Der Herz-Opa
„All das Leiden darf nicht umsonst gewesen sein.“ Eine HdS-Autorin über die Kriegserlebnisse ihres Vaters. Monika Herz findet in in einer Schublade einen alten Zettel. Darauf zu lesen: Notizen über die Kriegserlebnisse ihres Vaters. Der muss ein gütiger und hilfsbereiter Mensch gewesen sein, allseits geliebt als „Der Herz-Opa“. Ohne ihn wäre eine ganze Sippe ungezeugt geblieben. Ohne ihn auch keine Monika, und da wäre auch mein (Rolands) Leben ein gutes Stück ärmer geblieben. Aber wie das so ist bei bestimmten Jahrgängen: Man hat Väter, die im Krieg gewesen sind. Und da waren sie nicht nur Opfer. Sie wurden in Leid verstrickt, aber auch in Schuld. Diese furchtbaren Erfahrungen von Greueln, Entbehrungen, Demütigungen und Todesangst – sie scheinen so gar nicht zur vergleichsweise heilen Nachkriegswelt zu passen, in der wir aufgewachsen sind. Und die gütige Ausstrahlung eines lieben Menschen scheint so gar nicht zu der Tatsache zu passen, dass er auch Soldat gewesen ist und auf „Feinde“ geschossen hat. Diesen gedanklichen Spagat muss man als Jüngerer erst mal schaffen. Und sich die ehrliche Frage stellen, wie man damals an Stelle der Väter gehandelt hätte. Die Autorin überlässt den Leserinnen und Lesern selbst das Urteil. Sie will ihnen keine bestimmte Schlussfolgerung aufdrängen. Außer einer: Das furchtbarste wäre, wenn wir aus der leidvollen Erfahrung unserer Vorfahren gar nichts gelernt hätten und uns einer erneuten Kriegsgefahr nicht entschlossen entgegen stellen würden. Monika Herz
Beim Aufräumen einer Schublade ist mir vor ein paar Tagen ein handgeschriebener Zettel in die Hände gefallen, ohne Titel, ohne Datum – aber schon beim Lesen der ersten Zeile war mir klar, um wen es da geht: um unseren Vater, Großvater und Urgroßvater, der heute 95 Jahre alt geworden wäre und dessen Todestag sich vor wenigen Wochen zum 16. Mal jährte. In der Familie wurde er die letzten zwanzig Jahre seines Lebens von uns allen „der Opa“ genannt, bzw. „der Herz-Opa“. Wir alle, das sind heute 3 Kinder, 10 Enkelkinder und 4 Urenkelkinder. Wir alle würden nicht leben, zumindest nicht mit dieser Identität (wenn man an Wiedergeburt glaubt), wenn der Überlebenswille und die Überlebenskraft des Herz-Opas in seiner Jugend nicht so stark gewesen wäre. Und wenn er nicht auch immer wieder Glück im Unglück gehabt hätte.
Es sind nur Stichpunkte auf meinem Zettel – ich erinnere mich, dass ich das vor vielen Jahren mit ihm zusammen notiert hab und dann hab ich zu seinem 70. Geburtstag eine kleine Rede über sein Leben gehalten. Der Zettel ist also jetzt 25 Jahre alt. Manchmal ist es doch irgendwie spannend, wenn man sich so schwer trennen kann von „Objekten“, von Sachen, von Zetteln gar.
Die wichtigsten Ereignisse von Opas Kindheit, der baufällige Bauernhof mit den sechs Geschwistern, eigentlich acht, denn zwei sind kurz nach der Geburt gestorben… Die Geschichte mit den abgesägten Fingern (die Fingerstumpfe waren immer eine Sensation für uns Kinder und später für die Enkelkinder), und wie er mit 12 Jahren seine Familie verlassen musste, um bei einem Onkel gegen Kost und Logis auf dem Hof zu arbeiten, weil daheim das Essen nicht reichte, dann die Schreinerlehre (ein Beruf, den er gar nicht mochte!) und die täglichen Fahrten mit dem Rad von Denklingen nach Schongau in die Schreinerei – und dann später, die Hochzeit mit der Oma, diese Geschichten, die wusste ich wohl damals schon auswendig, so dass ich bei seiner Geburtstagsfeier ein paar Worte dazu sagen konnte.
Aber die Jugend!? Da musste ich nachfragen. Papa, was war da damals im Krieg? Also:
Zum 18. Geburtstag wurde der Opa „gemustert“. Es ist Herbst, mitten im Krieg, 1942. Kriegsdienstverweigerung gab es ja damals nicht. Im Februar 1943 wurde er dann „eingezogen“ und für 3 Wochen zur Grundausbildung zu den Gebirgsjägern nach Garmisch geschickt. Nach den 3 Wochen ging es dann an die Schweizer Grenze, um dort die Ausbildung in nur 3 Monaten zu vervollständigen. Während dieser Ausbildung bekam der Opa Diphterie (ihr könnt ja mal nachlesen, was das für eine Krankheit ist). Er wurde nach Dijon (damals von der Wehrmacht besetzt) ins Lazarett gebracht – und schon nach 3 Wochen wieder zurück in seine Kompanie geschickt. Die war dann aber schon unterwegs nach Russland gewesen. So wurde er zusammen mit anderen Rekruten im Herbst 1943 nach Oberitalien versetzt. Dort hat seine Einheit eine italienische Einheit entwaffnet. (Kleiner Geschichtsexkurs: Im Herbst 1943 erklärte Italien auf Druck der Alliierten dem Deutschen Reich den Krieg.) Opa sagte, das wäre sehr einfach gewesen. Die Taktik bestand darin, zu nachtschlafener Zeit – etwa um 3 h morgens – anzugreifen, während der Gegner noch schlief. Bevor die schlaftrunkenen Italiener richtig aufgewacht seien, wären sie schon entwaffnet gewesen. Die überrumpelten Italiener konnten dann wählen, ob sie lieber in Gefangenschaft gehen wollten oder lieber zur Deutschen Wehrmacht wechseln. (So weit ich das Gespräch erinnere, haben sie sich für die Gefangenschaft entschieden).
Von Italien ging es dann für den Opa zunächst zurück nach Sonthofen im Allgäu. Dort wurde ein Marsch-Bataillon zusammengestellt – nach Russland. Am Fluss Dnepr am Schwarzen Meer – wir schreiben Dezember 1943, das war schon in der Rückzugsphase – blieb die Truppe über Weihnachten in Cherson (der Opa war gerade 19 geworden). Dann wurden sie nach Kiew versetzt, dort waren x-Tausende Soldaten eingeschlossen von den Russen. In Kiew jedenfalls blieb Opas Truppe einige Wochen, bis sie im März 44 an die „HKL“ = Hauptkampflinie zum Angriff geschickt wurden. Wobei die ganze Truppe in Gefangenschaft geriet. Opa aber war als „Feuerwehr“ (was immer das heißt) irgendwohin geschickt worden – er war noch eine halbe Stunde vor dem Hauptangriff der Gegner an der HKL gewesen. Er hat sich dann wohl irgendwie absetzen können. Jedenfalls wurde er im März 44 verwundet – ein Wadendurchschuss – und reiste über 3 Wochen in Waggons ins Lazarett nach Aachen, das war dann sein „Genesungsurlaub“. Danach wurde er als „Ersatzmann“ nach Salzburg versetzt. Und dann von Salzburg aus nach Jugoslawien zum Partisanen-Einsatz. Jugoslawien war damals ja noch besetzt, auch Griechenland bis einschließlich Kreta.
Jetzt steht auf meinem Zettel, dass in Jugoslawien Hunderte deutsche Gefangene in einen alten Stollen getrieben wurden und dort zugemauert worden sind. Die Gefangenen waren dem Gegner keine Kugel wert zum Töten. Ich verstehe den Zusammenhang nicht ganz. Vielleicht war das eine (wahrscheinlich wahre) Geschichte, die den Soldaten erzählt wurde, um ihren Kampfwillen aufrechtzuerhalten und um Rachegefühle zu schüren.
In Jugoslawien gab es noch ein Ereignis, bei dem der Opa ebenfalls mit etwas Glück mit dem Leben davonkam. Zu dritt wollten sie auf die Jagd gehen (ich vermute mal, die Versorgung in der Wehrmacht hat nicht wirklich funktioniert). Sie kamen an eine Lichtung. Dort war ein Bretterzaun, das war irgendwie seltsam – und schon erschienen dort Partisanen, die schrien „Hände hoch“ und schossen dem Kameraden, der in der Mitte ging, mitten ins Herz. Der Opa hatte vorher eine kurze Erscheinung von zwei „Gestalten“ gehabt, die sagten zu ihm: Geh nicht mit! Das steht in Klammern, denn ich sollte das mit der Erscheinung wohl nicht auf der Geburtstagsfeier öffentlich sagen. Nach dem Partisanen-Einsatz wurde der Opa dann nach Frankreich versetzt.
Dann steht auf meinem Zettel noch: „Übergang“ und „Träume“… und sonst nichts mehr.
Wahrscheinlich kam ich dann in meiner Rede noch auf die 3-jährige Gefangenschaft in Frankreich zu sprechen. Vor der Gefangenschaft kam jedoch die Gefangennahme. Er sagte, er sei von den Amerikanern gefangen genommen worden und die wären besonders schlimm gewesen. Das war im Februar 1945. Die Gefangenen wurden 4 Tage lang draußen in der Kälte, im Schneeregen bei Minusgraden ohne irgendeine humanitäre Versorgung stehen gelassen. Opa sagte, „die haben 4 Tage gebraucht, bis sie uns etwas zu trinken gaben!“ Und er sagte, dass sie sich mit ihren Helmen Löcher in den Dreck gebuddelt und sich da hineingelegt haben, weil es in der Erde ein bisschen wärmer war als auf der Erde. Dann wurden die Gefangenen an die Franzosen übergeben, da wäre es ein bisschen besser gewesen als bei den Amerikanern.
Opa wurde in ein Lager in der Nähe von Neuchatel gebracht. In der Zeit lerne der Opa etwas französisch sprechen und verliebte sich in eine junge Frau, die bei den Gefangenen ein bisschen Krankenpflege machte. Die Geschichte mit seiner Geliebten kam erst auf, als mein Onkel das Pendeln lernte. Der Onkel pendelte mit dem Ehering aus, wie viele Kinder man ins Leben setzt. Mädchen wurden vom Pendel kreisförmig angezeigt und Jungen strichförmig. Vor meiner älteren Schwester zeigte das Pendel einen Jungen an. Meine Mutter wollte wissen, was das zu bedeuten hat, und so musste mein Vater wohl oder übel das Geheimnis von seiner Geliebten preisgeben.
Später fragte ich ihn, ob er sie nicht suchen wollte, ob wir das nicht zusammen nachholen wollten. Ach, das hat doch keinen Zweck, meinte mein Vater – obwohl er immer wieder mit dem Gedanken spielte, doch noch mit mir nach Neuchatel und dann über die Schweizer Grenze nach Frankreich zu fahren und die Suche nach der verlorenen Geliebten und unserem älteren Bruder aufzunehmen. Er sagte auch, er habe so viele Kameraden in der Gefangenschaft sterben gesehen. Sie seien verhungert, denn es gab nur sehr wenig zu essen, oft nur Wasser mit Karottenstrünken. Wenn einer der Kameraden am Sterben war, dann sei ihm vorher der Bauch aufgetrieben wie ein Ballon. Ich sehe noch das Grauen in den Augen meines Vaters.
Dann kamen die Fluchtversuche, wobei erst der 3. Versuch dann auch gelang. Die Flucht wurde jeweils zu zweit oder zu dritt unternommen, denn allein ist man „ein armer Hund“. Der erste Versuch endete mit der Festnahme in einem kleinen Städtchen und dem Rücktransport ins Gefangenlager. Zuvor waren die Flüchtlinge nachts Richtung Heimat gewandert und tagsüber hatten sie sich versteckt. Kühe seien schreiend vor Schmerz auf den Feldern gestanden, weil es niemanden gab, der sie gemolken hätte. Die jungen Männer waren ja im Krieg gefallen, obwohl sie bestimmt lieber zuhause geblieben wären und Kühe gemolken hätten. Neben den schreienden Kühen lagen die verendeten Kühe. Die Flüchtlinge hätten sich dann unter die Kühe gelegt zum Melken, den armen Tiere vorübergehend Erleichterung verschafft und die Milch hätten sie sich in den Mund gespritzt, um den Hunger zu stillen. So haben sie auf der Flucht überlebt.
Der zweite Fluchtversuch endete an der Schweizer Grenze mit dem Ergebnis, dass die Schweizer Behörden die Flüchtlinge zurück in die Gefangenschaft schickten. Unser Opa hat nicht viel darüber gesprochen, wie das so war damals im Krieg und in der Gefangenschaft. Heute würde ich sagen: Gut so. Denn heute weiß man: beim Erzählen findet auch Re-Traumatisierung statt. Wenn man keinen guten Traumatherapeuten an der Seite hat, dann ist das so, als würde man eine Wunde immer wieder aufreißen. Der Opa war 19, als der Krieg für ihn begann. Wir können ja mal darüber nachdenken, wie wir selber so waren mit 19. Wie reif oder unreif. Der Opa war wohl ziemlich intelligent und körperlich fit. Er war also „gut zu gebrauchen“ – auch für schwierige Einsätze wie in Jugoslawien. Er wollte den Scheiß-Krieg überleben. Er war auch nach dem Krieg immer gut zu gebrauchen. Zum Hausbauen und für alle möglichen Reparaturen, zum Babysitten genauso wie zum Chauffieren von alleinstehenden älteren Damen.
Er hat sich ja damals, genauso wie der „Gegner“, nicht aussuchen können, ob er da mitmachen will, oder nicht. Wenn er das gekonnt hätte, wäre er bestimmt auch lieber daheim geblieben und hätte Kühe gemolken. Genauso wie die französischen und russischen und jugoslawischen „Feinde“.
Und ja. Unser Opa hat im Krieg bestimmt Menschen getötet. Das ist jetzt 75 Jahre her. Nach altem jüdischen Recht werden nach 70 Jahren alle „Schulden“ – und damit auch alle Schuld – gelöscht. Man bindet dem „Sündenbock“ symbolisch die Schuld auf und schickt ihn in die Wüste. Auch das ganz Schlimme muss einmal wirklich vorbei sein dürfen.
Zurück in das Nachkriegs-Frankreich: Erst beim dritten Fluchtversuch (nach drei Jahren Gefangenschaft unter o.g. Bedingungen) wurde dem Opa dann in der Schweiz Asyl gewährt und er durfte endlich nach Hause zurückkehren. So lange hat das also gedauert, bis die Staaten untereinander (nicht alle, die russischen Gefangenen mussten noch viel länger ausharren) eine diplomatische Einigung erzielt haben. Der Opa war zu der Zeit 23 Jahre jung – oder alt. Zwei Jahre Krieg, drei Jahre Gefangenschaft.
Dann also die Rückkehr nach Hause. Das Heiraten und Kinderkriegen, die Arbeit im Kohlebergbau (das war die Arbeit, die es damals halt gab) und schließlich eben das damalige Hier und Jetzt, der 70. Geburtstag. Das Feiern, dass er am Leben ist.
Heute, an seinem Todestag die Erinnerungen. Mein Vater hat übrigens nicht mehr erlebt, dass ich Bücher und Artikel veröffentlicht habe. Er kannte mich als Außenseiterin und Ausgestoßene, als Verzweifelte und Gestrauchelte und als Eine, die sich trotz allem immer irgendwie durchgeschlagen hat.
Ich glaube, ich werde mich von meinem Zettel auch jetzt wieder nicht trennen. Immerhin ist er für mich etwas ganz Persönliches, weil der Zettel mich daran erinnert, wie der Opa damals da saß, in der Wohnung im ersten Stock, die es heute auch nicht mehr gibt, in meinem ehemaligen Elternhaus, er auf dem Kanapee, ich auf dem Stuhl, zwischen uns der Tisch, darauf der Zettel…
Ich teile meinen Zettel und meine Erinnerungen heute mit euch. Ob ihr was damit anfangen könnt, weiß ich nicht. Ich bin jetzt über 60 Jahre alt, und auch meine Jugend war durchaus nicht immer leicht. Mit 22 Jahren versuchte ich, mir das Leben zu nehmen. Ich erinnere mich an die Augen meines Vaters, als er damals an meinem Krankenbett saß. Wahrscheinlich konnte er nicht wirklich verstehen, wie man so verzweifelt sein kann, dass man nicht mehr weiterleben möchte, wenn man doch alles hat, was ihm in seiner Jugend gefehlt hat: ein Dach über dem Kopf, eine warme Decke, immer genug zu essen, Geborgenheit in einer Familie… und vor allem: Frieden!
Zunächst bedeutet ja „Frieden“ für uns die Abwesenheit von Krieg, die Abwesenheit von Feindschaft, von Hass und Wut und Rachegelüsten. Das muss man ja erstmal hinkriegen. Sowohl als Einzelner als auch als Nation. Dann aber, wenn diese Art von Frieden sich in einer Gesellschaft etabliert über eine lange Zeit – es scheint Jahrzehnte zu dauern – dann kann daraus etwas ganz Neues wachsen. Dann kann Energie freiwerden für die Entwicklung von Kreativität und anderen Qualitäten. Oder vielleicht kurz gesagt: für die Entwicklung hin zu einem Menschsein, so wie wir als Menschen eigentlich gedacht sind.
Und diese Energie, die brauchen wir jetzt. Dummerweise sägen wir als Menschheit ja gerade an dem Ast, auf dem wir sitzen. Ich möchte einfach nicht, dass alles das, was mein Vater, unser Herz-Opa, in seiner Jugend durchgemacht hat – dass das umsonst gewesen ist.
Als kleines Mädchen, ich lag in seinem Arm, erzählte er mir von seiner Flucht aus russischer Gefangenschaft. Ich habe die Tragweite seiner Erzählungen nicht verstanden, glaube aber, dass es ihm geholfen hat, weil ich ihn – während er erzählte – intuitiv gestreichelt habe.
Ich habe ihn sehr geliebt!
Nie wieder Krieg!