aufgefangen werden, desto weniger werden sie sich trauen, für höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen zu kämpfen. Denn wer fürchten muss, im Fall einer Kündigung im Elend zu landen, traut sich natürlich weniger, seinem Chef zu widersprechen oder gar zu streiken. Es droht ja immer ein viel schlimmeres Übel.
Andersherum ist eine niedrige und repressive, wie die derzeit mit Sanktionen behaftete Grundsicherung, die alle fürchten, eine Einladung für Lohndrücker und Ausbeuter. All jene, die mangels eigener Produktionsmittel gezwungen sind, ihre Arbeitskraft zu verkaufen — also die allermeisten Menschen in Deutschland — sind viel erpressbarer, als sie es mit einer guten, repressionsfreien Grundsicherung wären.
Nicht ohne böse Absicht hatte die damals rot-grüne Bundesregierung unter Altkanzler Gerhard Schröder ab 2005 Hartz IV eingeführt. Mit niedrigen, der Sozialhilfe angeglichenen Regelsätzen und harten Sanktionen sollten Beschäftigte erpressbarer gemacht werden, für miserable Löhne und Arbeitsbedingungen zu schuften. Die gelungene Folge war beabsichtigt: der Aufbau eines riesigen Niedriglohnsektors.
Die Schlussfolgerung daraus kann nur sein, dass Lohnabhängige gemeinsam sowohl für eine möglichst hohe Grundsicherung als auch für möglichst hohe Mindestlöhne kämpfen müssen, um der Aushöhlung ihrer Rechte entgegenzutreten und den schlimmsten Formen der Ausbeutung Einhalt zu gebieten.
Statt über eine vermeintlich zu hohe Grundsicherung zu schimpfen, wenn der Abstand zum Mindestlohn als zu gering empfunden wird, gilt es, einen höheren Mindestlohn zu verlangen. Man stelle sich vor, alle Beschäftigten mit Mindestlohn oder knapp darüber würden in Absprache gleichzeitig streiken — sowohl für höhere Gehälter als auch für mehr Bürgergeld. Selbst wenn nur letzteres angehoben würde, ginge es den Niedriglöhnern besser: Viele könnten dann aufstocken und hätten am Ende des Tages mehr in der Tasche.
Wie notwendig ist der Arbeitskampf?
Ein hohes Bürgergeld, mit dem viele Beschäftigte im Niedriglohnsektor aufstocken können — und dann auch mehr Geld haben als Erwerbslose — entpflichtet aber nicht vom Arbeitskampf. Man darf nicht vergessen, dass sämtliche Verbesserungen für Arbeiter in den letzten 150 Jahren fast ausschließlich ein Produkt von Arbeitskämpfen sind.
Denn könnten Kapitaleigentümer wie sie wollten, würden sie gerade so viel Lohn zahlen, dass ihre benötigten Beschäftigten nicht verhungern. Dies täten sie dann nicht aus böser Absicht, sondern weil schlicht der Kapitalismus so funktioniert: Wer die geringsten Löhne zahlt, spart die meisten Kosten, schöpft den meisten Mehrwert ab und erzielt den höchsten Profit. Kapitalisten, die dabei nicht mitmachen, gehen unter.
Bleiben nun Arbeitskampf und Lohnerhöhungen aus, während die Politik das Bürgergeld erhöht, ergäbe sich eine fatale Entwicklung: Die Grundsicherung würde zunehmend zu einer Subvention der Löhne zugunsten von Ausbeutern, wofür wiederum vor allem Arbeiter mehr ausgepresst werden. Höhere Löhne brächten indes höhere Steuereinnahmen, was auch den Sozialkassen zugutekäme.
Von „leeren Sozialkassen“ und der „Leistungsgesellschaft“
Es gäbe weitere Möglichkeiten, um die Sozialkassen aufzufüllen: Zum Beispiel könnte die Politik die seit Ende der 1990er Jahre ausgesetzte Vermögenssteuer wieder einführen. Zudem könnte sie superhohe Einkommen, vor allem Kapitaleinkünfte wie etwa Aktiengewinne, viel höher besteuern, um einen sozialen Ausgleich zu schaffen. Und sie könnte die Erbschaftssteuer reformieren, beispielsweise das Vererben eines selbstbewohnten Häuschens verbilligen und die Weitergabe riesiger Privatvermögen massiv verteuern.
Damit würde die Politik ihrer eigenen Dauerpropaganda von einer „leistungsgerechten“ Gesellschaft auch mehr Rechnung tragen. Schließlich machen riesige Vermögenserbschaften zwar reich, dies aber, ohne dafür eine Leistung zu erbringen. Dass all die Besitztümer Superreicher aus eigener Hände Arbeit stammen, ist ja ein seit Ewigkeiten widerlegtes Ammenmärchen, genauso wie die Story von der „Leistungsgesellschaft“.
Fakt ist auch: Die Technologie schreitet voran, und Unternehmen benötigen immer weniger Arbeitskräfte, um entsprechende Profite zu erzielen. Längst müssten wir alle bei vollem Lohnausgleich drastisch weniger arbeiten. Weil das mit Privateigentümern von Produktionsmitteln allerdings nicht freiwillig zu machen ist, wird es künftig eher mehr als weniger Erwerbslose geben, sofern der Kampf von unten ausbleibt. Man kann kaum wollen, all die überflüssig werdenden Lohnabhängigen verhungern zu lassen. Schon weil man in diesem Falle irgendwann vielleicht selbst an der Reihe wäre.
Wohlstand für alle — nur eine schräge Utopie?
Alternativ könnten geschröpfte Lohnarbeiter natürlich dafür eintreten, die Produktionsmittel — also Grund und Boden, Rohstoffe, Maschinen und so weiter — gleich in die Hände der Gesellschaft zu geben. Dann könnten die Arbeitenden endlich selbst bestimmen, was sie produzieren und was nicht, und auch womit.
Kein milliardenschwerer Großaktionär säße mehr faul vor seiner Villa an seinem Privatpool herum, während er Beschäftigte wie Zitronen ausquetscht. Eine alte Forderung früherer Linker lautet: Bonzen in die Produktion! Ihrer Integration in die Gesellschaft würde dies zweifelsohne auf die Sprünge helfen.
Man stelle sich vor, all das viele im Profitrausch abgepresste Geld, das jetzt in Luxusanwesen, Yachten und den pompösen Lebensstil der Superreichen fließt, käme der ganzen Gesellschaft zugute. Was könnte man damit alles aufbauen: Günstige Freibäder und Schwimmhallen in jeder Kleinstadt, Kinos und Theater, Parks und Naturschutzgebiete, Kinderspielplätze und Therapiezentren, Krankenhäuser und Pflegeheime, die diesen Namen verdienen, und vieles mehr. Nun, man kann ja mal träumen.