Der deutsche Seufzer

 In FEATURED, Politik (Inland)

Zu unserer Geschichte gehören auch die Schattenseiten. Eine ehrliche Auseinandersetzung damit hilft, damit Wunden heilen können und eine bessere Zukunft gebaut werden kann. Das gilt sowohl für unsere individuelle Biografie als auch für das Kollektiv. Speziell wir Deutschen haben einigen Grund uns zu erinnern. Was da teilweise unter den Teppich gekehrt wurde, sollte besser wieder hervorgeholt und genau angeschaut werden. Bobby Langer

Ich hatte eine schöne Kindheit, bin über Zäune gesprungen, bin mit Bauern auf ratternden Traktoren gefahren, habe im duftenden Heu gespielt und köstliche Kirschen geklaut. Ich hatte eine schöne Kindheit. Darf ich, ja sollte ich mich nicht daran wieder und wieder erinnern? Natürlich, denn die Erinnerung wirkt stärkend. Aber nicht alles war damals Gold. Einmal, als ich in Mathematik eine Vier nach Hause brachte, hat mein Vater mich versohlt. Ich war schockiert, ich hatte mit einer Gardinenpredigt gerechnet, aber nicht mit körperlicher Züchtigung. Darf ich, ja sollte ich mich nicht auch daran immer wieder erinnern? Auf dass ich mit meinen Kindern anders umgehe? Auch das Falsche kann das Richtige zeugen.

Warum also gibt es so viele Menschen, auch in meinem persönlichen Umfeld, die meinen, wir hätten uns genug an den Holocaust erinnert? Nun sei es aber mal genug. Aus welchen Tiefen bzw. Untiefen stammt dieser allzu deutsche Seufzer?

Wenn ich ihn auf mich beziehe, denn auch ich seufze manchmal in eine scheinbar ähnliche Richtung, dann deswegen, weil mir die schier unvorstellbare Gnadenlosigkeit, zu der Menschen fähig sind, immer schwerer erträglich wird. Weil mich die Erinnerung an diese Gräuel immer noch leiden macht. Hätte mich nicht kürzlich eine Freundin in den Film „Die Persischstunden“ geschleppt – ich hatte mich vor ab nicht über den Inhalt informiert, sondern auf ihr Urteil vertraut –, ich hätte mir dieses Kondensat deutschen Ungeists und menschlicher Grausamkeit nicht angeschaut.

Vielleicht, und das ist ja eine Hoffnung, steckt hinter manchem jener Seufzer ein Leiden an der eigenen, schmutzigen Vergangenheit. Doch leider liegen manche Gründe näher: Etwa der Wunsch nach einer schwarz-rot-güldenen Erinnerung, in der ein deutsches Volk global beispielhaft der Menschheit zeigt, dass am deutschen Wesen eben doch die Welt genesen kann, an Siemens und der Deutschen Bank beispielsweise. Oder an der beispiellosen deutschen Unterwürfigkeit, die ja das Futter ist, vor dem eine vorbildliche Bürokratie auch noch jeden einzelnen Goldzahn statistisch erfassen und bewerten kann. Ein Volk vorbildlicher Seifenfabrikanten.

Womit nicht bestritten sei, dass der deutsche Kulturraum auch Vorzeigbares hervorgebracht hat, wie jeder andere Kulturraum auch. Im Guten sind wir durchaus vergleichbar – man denke nur an Einstein, Bert Brecht oder Beethoven –, im Schlechten hingegen ziemlich beispiellos. Sich an Letzteres zu erinnern, mag unangenehm, peinlich, ja sogar peinigend sein. Da verstehe ich dann schon, wenn jener Seufzer als eine Art Blähung der deutschen Seele entfährt.

Und noch einen Seufzer-Grund mag ich nennen, der mir als der wahrscheinlichste erscheint. Kennen Sie den Spruch: Wir stehen auf den Schultern von Titanen? Damit ist gemeint, dass jede kulturelle Leistung auf den Leistungen vorhergehender Generationen beruht. Letztlich eine Selbstverständlichkeit. Doch auch persönlich spüre ich, dass ich gerne auf den Taten meiner Vorfahren aufbauen möchte, aufbauen können möchte. Das ist verhältnismäßig einfach, wenn ich sagen kann: „Ich hatte eine schöne Kindheit. Mein Papa war gut zu mir.“ Wie aber, wenn mein Papa meine Mama geschlagen hat? Wenn er mich geschlagen hat, wieder und wieder? Oder wenn er ein Verbrecher war oder mein Großvater ein Nazi-Scherge? Würde ich auf einer solchen Vergangenheit aufbauen wollen, müsste ich mich mit ihr auseinandersetzen, müsste sie verdauen und meine Schlüsse daraus ziehen. Um wieviel einfacher ist es da doch, den ganzen biografischen Unrat unter den inneren Teppich zu kehren und mir meine Vergangenheit schönzureden. Und darauf zu pochen: „Nun ist es aber mal genug!“

 

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