Florian Ernst Kirner: Sie haben heute Ihren Austritt aus der SPD erklärt. Bevor wir uns damit beschäftigen: Wann sind Sie in die SPD eingetreten? Und wofür stand damals für Sie die SPD?
Marco Bülow: Ich bin vor gut 26 Jahren in die SPD eingetreten. Damals als junger Student. Auch da gab es schon Diskussionen oder einzelne Punkte, die ich nicht unbedingt richtig fand oder mir anders hätte vorstellen können. Aber die SPD verkörperte eine soziale Politik und eine Friedenspolitik, eine Abrüstungspolitik, für die Leute wie Willy Brandt, Erhard Eppler oder Egon Bahr standen. Die SPD stand damals für mich auch für das Zusammenbringen von ökologischen und sozialen Fragen. Es ging mir um eine ganze Reihe grundsätzlicher Werte.
Dazu kam eine Historie, die bewegt und bewegend war und bei der trotz aller Brüche immer klar war, dass man für die Menschen da ist — und zwar für die Menschen, die für ihre Rechte kämpfen müssen und die nicht schon von alleine gut dastehen.
Und die SPD war eine vielfältige Partei. Es war deutlich, dass in so einer großen Partei viele Positionen ihren Platz haben, die man aber gemeinsam bündelt zu einer konkreten sozialdemokratischen Politik.
Bleiben wir beim letzten Punkt, bei der internen Atmosphäre und der innerparteilichen Demokratie. Wie hat sich das verändert von der SPD, in die Sie eingetreten sind, zu der SPD, aus der Sie heute austreten?
Das hat sich leider massiv verändert. Das ist vielleicht sogar der größte Unterschied zu der Zeit vor 26 Jahren und auch noch danach. Ich bin jetzt seit 16 Jahren Bundestagsabgeordneter und zu Anfang habe ich eine sehr vielfältige Fraktion erlebt, mit unterschiedlichen Meinungen und Richtungen.
Nehmen wir mal die Umweltpolitik und die ökologische Frage. Wir hatten Leute wie Hermann Scheer, Ernst Ulrich von Weizsäcker und Michael Müller. Auf der anderen Seite des Spektrums standen dann harte Industriepolitiker wie Wolfgang Clement. Trotzdem konnte man in dieser Fraktion Dinge wie das Erneuerbare-Energien-Gesetz oder den Atomausstieg durchkämpfen.
Das war doch sehr gut und es gab breit geführte Diskussionen auf sehr hohem Niveau. Das gibt es so gut wie gar nicht mehr. Die SPD ist ziemlich eindimensional geworden, sehr einseitig. Aktuell werden die ganzen Groko-Gegner komplett an die Wand gedrückt. Das sind sehr viele, und es sind längst nicht mehr alle für die Groko, die bei der Abstimmung zugestimmt haben, dass wir wieder in die Groko reingehen.
Trotzdem werden die Groko-Gegner isoliert und nicht miteinbezogen. Alle Kritiker, die etwas andere Positionen haben als die Parteispitze, werden rausgedrängt und isoliert. Es ist total stromlinienförmig geworden, alles wird besetzt mit Leuten, die alles absegnen und abnicken, wenn sie überhaupt einmal um ihre Meinung gefragt werden. Will man mitbestimmen oder in der Partei Karriere machen, dann kann man das nur noch, wenn man dem huldigt, was die Parteispitze vorgibt.
Die Mitgliedschaft der SPD hat sich nahezu halbiert. Wer ist dabei ausgetreten und wer ist übriggeblieben? 42 Prozent der SPD-Mitglieder arbeiten im Öffentlichen Dienst. Wie lebendig ist diese Partei an der Basis, in den Ortsvereinen?
Es gibt schon noch sehr lebendige Ortsvereine, aber auch das nimmt deutlich ab. Die Mitgliedschaft hat sich halbiert von 1998 bis 2016/2017. Dann sind wegen der Groko-Diskussion wieder ein paar dazugekommen oder auch wegen dem Hype um Martin Schulz. Aber jetzt treten wieder massiv Leute aus.
Auch die Zahl der Wähler hat sich halbiert seit 1998. Und nach den Umfragen, die leider inzwischen sehr stabil sind, ist davon noch einmal ein Drittel weggegangen — innerhalb eines einzigen Jahres!
Das ist nicht nur ein Rückgang oder ein Schwund. Das ist der freie Fall. Und selbst der wird nicht zur Kenntnis genommen.
Nun habe ich schon eine Zeit lang die Hoffnung aufgegeben, dass die Spitze der Partei endlich begreift, was die Stunde geschlagen hat, und umsteuert. Dieses ständige „Wir erneuern uns!“, aber es passiert eben nichts und man macht weiter so, ist unerträglich.
Insofern ist mir klar, dass die Lage nur noch veränderbar ist durch einen Aufstand von unten. Aber genau dieser Aufstand der Parteibasis kommt nicht. Und das liegt sicher auch daran, dass die Mitgliedschaft sich verändert hat. Die Konstruktiv-Kritischen sind zum großen Teil längst raus aus der Partei oder zumindest in der inneren Emigration und sind nicht mehr aktiv.
Diejenigen, die aktiv sind, sind dann oft Leute, die in Verwaltungen sitzen oder sogar direkt abhängig sind von der Partei, weil sie von der SPD auf die Position gebracht worden sind, die sie jetzt besetzen. Die Konstruktiv-Kritischen, die verbleiben, reichen nicht aus, um diese Partei zu verändern.
Aber jetzt gibt es doch einen Erneuerungsprozess, mit Debattencamps und einer fröhlichen Andrea Nahles. Was halten Sie denn davon?
Das ist ein hilfloser Versuch, mit einem fancy Debattencamp, das durchgestylt ist mit schönen Foren und Hochglanzbroschüren, zu punkten. Grundsätzlich hätte ich nichts dagegen einzuwenden. Ich bin immer sehr dafür, vor allem die Jüngeren anzusprechen, die ja gar nicht mehr in Parteien gehen.
Aber diese Inszenierungen einer lebendigen Partei sollen vor allem darüber hinwegtäuschen, dass die zentralen Inhalte nicht angepackt werden. Da wird bei Positionen ab und zu mal links geblinkt, aber dann wird das sofort wieder zurückgenommen. Oder man sagt, das finden wir zwar richtig, aber können es leider sowieso nicht durchsetzen.
Bestenfalls werden von dieser Groko-SPD einige minimale Reparaturen an Zuständen durchgeführt, für die man selbst verantwortlich ist, weil man sehr lange eine knallharte, neoliberale Politik gemacht hat. Und selbst diese Korrekturen werden schon in Kompromissen gedacht, weil man dazu ja die CDU/CSU braucht. So werden schon jede Menge Abstriche gemacht, bevor überhaupt mit der Union gesprochen wird. Am Ende bleibt nicht viel übrig.
Da hilft uns kein Debattencamp. Die Struktur der SPD ist altbacken. Es wird alles von oben vorgegeben und nach unten durchgereicht. Ab und zu wirft man jetzt der Basis ein Debattencamp oder eine Regionalkonferenz hin. Deren Ergebnisse landen aber zuverlässig in der Schublade und werden da auch nie wieder herausgeholt.
Jetzt zoomen wir mal in Ihr bisheriges Arbeitsumfeld, die SPD-Bundestagsfraktion. Sie gehören zu den wenigen, die sich auch erlauben, die Fraktionsdisziplin zu brechen. Oft sind Sie der Einzige. Aktuell haben Sie den Bundeshaushalt abgelehnt. Was passiert, wenn man dagegen stimmt?
Prinzipiell ist das schon eine harte Nummer, wenn man das tut. Nicht nur bei einem Bundeswehreinsatz, die ich ja regelmäßig abgelehnt habe, sondern speziell bei der Abstimmung über den Haushalt.
Dabei ist das das höchste Recht des Parlamentes: über den Haushalt zu bestimmen!
Ich kritisiere schon lange, dass wir Abgeordneten der Regierungsfraktionen nur noch abnicken, was die Regierung vorgibt. Das Parlament ist längst nicht mehr die Entscheidungsmitte. Aber die Bundestagsfraktionen sollten souverän sein und selbstbewusst genug, eigene Anträge zu machen, eigene Gesetzesentwürfe zu entwickeln und einzubringen. Die Fraktionen sollten konstruktiv-kritisch mit der Regierung umgehen, aber das würde eben auch bedeuten, an einigen Stellen zu sagen: „Nein, das geht so nicht, liebe Regierung!“ oder auch mal zu sagen: „Das wollen wir, und das setzen wir jetzt durch.“
In der Realität und vor allem bei den wichtigen Entscheidungen winken die Regierungsfraktionen eins zu eins das durch, was ihnen die Regierung vorgibt.
Das ist nicht nur ein Problem der SPD. Das ist generell so im Bundestag. Aber die SPD macht es eben auch nicht besser und die Fraktion hat sich, wie beschrieben, stark verändert. Leider entwickelt die SPD-Fraktion keinerlei Eigenleben, und das, obwohl wir ja die Quittung für diese Politik längst und immer wieder bekommen. Die Leute vertrauen uns überhaupt nicht mehr und die SPD hat jegliche Glaubwürdigkeit verloren.
Eines Ihrer Hauptthemen ist der Kampf gegen Lobbyismus. Inwieweit hat die Entwicklung der SPD auch damit zu tun, dass verschiedene Interessengruppen sich effektiv einkaufen?
Ich kämpfe seit vielen Jahren für mehr Transparenz im Bundestag, für eine Eingrenzung des Profitlobbyismus. Es gibt einige wenige Lobbyisten, die ziemlich viel beherrschen und sehr starken Einfluss haben — auf die Parteien, auf die Ministerien, auf die Bundestagsabgeordneten. Es gibt ein totales Ungleichgewicht zwischen einerseits kleinen Organisationen und Verbänden, NGOs, aber auch kleineren Unternehmern, Mittelständlern, und auf der anderen Seite einigen großen Lobbyisten, die unglaublich viel Macht besitzen und ein- und ausgehen in den Ministerien und bei den Abgeordneten.
Leider ist dieser Einfluss auch bei der SPD sehr stark. Das treibt mich seit jeher um. Deswegen kämpfe ich für ein Lobbyregister, für mehr Transparenz, für einen Fußabdruck in Gesetzen, wo drinsteht, wer daran mitgearbeitet hat.
Ich möchte auch nicht, dass man vom Bundestag direkt als Lobbyist in die Wirtschaft wechselt. Und zwar macht man das ja nicht, weil man ökonomischen Sachverstand hat. Sondern man geht in die Wirtschaft, weil man die Telefonnummern von anderen Abgeordneten und politische Kontakte hat. Selbstverständlich wird man da willfährig.
Leider hat die SPD da keinen Riegel vorgeschoben, obwohl man ganz andere Parteibeschlüsse hat. Die SPD hat auch keinen Versuch unternommen, ein Lobbyregister einzuführen. Und Cum-Ex und der Dieselskandal sprechen eine klare Sprache. Am Ende sind die Verbraucher die Dummen. Und die großen Konzerne, die Abzocker, kommen ungeschoren davon — mit Hilfe der Politik. Oft genug leider auch mit Hilfe der SPD.
Sie haben bis zum Schluss gekämpft und mit der „Progressiven Sozialen Plattform“ eine Basisinitiative in der SPD gestartet. Sie sind auch Gründungsmitglied der Sammlungsbewegung „Aufstehen“. Ist das grundsätzlich eine Antwort auf die von Ihnen beschriebene Situation? Muss man die Gestaltungsmacht, eine Gesellschaft zu verändern, anderswo aufbauen als in Parteien und Parlament?
Ich bin zumindest der Meinung, dass man an verschiedenen Fronten kämpfen muss. Auch weil der Bundestag in vielen Fällen nur noch Erfüllungsgehilfe der Regierung ist. Zumal wir uns ja in Deutschland nicht trauen, eine Minderheitsregierung zu machen. Dadurch gibt es immer Mehrheitsfraktionen, die die Regierung unterstützen und alles wird so durchgesetzt, wie die Regierung es vorgibt.
Das geht schon in Richtung Post-Demokratie. Wir haben eine klar demokratische Fassade und schon auch noch einige Dinge, die funktionieren. Aber eigentlich regieren Stillstand und Alternativlosigkeit.
Es wäre wichtig, den Bundestag wieder zur Entscheidungsmitte und die Abgeordneten wieder souveräner zu machen. Laut Grundgesetz sind die Abgeordneten nur ihrem Gewissen verpflichtet, nichts und niemand anderem.
Natürlich ist man auch seinem Wahlkreis verpflichtet, also den Menschen, die einen aufgestellt und die einen gewählt haben. Aber ganz sicher nicht einer Fraktionsspitze oder der Regierung oder einem Minister. Dieses Selbstverständnis fehlt den allermeisten Abgeordneten. Das müsste sich dringend ändern.
Nachdem das aber nicht so ist, muss Druck von außen aufgebaut werden. Das ist aber immer richtig in einer Demokratie. Demokratie kann nicht allein darauf gründen, dass man alle vier Jahre seinen Stimmzettel ausfüllt. Bei den Problemen und bei dem Stillstand, den es momentan gibt, muss es Druck von außen geben, muss es Bewegung von außen geben und müssen auch andere Themen von außen gesetzt und durchgesetzt werden. Das dürfen wir nicht den Rechten überlassen, sondern das muss breit in der Gesellschaft passieren.
Deshalb habe ich mich entschlossen, dort mitzumachen, wo versucht wird, diesen Druck durch eine massenhafte Bewegung aufzubauen.
Sie haben Ihren Wahlkreis angesprochen. Sie gehören zu denen, die nicht über die Liste in den Bundestag einziehen, wobei Sie da bei Ihrem Abstimmungsverhalten vermutlich auch wenig Chancen hätten. Sie gewinnen Ihren Dortmunder Wahlkreis direkt. Ist Ihre Entscheidung auch dem Frust der Mitglieder vor Ort geschuldet oder werden Leute empört auf Ihren Parteiaustritt reagieren?
Das wird eine Mischung sein. Man wusste ja, wen man da aufstellt und wen man da wählt. Ich bin jetzt seit 16 Jahren im Bundestag und es ist kein Geheimnis gewesen, was meine Position ist. Ich habe zum Beispiel immer gesagt: Ich werde keine Große Koalition unterstützen. Gut, im Wahlkampf haben das ganz viele von der SPD gesagt, sich dann aber nicht daran gehalten und die Große Koalition doch wieder unterstützt.
Ich bin die letzte Zeit auf Messers Schneide gegangen, weil auch ich mein Versprechen an die Wähler nicht konsequent eingehalten habe, auch wenn ich natürlich nicht alles mitgetragen habe, was diese Große Koalition macht.
Man wusste jedenfalls, man kriegt mit mir einen streitbaren Menschen, der nicht alles hinnimmt. Man wusste, dass ich vieles ganz anders sehe als die SPD-Spitze und erst recht als eine Große Koalition. Von daher habe ich meinem Wahlkreis nie etwas vorgemacht und auch nicht der Basis.
Deswegen werden die meisten vielleicht auch nicht total überrascht sein von meinem Schritt. Ich kann einfach nicht auf Dauer mit der Partei ein Konstrukt über meine Überzeugungen und Werte stellen. Aber das habe ich seit März getan. Und ich hatte das Gefühl, ich verliere jeden Tag ein Stück meiner Glaubwürdigkeit, indem ich diese Große Koalition mittrage.
Und es passiert ja nichts in der SPD. Auch nach diesen katastrophalen Wahlen in Bayern und in Hessen passiert nichts. Es gibt kein Umdenken. Es gibt keinen Erneuerungsprozess. Aber für all das stehe ich. Deswegen muss ich jetzt die Konsequenzen ziehen.
Ich werde weiter meinen Wahlkreis vertreten. Ich bleibe auch Sozialdemokrat. Und ich werde weiterhin meine Positionen deutlich machen. Aber ich werde mir meine Glaubwürdigkeit wieder zurückholen.
Sie sind damit nicht mehr Mitglied einer Fraktion. Wie kann man sich einen einzelnen Marco Bülow unter den über 600 Abgeordneten vorstellen? Verlieren Sie Zugänge? Gewinnen Sie Handlungsfreiheit?
Ja, klar, ich verliere Zugänge über die Fraktion. Aber letztendlich muss ich einfach auch zugeben, dass ich nicht mehr die Wirkung entfalten konnte, in der Fraktion Dinge zu beeinflussen und mitzubestimmen. Denn die Masse der Fraktion verteidigt und trägt mit, was in dieser Großen Koalition gemacht wird. Dafür stehe ich nicht. Und deswegen ist es für beide Seiten der richtige Schritt, sich zu trennen.
Gleichzeitig werde ich freier sein zu agieren, weil ich jetzt direkt entscheiden kann, wie ich es für richtig befinde. Ich kann auch weiterhin auf meine Themen aufmerksam machen. Und man hat auch als einzelner Abgeordnete gewisse Möglichkeiten und Rechte.
Ich gewinne Unabhängigkeit. Und dann kommt es darauf an, was außerhalb des Bundestages passiert, an Bewegungen und Aktionen, für die ich dann vielleicht auch ein Anknüpfungspunkt sein kann.
Vielen Dank für das Gespräch