Der fruchtbare Schoß

 In FEATURED, Politik (Inland)

Foto: Rufus46, unter Lizenz Creative Commons

Auch 75 Jahre nach dem Ende des Hitlerfaschismus ist die Gefahr nicht gebannt. Wir alle sind zur Wachsamkeit aufgerufen. 75 Jahre nach der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz am 27. Januar 2020 sowie 87 Jahre nach der Übergabe der Macht an Adolf Hitler und seine Partei des Faschismus ist die Parole der Friedensbewegung „Nie wieder Faschismus! Nie wieder Krieg!“ so aktuell wie in den Jahren nach der Befreiung Europas. Bert Brecht mahnt im Epilog des Theaterstücks Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui — einer Parabel über Hitlers Aufstieg und Machtergreifung: „Die Völker wurden seiner Herr, jedoch — Dass keiner uns zu früh da triumphiert — Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch!” Bernhard Trautvetter

Die Instabilität, der Konkurrenzdruck auf den vom Lohn Abhängigen im Kampf um Chancen auf eine gesicherte Existenzgrundlage und die Meinungsmache der Herrschenden wirkt bis in die Gegenwart fort, sodass man folgern kann: Der Faschismus war möglich und er ist möglich. Das erlegt den Demokraten eine hohe Verantwortung auf. Die heutige Situation ist nicht eins zu eins eine Wiederkehr der Situation der 1920er-Jahre.

In den 20er-Jahren dieses Jahrhundert haben wir eine antifaschistische Bewegung mit langer Tradition und Erfahrung. Aber die Kräfte, die die Neonazis als Karte in der Hinterhand halten, zwingen die Demokratinnen und Demokraten zur Wachsamkeit. Deshalb gibt es einiges aus der Geschichte und den Zusammenhängen zu lernen.

Worum es beim Faschismus geht, das verdeutlicht besonders eindringlich das zentrale Zitat aus der Rede „Arbeiterklasse gegen Faschismus“ von Georgi Dimitroff aus dem Jahr 1935:

„Der Faschismus an der Macht ist (…) die offene, terroristische Diktatur der reaktionärsten, chauvinistischsten, am meisten imperialistischen Elemente des Finanzkapitals, (…) ein System der Provokationen (…) gegenüber der Arbeiterklasse (…) und der Intelligenz. Das ist (…) Barbarei (…), zügellose Aggressivität. (…) Der deutsche Faschismus spielt die Rolle (…) des Hauptanstifters des imperialistischen Krieges …” (1).

Dimitroffs Faschismusdefinition beinhaltet zum einen den ökonomischen Bezug zum Finanzkapital und zum anderen den politischen Bezug zu Fragen der Demokratie sowie auch die Rolle als aggressiver Kriegstreiber.

Schwarze Freitage und Weltwirtschaftskrise

Beginnen wir mit dem Finanzkapital: 2020 — ein Dreivierteljahrhundert nach der Befreiung von Faschismus und Krieg — leben wir wieder in einer Zeit, die die Gefahr des Rückfalls in Faschismus und Krieg aufgrund der Ökonomie greifbar erscheinen lässt.

Dem Faschismus ging vor seiner Machtübernahme 1933 ein wirtschaftliches Fiasko des Kapitalismus voraus: die Weltwirtschaftskrise 1929, die heute oft in Verbindung mit dem sogenannten Schwarzen Freitag an der New Yorker Börse gebracht wird. Damals sackte der Dow-Jones-Index innerhalb von nur einer Woche von 326 auf 230 Punkte ab. Dieser Kurseinbruch bedeutete Börsenverluste von offiziell mehr als 15 Milliarden US-Dollar und den entsprechenden Verlust von über 4,5 Millionen Arbeitsplätzen allein in den USA (2).

Dieser New Yorker Börsencrash wirkte bis Europa und traf vor allem das Deutsche Reich, das seit 1924 erhebliches Kapital aus den USA erhalten hatte:

Auf dem Höhepunkt der Hyperinflation 1923, mit der die deutsche Bevölkerung die Lasten und Schulden des Ersten Weltkrieges bezahlte, wurde eine neue Währung geschaffen: die Rentenmark (ab Oktober 1924 dann die Reichsmark). Die neue Währung stabilisierten die USA mithilfe des Dawes-Plans vom 16. August 1924. Doch noch im selben Jahr gab es einen ersten Einbruch der Aktienwerte um zwei Drittel. Nach einer gewissen Erholung kam es bereits ein Jahr später erneut zu einem Crash, wieder mit einem Gesamtverlust von circa zwei Dritteln der Werte.

Nach 1925 kannten die Aktienkurse, wie es die Börsensprache ausdrückte, „kein Halten” mehr. Der Aktienindex verdreifachte sich bis zum 7. Mai 1927. Auf die damit verbundene als Blase bezeichnete Zunahme der Spekulation reagierte die Reichsbank entsprechend einigen Forderungen aus der Finanzwelt mit einem Zurückfahren der Wertpapierkredite. Der Schwarze Freitag am 13. Mai 1927 ließ den Aktienindex an der Berliner Börse um 31,9 Prozent einbrechen.

Von diesem Kursniedergang des Berliner Schwarzen Freitags hatten sich die Börsen noch nicht erholt, als der Schwarze Freitag von New York 1929 erneut die Finanzwelt erschütterte. Dieser blieb mitnichten das Einzelereignis, das die kapitalistische Weltwirtschaft der sogenannten Goldenen Zwanziger vollends untergrub:

1931 brach die Darmstädter und Nationalbank (Danat) zusammen, nachdem Europas größter Wollkonzern seiner Zeit (die Bremer Nordwolle) in Konkurs gegangen war. Dies führte dazu, dass Sparer überall in der Weimarer Republik vor den Banken Schlange standen, da sie ihr Vertrauen ins System verloren hatten. Die Börse spricht von Deutschlands erster Bankenkrise.

Der Aktienindex Berlins erreichte erst wieder im Kriegsjahr 1941 die Höhe von 1927. Das war kurz nach dem Überfall auf die Sowjetunion. Danach fiel er wieder, was mit Stalingrad und dem näher rückenden Zusammenbruch des Faschismus an der Macht zusammenhing. 1943 stellte die Reichsbank die Mitteilung über Kurse ein (3).

Der Aufstieg des Hitlerfaschismus

Die Arbeitslosigkeit in Deutschland stieg bis 1932 auf sechs Millionen. Durch die Größe der damaligen Familien war davon ein Drittel der Bevölkerung betroffen.

Mit dem entsprechenden Absinken der Kaufkraft und damit der Steuereinnahmen des Staates, mit der Erhöhung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung sowie der Kürzung von Beamtengehältern und der Altersrenten sowie der Sozialleistungen war der Rückgang der Staatsausgaben um ein Drittel verbunden. Die Produktion ging auf die Hälfte des Standes vor 1928 zurück. Es kam also zu immer wieder erneuten Entlassungen und Zahlungsschwierigkeiten vieler deutscher Banken und zum Konkurs vieler kleiner und mittlerer Betriebe.

Bei den Reichstagswahlen vom 20. Mai 1928 errang die NSDAP 2,6 Prozent; am 14. September 1930 erreichte sie 18,3 Prozent und war damit zweitstärkste Fraktion nach der SPD. Am 31. Juli 1932 bekam die NSDAP 37,4 Prozent der Stimmen und wurde stärkste Partei im Reichstag (4).

Heinrich Brüning (Zentrumspartei) — Reichskanzler von März 1930 bis Mai 1932 — sah die Finanzierung durch die Großindustrie als letztliche Ursache für den Aufstieg Hitlers. 1937 schrieb er in einem Brief an den britischen Premierminister Winston Churchill:

„Hitlers wirklicher Aufstieg begann erst 1929, als die deutschen Großindustriellen und andere es ablehnten, weiterhin Gelder an eine Menge patriotischer Organisationen auszuschütten, die bis dahin die ganze Arbeit für das deutsche ‚Risorgimento’ (Wiedererstarken, Anmerkung des Verfassers) geleistet hatten. Ihrer Ansicht nach waren diese Organisationen in ihren sozialen Gedanken zu fortschrittlich. Sie waren froh, dass Hitler die Arbeiter radikal entrechten wollte. Die Geldspenden, die sie anderen Organisationen vorenthielten, flossen Hitlers Organisation zu. Das ist (…) allerorts der übliche Beginn des Faschismus“ (5).

Die Weltwirtschaftskrise der Gegenwart

Im Sog der Finanz- oder, besser gesagt, Weltwirtschaftskrise ab 2008 breitete sich die Strömung, die in den bürgerlichen Medien — unter anderem auch im Freitag — „Rechtspopulisten” genannt werden, global immer weiter aus — etwa in Skandinavien, Frankreich, den Niederlanden, Großbritannien, Italien, Österreich, der Schweiz und Deutschland. Eine parallele Entwicklung ist in Indien, den USA, auf den Philippinen, in Japan und Israel sowie in Südamerika, hier vor allem in Brasilien, zu beobachten. Die Unterstützung der entsprechenden Parteien in Europa hat sich in den vergangenen beiden Jahrzehnten — gemessen an den Wahlergebnissen — mehr als verdreifacht (6).

Aus der Immobilienkrise in den USA wurde eine weltweite Bankenkrise. Die Insolvenz der Bank Lehman Brothers löste eine Lawine aus, die viele Länder in die Krise riss. Und in Europa kam eine Währungskrise hinzu.

In den USA kostete die Rettung des Bankensystems in Reaktion auf den Krisenausbruch 2008 circa 700 Milliarden US-Dollar, der deutsche Rettungsschirmumfasste mit 500 Milliarden Euro ähnlich astronomische Höhen (7).

Neben Banken und Industriekonzernen traf die Finanzkrise Staatshaushalte, besonders in wirtschaftlich schwächeren Ländern des Euroraums. Sinkende Steuereinnahmen, steigende Sozialausgaben, Rettungsmilliarden für Banken und explodierende Arbeitslosigkeit führen zu immer neuen Belastungen und Unsicherheiten.

Die Arbeitslosenrate in der Europäischen Union (EU) schoss von 2008 bis 2010 um etwa ein Drittel — von 7 Prozent auf 9,6 Prozent — in die Höhe. In den Jahren 2010 bis 2013 stieg sie weiter auf 10,9 Prozent. Obwohl sie danach in einigen Staaten und im EU-Durchschnitt wieder sank, liegt darin keine Entwarnung.

Die Herrschenden haben erneut — wie in den 1920er-Jahren — auf eine Entwicklung ökonomischer Instabilität mit unterschiedlichen Mitteln reagiert. Eines der Mittel ist der Aufstieg nationalegoistischer, rassistischer und demokratieverachtender Kräfte. 2017 zählte die offizielle Statistik immer noch über zwei Millionen mehr Menschen in der EU arbeitslos als im Jahr 2008.

Die Abstiegserfahrungen und die Abstiegsangst über viele Jahre haben bei breiten Teilen der lohnabhängigen Bevölkerung — also in der Arbeiterklasse — eine Öffnung für rechtsnationale Kräfte, deren gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit und für Sündenbocktheorien mit autoritären Machtprojektionen bewirkt (8).

Die Medien der Herrschenden — und längst nicht nur die Springerpresse, sondern auch vermeintliche Qualitätsmedien wie der Spiegel — sowie rechte Medienportale befeuern diese Bewusstseinsentwicklung systematisch und regelmäßig. Sie skandalisieren vermeintliche Ungerechtigkeiten zugunsten von Flüchtlingen und anderen sozialbedürftigen Menschen. So werden benachteiligte und teilweise gänzlich entrechtete Menschen gegeneinander aufgebracht. Die skandalösen Privilegien Superreicher dagegen behandelt die Mainstreampresse gemeinhin nicht als Skandal.

Die Verlagerung von Produktionsstätten in sogenannte Billiglohnländer — auch Osteuropas — die Zunahme an befristeten und Teilzeitverträgen führten und führen zu einer Entsolidarisierung innerhalb der Arbeiterklasse und zu Forderungen nach Abstrichen in der Sozial- und Tarifpolitik auf Kosten der Benachteiligten, die sich entsprechend zurückgesetzt erleben. Zu den ökonomischen Resultaten der Zeit nach Ende des Kalten Krieges — seit dem Zusammenbruch der realsozialistischen Staaten — gehört die Tatsache, dass Deutschland immer noch der größte Niedriglohnsektor der Europäischen Union ist.

Wer blind gegenüber den systembedingten Ursachen für diese Lage ist, bei dem haben Nazis gute Chancen, Gehör zu finden. Ihre Hetze gegen besonders Bedürftige lenkt auch davon ab, dass sowohl die Hochrüstung als auch die (Steuer-)Begünstigung der Superreichen Milliarden verschlingen, die in der Sozial-, Bildungs-, Infrastruktur- und Umweltschutzpolitik fehlen.

Die skandalöse Begünstigung des Reichtums führt unter anderem dazu, dass nach Spiegel 3/2018 allein 45 Bürger Deutschlands so viel besitzen wie die ärmere Hälfte der Bevölkerung zusammen. Derartige Ungerechtigkeiten verbittern, und sie begünstigen Verschwörungstheorien über die sogenannte Elite, ohne dass dies zu einer Systemkritik führt.

Die Wirkkraft von Ideologie und Propaganda

Die politisch-ideologische Herrschaft baut derzeit auf Eckpfeilern, die den Nazis in die Hände spielen. Die Ideologie und Propaganda faschistischer Kräfte und ihrer Vorfeldorganisationen entsprechen sowohl dem Weltbild vieler MitbürgerInnen als auch den Bedürfnissen der herrschenden Klasse: Die Unzufriedenheit mit den gegebenen Zuständen koexistiert mit einem Bewusstsein, das die kapitalistische Gesellschaftsordnung nicht infrage stellt.

Eine Gemeinschaftsideologie, der zufolge wir ein Volk sind, das sich gegen Fremde abgrenzt, blendet die Klassengegensätze aus. Die politische Führerin verachtet die Demokratie und koexistiert mit militantem Antikommunismus. Die Sündenbock-Theorie bietet vermeintlich einfache und schnelle Lösungen für die existenziellen Übel der Zeit. Militarismus und Propaganda für autoritäre Eliten liefern Machtgefühle, die helfen, Ohnmachtsängste und -erlebnisse teilweise zu kompensieren.

Ein deutliches Beispiel für die Wirkkraft rechter Propaganda ist folgender Auszug eines Interviews von Björn Höcke, das er Ende November der Schweizer Weltwoche gab:

„Wir erleben momentan einen regelrechten Kulturkampf zwischen zwei Lagern: auf der einen Seite kosmopolitische Universalisten, die von einer Weltbürgerschaft träumen. Auf der anderen Seite nationale Nominalisten, die am Nationalstaat festhalten (…). Ich bin der (…) Überzeugung, dass wir es bei der ersten Gruppe mit einer geschlossenen transatlantischen Politelite zu tun haben, die mit allen möglichen Institutionen verzahnt ist. Diese Leute sitzen an den Hebeln der Macht. Ihnen geht es darum, die Vielfalt der nationalen Kulturen im Sinne einer One-World-Ideologie glattzuschleifen. Und ich glaube auch — obwohl ich Trumps Äußerungen manchmal sehr gewöhnungsbedürftig finde — dass Trump genau den gleichen Kampf gegen dieses Establishment führt wie wir. Es ist eine sehr harte Auseinandersetzung. Wir legen uns mit mächtigen Kreisen an. Aber wir haben die Bevölkerung auf unserer Seite, auch wenn ein großer Teil noch Opfer der öffentlichen Meinungsmanipulation ist” (9).

Mit derartigen Gedankenbildern liefert die AfD auch ideologische Eckpfeiler für die Gewaltbereitschaft von Nazis. Seit der Übernahme der DDR durch die BRD sind circa 200 Morde aus dem rechtsradikalen Lager zu beklagen.

Die Kriminalstatistik des Bundesinnenministeriums vom 8. Mai 2018 setzt sogenannten Links- und Rechtsextremismus parallel und ordnet den Rechten — 20.520 Straftaten — im Jahr 2017 eine mehr als doppelt so hohe Zunahme der Kriminalität zu als den links Eingestuften — 9.752 Straftaten:

„Die mit Abstand meisten Gewaltdelikte wurden im Bereich der PMK (Politsch motivierte Kriminalität, Anmerkung des Verfassers) -links- registriert: Insgesamt 1.967, eine Steigerung gegenüber dem Vorjahr um 15,6 Prozent. Rechtsmotivierte Gewalttaten sind hingegen um 33,5 Prozent (auf 1.130) zurückgegangen. (…) Der Anstieg linksmotivierter Gewaltdelikte ist maßgeblich auf die beim G20-Gipfel begangenen Gewaltausbrüche zurückzuführen.” (10)

Diese nicht nur „optische“ Verharmlosung rechter Kriminalität koexistiert mit einer Begünstigung, die damit zusammenhängt, dass rechte Ideologien wie der Antikommunismus in den sogenannten Sicherheitsorganen kein Einzelfall sind. Es gibt viele Verdachtsmomente und auch Belege über eine Verstrickung staatlicher Strukturen mit Nazis, wie der NSU-Terror und der Mord an Regierungspräsident Lübcke offenlegte.

Finanzamt entzieht Vereinigung der Nazi-Verfolgten die Gemeinnützigkeit

Ganz anders ist dagegen der staatliche Umgang mit Demokraten, wie das Beispiel der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes — Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten e.V. (VVN-BdA) zeigt.

Gegründet 1947 von Überlebenden der Konzentrationslager und NS-Gefängnisse ist die Vereinigung die größte überparteiliche und konfessionslose Organisation von Antifaschisten in Deutschland. Seit Jahrzehnten verteidigt sie die Interessen der von Nazis Verfolgten und der Widerstandskämpfer sowie ihrer Nachkommen, setzt sich für Frieden und Völkerverständigung ein und tritt gegen große gesellschaftliche Widerstände dafür ein, dass die Bewahrung der Erinnerung an die Verbrechen des deutschen Faschismus nicht in Vergessenheit geraten (11).

Am 4. November 2019 hat die Berliner Finanzbehörde der VVN-BdA die Gemeinnützigkeit aberkannt und gleichzeitig eine Steuernachzahlung in fünfstelliger Höhe für das Jahr 2018 gefordert. In dem Finanzamtschreiben wird die Entscheidung damit begründet, dass der Verein in den Verfassungsschutzberichten Bayerns seit Jahren als „linksextreme Vereinigung“ geführt werde (12).

Die Tatsache, dass sich die VVN-BDA auf den „Schwur der Häftlinge des Konzentrationslagers Buchenwald“ beruft, macht sie verdächtig. Laut dem hessischen Verfassungsschutz — Aktenzeichen L13-257-S-530.005-30/16 vom 7. Oktober 2016 — bezeichnet der Schwur den Kapitalismus als den eigentlichen Urheber des Faschismus. „Konkludent lehnt die VVN also die ‚kapitalistische’, mithin freiheitliche demokratische Grundordnung ab“.

Der als verfassungswidrig eingestufte Schwur von Buchenwald lautet im Original vom 19. April 1945:

„Wir stellen den Kampf erst ein, wenn auch der letzte Schuldige vor den Richtern der Völker steht! Die Vernichtung des Nazismus mit seinen Wurzeln ist unsere Losung. Der Aufbau einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit ist unser Ziel“ (12).

Die Petition „Die VVN-BdA muss gemeinnützig bleiben!“ hat aktuell 92 Prozent der Zielmarke von 35.000 Unterstützern erreicht füllt. Das lässt auf einen neuerlichen Erfolg hoffen, nachdem bereits eine vierstellige Zahl neuer Mitglieder nach der Aberkennung der Gemeinnützigkeit zu verzeichnen ist.

Dazu hat auch die Kritik von Esther Bejarano, Mitglied des Mädchenorchesters von Auschwitz, dass sie in diesem Land Ehrungen erfahre, während ihre Organisation heftigen Angriffen ausgesetzt ist, unterstützende Wirkung gezeigt (14).

In Anlehnung an die Worte des damaligen Vorsitzenden der KPD Max Reimann bei der Beschlussfassung des Grundgesetzes gilt: Die politische Linke verteidigt das Grundgesetz und damit die Grundrechte gegen Kräfte aus den Strömungen der Macht, die es damals beschlossen haben. Imperialismus an der Macht bedeutet Reaktion.

Brandgefährliche Geschichtsfälschung

Das Fehlen einer Gegenkraft, wie sie bis 1990 im Kampf der Systeme existierte, macht es den Herrschenden einfacher, die Grundrechtseinschränkungen und den ökonomischen Druck auf die Arbeiterklasse auszubauen, um auch in Krisenzeiten das Heft des Handelns in der Hand zu behalten. Wie vor 50 Jahren die Notstandsgesetze dienen auch die Polizeigesetze diesem Zweck.

Das Rollback der Reaktion wird ideologisch über den Antikommunismus hinaus mit einer Geschichtsverfälschung exekutiert, die brandgefährlich ist: Die Sowjetunion als Vorgängerstaat Russlands wird zum Mitschuldigen für den Zweiten Weltkrieg, die Menschheitstragödie des 20. Jahrhunderts überhaupt, erklärt. Dies, obwohl die Rote Armee den Hauptanteil an der Befreiung Europas leistete und die Sowjetunion mit mehr als 27 Millionen Toten den größten Blutzoll des Kampfes gegen den Faschismus zahlte.

Der als Hitler-Stalin-Pakt bezeichnete Deutsch-sowjetische Nichtangriffsvertrag vom August 1939 führte am 19. September 2019 zu einer Resolution des EU-Parlaments — mit 535 Ja- und 66 Nein-Stimmen bei 52 Enthaltungen —, die die Geschichte auf den Kopf stellt: Das EU-Parlament

„betont, dass der Zweite Weltkrieg, der verheerendste Krieg in der Geschichte Europas, als unmittelbare Folge des auch als ‚Hitler-Stalin-Pakt‘ bezeichneten berüchtigten Nichtangriffsvertrags zwischen dem nationalsozialistischen Deutschen Reich und der Sowjetunion vom 23. August 1939 und seiner geheimen Zusatzprotokolle ausbrach, in deren Rahmen die beiden gleichermaßen das Ziel der Welteroberung verfolgenden totalitären Regime Europa in zwei Einflussbereiche aufteilten (…).“

Diese Resolution, eingebracht von 19 Parlamentsmitgliedern — 18 aus Polen und eines aus Lettland — entlastet Hitlerdeutschland zur Hälfte der Kriegsschuld zulasten Russlands (23) und ist Ausdruck der Rechtsentwicklung der EU-Regierungen.

An der Ausarbeitung waren Rechtsnationalisten und Rechtsextreme beteiligt, darunter die nationalkonservative, christdemokratische PiS (Polen) und die nationalkonservative, rechtspopulistische Vox (Spanien). Damit verwischt die EU die in den Nürnberger Prozessen erhobene Anklage gegen die Führerschaft der Nazis wegen des Verbrechens der Planung und Durchführung eines Angriffskrieges. Kein anderer Staat wurde dessen bis 2019 beschuldigt!

Das alles fügt sich in eine strategische Ausrichtung der NATO und breiter Teile der EU-Verantwortlichen ein, die auf einen Krieg gegen Russland hinauslaufen: In der Konferenz hoher NATO-Strategen von 2014 in Kleve, die unter dem Titel „Future-Vector“ (deutsch: Pfeil der Zukunft) stattfand, erklärten die Militärs, es sei anzuzweifeln, dass es keinen großen Krieg mehr in Europa geben werde. Als Ausgangpunkt machten sie die Gebiete um die russische Westgrenze aus.

Diese Nachwehen des Antikommunismus aus dem Kalten Krieg und der gegen Russland gerichtete Militarismus führen zu einer Gefährdung der Existenz der Zivilisation.

Man muss das so sagen, da den Worten durch die Rüstung, durch die Zerstörung des Vertragswerkes gegen die Atomrüstung — siehe die Aufkündigung des INF-Vertrages über das Verbot von Atomraketen in Europa — und dieses Frühjahr durch das größte Manöver von NATO-Kräften seit dem Ende des Systemwettbewerbs (= „Defender 2020“) eine Aktion darstellt, in der sie den schnellen Truppentransport genau an die russische Westgrenze einüben. Dazu passt, dass der EU-Haushalt 6,5 Milliarden Euro bereitstellt, um die Transportwege in Richtung Osten militärtauglicher zu machen (16).

Wider die drohende Kriegsgefahr

Das ist Wahnsinn, schon allein deswegen, weil ein Krieg in dieser Region, den die Militärs planspielend vorbereiten, das Ende Europas bedeuten würde. Schon deshalb, weil in den „Kampfgebieten“ der militärischen Planspiele teils besonders leistungsstarke Atomkraftwerke (AKW) stehen. Was eine Explosion oder auch nur Defekt in einem AKW auslösen kann, verdeutlichen die Katastrophen von Tschernobyl und Fukushima. Auch nur eine einzige gezündete Bombe oder auch nur ein Blackout infolge des Kriegsgeschehens könnte verheerende Folgen haben. Sollte die Menschheit dies überleben, wäre nicht nur Europa für die nächsten 100.000 Jahre unbewohnbar.

Die Ostermärsche und weitere Aktionen der Friedensbewegung werden den Protest gegen dieses erneute Spiel mit dem Feuer in die Öffentlichkeit tragen. Die Politik und Propaganda der Herrschenden stellt eine offensichtlich zunehmend gefährlichere Zukunftsbedrohung dar, gegen die die Friedens-, Menschenrechts- und Ökologiebewegungen und ihre Weggefährten die Verantwortung haben, das Überleben zu verteidigen.

Wir werden in den Tagen vor dem 75. Gedenktag der Befreiung vom Faschismus auf den Ostermärschen gemeinsam gegen Militarismus und Krieg auf die Straße gehen. Wir werden nicht nur — aber auch — freitags die Zukunft vor dem Kapitalismus und der ihm innewohnenden Kriegsgefahr zu schützen haben.

Quellen und Anmerkungen:

(1) Georgi Dimitroff, Arbeiterklasse gegen Faschismus, Bericht, VII. Weltkongress der Kommunistischen Internationale, 2. August 1935, http://www.mlwerke.de/gd/gd_001.htm
(2) New Yorker Börsencrash löst Weltwirtschaftskrise aus, Welt, 24. Oktober 2017, https://www.welt.de/geschichte/article170011136/Der-Schwarze-Freitag-loest-eine-weltweite-Krise-aus.html
(3) Alle Angaben zur Börsen-Entwicklung seit 1924 aus: Viele Schwarze Freitage, https://multimedia.boerse.ard.de/schwarzer-freitag-berliner-boerse#3653
Die Erfahrungen aus den beiden Jahrzehnten ab dem Jahr 1924 gelten als Bezugsrahmen für das bis heute gültige Börsenbarometer DAX.
(4) Informationsquelle: https://www.grin.com/document/105485
(5) Heinrich Brüning. Briefe und Gespräche 1934 bis 1945; herausgegeben von Claire Nix unter Mitarbeit von Reginald Phelps und George Pettee; Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1974.
(6) Der Freitag, Vom Flackern zum Feuer, Ausgabe 1/2019, https://www.freitag.de/autoren/the-guardian/vom-flackern-zum-feuer
(7) auxmoney, Die Finanzkrise 2008 und ihre Auswirkungen, 18. August 2015, https://www.auxmoney.com/de/geldanlage-heute/die-finanzkrise-2008-und-ihre-auswirkungen.html
(8) Bundeszentrale für politische Bildung; Arbeitslosigkeit — Globale Finanz- und Wirtschaftskrise, Veränderung der Arbeitslosenquote zwischen 2008 und 2010 in Prozentpunkten und in Prozent, Arbeitslosenquoten 2008/2010 in Prozent, ausgewählte europäische Staaten, 23.03.2019, http://www.bpb.de/nachschlagen/zahlen-und-fakten/europa/135609/arbeitslosigkeit-globale-finanz-und-wirtschaftskrise
(9) Die Weltwoche, „Ich meine es nicht böse“, 27. November 2019, https://www.weltwoche.ch/ausgaben/2019-48/titelgeschichte/ich-meine-es-nicht-bose-die-weltwoche-ausgabe-48-2019.html
(10) Polizeiliche Kriminalstatistik und Fallzahlen „Politisch Motivierte Kriminalität 2017“, Pressemitteilung Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat, 08. Mai 2018, https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/pressemitteilungen/DE/2018/05/pks-und-pmk-2017.html
(11) Protest-Brief von Marian Kalwary anlässlich der Aberkennung der Gemeinnützigkeit der VVN-BdA, 6. Dezember 2019, https://berlin.vvn-bda.de/2019/12/protest-brief-von-marian-kalwary-anlaesslich-der-aberkennung-der-gemeinnuetzigkeit-der-vvn-bda/
(12) tagesschau.de, Vereinigung der Nazi-Verfolgten, Weiterer Verein verliert Gemeinnützigkeit, https://www.tagesschau.de/inland/verfolgte-naziregime-gemeinnuetzigkeit-101.html
(13) Das Jahr 1945, Der Schwur von Buchenwald, https://dasjahr1945.de/der-schwur-von-buchenwald/
(14) Offener Brief von Esther Bejarano an Olaf Scholz: Das Haus brennt — und Sie sperren die Feuerwehr aus!, 25. November 2019, https://berlin.vvn-bda.de/aktuelles/page/3/
(15) Christian Müller, So schreibt das EU-Parlament die Geschichte Europas um, 28. September 2019, https://www.infosperber.ch/Politik/EU-Parlament-Zweiter-Weltkrieg-Schuldfrage-Umdeutung
(16) Militärmacht Europa: Explodierende Rüstungsausgabe, herausgegeben von Özlem Alev Demirel, November 2019, [https://oezlem-alev-demirel.de/wp-content/uploads/2019/12/EU-Milliarden-Grab-Booklet.pdf]

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