Der Kirchturm ist weg

 In FEATURED, Gesundheit/Psyche, Politik (Inland)

Corona-Tagebuch, Teil 23. In alten Zeiten kamen viele Menschen nicht über den engen Kreis ihres Dorfes und Nachbardorfes hinaus. Die kleine Welt schenkte Geborgenheit, der Kirchturm war Hauptorientierungspunkt. So lange man  ihn aus der Ferne sehen konnte, war man nicht verloren. Auch in Corona-Zeiten mussten und konnten wir räumliche Begrenzung kennenlernen. Die eigene Wohnung – und der Radius eines Spaziergangs – wurde zum alleinigen Aufenthaltsraum. Viele empfanden dies als extreme Freiheitsberaubung, viele aber auch als wohltuend. Denn die von Profit und der Sucht nach Erlebniskonsum getriebene “Mobilität” verlangt von unserer Seele wie unserer Umwelt einen hohen Preis. Götz Eisenberg

„Die meisten Menschen, sagte sie, können der Wahrheit nicht ins Gesicht sehen. Das ist sehr schlecht, denn sie geht davon nicht weg.“ (John Berger: Hier wo wir uns begegnen)

 

In dem schon angesprochenen Buch des britischen Autors Neil Ansell, der in der Nachfolge von Thoreau fünf Jahre in den walisischen Wäldern gelebt hat, bin ich auf eine Passage gestoßen, in der es um ein Thema geht, mit dem ich mich in letzter Zeit intensiv beschäftige habe: Mobilität. Und dem Zeitrhythmus, in dem sich das Leben abspielt und bewegt. Er beschreibt sein Leben im Cottage so: „Tagsüber verbrachte ich den Großteil meiner Zeit damit, meine Umgebung zu erkunden. Obwohl ich bei meinen Streifzügen gelegentlich auch etwas weiter vordrang, war das, was ich mein Heim nannte, im Grunde die Strecke, die ich zu Fuß vom Cottage und wieder zurück an einem Tag bewältigen konnte. Deshalb war mein Heim, mein Heimatgebiet, logischerweise im Sommer größer und im Winter kleiner und bestand grob gerechnet aus einem Umkreis von acht Kilometern um das Cottage herum.“

So verliefen seine Tage. Er führte ein einfaches Leben, das dem Rhythmus der Natur folgte statt den Anforderungen und Erwartungen anderer Menschen oder dem immer gleichen Rhythmus der entfremdeten Arbeit. Bis um das Jahr 1800 herum, also bevor die industrielle Revolution einsetzte und alles umwälzte, bestimmte dieser Rhythmus und Radius das Leben fast aller Menschen. Ich bin in meinen jungen Jahren noch Menschen begegnet, die so lebten und nie aus ihrem Geburtsort herausgekommen sind. Ich habe für die Zeitung junge Welt eine solche Begegnung beschrieben. Sie soll in der Ausgabe vom 2./3.Mai 2020 erscheinen. Der Mann, um den es in dieser Geschichte geht, lebte in einem kleinen Dorf unweit von Gießen, das Königsberg heißt. Später fiel mir ein, dass es einen berühmten Bewohner eines anderen Königsberg gegeben hat, der ebenfalls kaum je die Mauern seiner Heimatstadt verlassen hat und feste Gewohnheiten hatte: Immanuel Kant. Seine Mitbürger pflegten nach seinen regelmäßigen Spaziergängen ihre Uhren zu stellen. Ludwig, wie ich meinen Königsberger genannt habe, wird von seinem berühmten Vorgänger nichts gewusst haben.

Die Corona-Pandemie hängt ja aufs Engste mit der zum Paroxysmus gesteigerten Mobilität im Zeitalter des globalen Kapitalismus zusammen, und es wird Zeit, dass wir das Thema vor diesem Hintergrund neu diskutieren.

Im vierten Teil der von Arte ausgestrahlten Dokumentation Nicht länger nichts – Die Geschichte der Arbeiterbewegung erzählt ein italienischer Historiker vom Anthropologen Ernesto de Martino, der sich zu Studienzwecken in Kalabrien aufhielt. Einmal nahm er im Auto einen Bauern mit, um sich von diesem den Weg zeigen zu lassen. Als der Bauer merkte, dass der Kirchturm seines Dorfes nicht mehr zu sehen war, geriet er in Panik. Für den interviewten Historiker ist das eine Metapher: Heute ist überall und für uns alle der Kirchturm verschwunden. Für den einen war es die Sowjetunion, für einen anderen die Partei, für andere die Fabrik. Der Kirchturm ist weg und damit der Mittelpunkt und das Metronom des Lebens. Der Kirchturm war von überall her sichtbar und bot Orientierung. Wer die Orientierung verliert, gerät in Panik. Die Leute suchen nach einer neuen Ausrichtung ihres Lebens und finden sie bei der Rechten.

Gestern stieß ich auf einer Wanderung unterhalb von Blasbach auf einen alten preußischen Grenzstein. Nach dem Sieg über Österreich von 1866 fielen Teile des Gießener Hinterlandes an Preußen, und die verworrenen Grenzverhältnisse in dieser Gegend sind heute noch in den Wäldern an zahlreichen Grenzsteinen abzulesen. Dieser hier war gut erhalten, hüfthoch, aus Granit und oben abgerundet. Unterhalb der Rundung war ein KP für Königreich Preußen eingemeißelt. Mein leider schon gestorbener Freund Burkhard hatte auf einem unserer Spaziergänge gewitzelt: „Hier hatte mal die KP ihr Territorium abgesteckt.“ Für die Jüngeren: KP war auch mal die Abkürzung von Kommunistischer Partei. Wer hat nach 1866 dafür gesorgt, dass die Steine aufgestellt und die neue Grenze markiert wurde? Wer hat die Steine transportiert und wie, wer hat sie gesetzt? Der preußische König Wilhelm I. war es ganz gewiss nicht. Welcher Häftling hat den Stein aus dem Berg herausgebrochen und behauen? Welcher Steinmetz hat das KP hinein gemeißelt? Fragen die Brechts lesender Arbeiter an einem Sonntagnachmittag im April 2020 stellen würde.

Ein paar Meter weiter begegnete ich einem Paar, das sich über ein Smartphone beugte, das den beiden als Navigationsgerät diente. „Vielleicht versuchen Sie es heute nochmal mit einem lebenden Navigationsgerät und fragen einfach mich, wenn Sie nicht weiterwissen“, sagte ich. Sie sahen mich an wie jemanden, der einen Raum mit offenem Hosenstall betritt, das heißt wie einen Bekloppten. Sie übten für ihren Urlaub auf Gran Canaria, fügte die Frau erklärend hinzu. Ich konnte mir nicht verkneifen zu sagen: „Bis Sie den antreten können, haben Sie doch alles wieder vergessen.“ Sie gingen davon aus, dass sie in sechs Wochen durch Las Palmas schlenderten, rief mir den Mann im Gehen über die Schulter noch zu.

Kaum hatte ich geschrieben, dass auch dieses Jahr weit und breit wieder kein Kuckuck zu hören sei, ließ sich prompt einer vernehmen. Ich saß am Hirtenbrunnen unterhalb des Klosters Schiffenberg und las. Da hörte ich von etwas weiter weg einen Kuckuck rufen. Das Gleiche ist mir vor Jahren schon einmal passiert. Als ich im Mai 2017 auf Hinter den Schlagzeilen das „Verschwinden des Kuckucks“ beklagt hatte, meldete sich ein paar Tage später einer „zu Wort“. Wie zum Hohn und um mir zu demonstrieren: „Von wegen: Wir sind nicht verschwunden!“ Schön, sich zu irren.

Dass Wissenschaft interessengeleitet ist, gehört zum linken Grundwissen. „Erkenntnis und Interesse“, lautet der Titel eines Buches von Jürgen Habermas, das Pflichtlektüre war, als ich studierte. Den Zusammenhang von Wissenschaftsproduktion und bestimmten, auch handfest ökonomischen, Interessen kann man dieser Tage bei der Erforschung des Corona-Virus beobachten. Christian Drosten hat in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung darauf hingewiesen, dass eine PR-Firma in Industriekreisen Geld gesammelt hat, um lockerungsfreundliche Positionen medial und politisch zu pushen. Hinter der fraglichen PR-Agentur steckt unter anderen Kai Diekmann, der langjährige Chefredakteur der Bild-Zeitung, „eines Mediums,“, schreibt inzwischen sogar die FAZ, „das es bekanntermaßen mit der Wahrheit nicht sehr genau nimmt“. Tweets und Aussagen des Virologen Streek in Talkshows seien dort teilweise schon wörtlich vorformuliert gewesen. „Das Hat mit guter wissenschaftlicher Praxis nichts mehr zu tun. Und es zerstört viel von dem ursprünglichen Vertrauen der Bevölkerung in die Wissenschaft.“ Drosten selber bildet das wohltuende Gegenbild eines Wissenschaftlers, der nicht irgendwelche Auftraggeber zufriedenstellen will, sondern einzig daran interessiert ist herauszufinden, wie das Virus funktioniert, wie es sich verbreitet und wie es sich eindämmen lässt. Man kann ihm beim Denken zuhören und zusehen, kann miterleben, wie Theoriebildung in einem komplexen Prozess von Versuch und Irrtum vonstatten geht und ihr Nicht-Wissen souverän eingesteht und handhabt.

Bei der Entwicklung von Corona-Medikamenten und eines Impfstoffes geht es für die Pharmaindustrie um ein weltweites Milliardengeschäft. Es ist nach wie vor ein Skandal, dass Krankheit zur Ware geworden und ein Geschäft ist. Da wird die Öffentlichkeit extrem wachsam sein müssen, dass da nicht geschludert und gehudelt und geschmiert wird und alle Sicherheitsbestimmungen und Kontrollen eingehalten werden. Aus der Geschichte der Entwicklung und Zulassung von Antidepressiva und anderen psychoaktiven Substanzen kennen wir das Zusammenspiel von Profitinteressen und Wissenschaft – zu Lasten der Patienten und zugunsten der Konzerne. Gutachter wurden gekauft und lieferten die gewünschten Expertisen. Der Spiegel-Reporter Gerhard Mauz hat einmal gesagt, man könne Gutachter bestellen „wie Waffen beim Versandhandel“. Gerade in diesem Kontext ist es von unschätzbarem Wert, dass wir Wissenschaftler wie Christian Drosten und andere haben, für die Wahrheit nicht identisch mit Verwertbarkeit ist und die die Kategorie des Zweifels und Selbstzweifels kennen. Es wäre höchste Zeit, eine zentrale Forderung der 68er Jahre wieder aufzugreifen und die Universitäten und die Wissenschaft dem Zugriff das Kapitals zu entziehen und sie der regulativen Idee der Befreiung zu unterstellen. Geforscht werden sollte zum Nutzen der Menschen und nicht, um den Profit irgendwelcher Konzerne zu mehren.

„Wenn ich höre, alles andere habe vor dem Schutz von Leben zurückzutreten, dann muss ich sagen: Das ist in dieser Absolutheit nicht richtig. Grundrechte beschränken sich gegenseitig“, sagte Bundestagspräsident Schäuble vor ein paar Tagen im Kontext der Diskussion über die Lockerung des Lockdowns. Endlich habe es mal jemand ausgesprochen, es sei wie eine Befreiung, hört und liest man seither vielerorts – bis ins linksliberale Bürgertum hinein. Was berührt mich an seinen viel diskutierten und hoch gelobten Sätzen so unangenehm? Es sind Sätze, wie sie junge Männer 1914 bei Kriegsbeginn zu hören bekamen. Damals wurde viel Schindluder mit Friedrich Schillers Satz getrieben: „Das Leben ist der Güter höchstes nicht.“ Oberstudienräte zitierten ihn damals gern, um ihre Schüler dazu zu bringen, sich freiwillig zu melden und ihr Leben herzugeben fürs Vaterland.

Brecht schrieb in jenen Tagen (fast) allgemeiner Kriegsbegeisterung einen Schulaufsatz über den Satz des römischen Dichters Horaz: „Dulce et decorum est pro patria mori“ – „Süß und ehrenvoll ist es, fürs Vaterland zu sterben.“ Nur Dummköpfe, stellte Brecht fest, könnten derart leichthin an den Tod denken. Dass er nicht der Schule verwiesen wurde, verdankte er der Intervention eines seiner Lehrer, der an ihn glaubte und Brechts Aufsatz der Schulkonferenz gegenüber zu einer Jugendtorheit erklärte. Wobei es heute ja nicht einmal darum geht, „fürs Vaterland zu sterben“, sondern die Alten und Schwachen zu opfern, damit das Geldscheffeln wieder losgehen kann, also für den Profit der Industrie. Darum ging es 1914 natürlich letztlich auch. Ich erinnerte mich an die Verve, mit der Schäuble der Griechischen Regierung die Spardiktate aufnötigte, die in der Folge ihrer Umsetzung den Tod Vieler nach sich zogen und bis heute nach sich ziehen. Das griechische Gesundheitssystem ist in dem desolaten Zustand, in dem es heute ist, weil Leute wie Schäuble Griechenland eine rigorose und für viele Menschen tödliche Austeritätspolitik aufgezwungen haben.

Beim Gang durch die Stadt komme ich an einem Gymnasium vorüber, in dem seit Anfang der Woche wieder Unterricht stattfindet. Gerade verlässt eine Gruppe älterer Schüler das Schulgelände. Sobald sie außer Sichtweite der Aufsichtspersonen sind, ziehen sie die Masken runter und umarmen sich. Es mag sein, dass innerhalb der Schulen die Corona-Regeln einigermaßen eingehalten werden, aber das Virologen- und Pädagogen-Regime endet am Schultor. Außerhalb gelten die Regeln, die das Zusammenleben der Jugendlichen bestimmen – vor, während und nach Corona.

Zum heutigen ersten Mai passt ein Witz, den Zygmunt Bauman einmal erzählt hat. „In der Fabrik der Zukunft wird es nur zwei Lebewesen geben: einen Mann und einen Hund. Der Mann ist da, um den Hund zu füttern, und der Hund ist da, um aufzupassen, dass der Mann nichts anrührt.“

Anzeigen von 4 Kommentaren
  • Volker
    Antworten

    In alten Zeiten kamen viele Menschen nicht über den engen Kreis ihres Dorfes und Nachbardorfes hinaus.

    Stimmt. Manche besaßen kein Pferd, Ochs, Karren. Nur Obrigkeit war mobil – Fürst, Pfaff, Raubritter.
    In neuen Zeiten kommen viele Menschen aus Enge ebenso nicht heraus, trotz Bahn oder Überlandbuss, da a) kein Geld, und b) Hartz 4-Fesseln angeschmiedet, für Zwingermenschen. Ist nämlich so, dass Sozialgeldabschöpfer (Schmarotzer = Virus) sich nicht – einfach mal so – frei bewegen dürfen, weil die ständig bei Fuß stehen müssen, damit denen Hören und Sehen vergeht, je nach Beschlusslage zuständigen Schlachthofs Volteramts JC.
    In alten Zeiten dominierten Kirchen-Übertürme, heute Bankenmonster, vor deren Türme Brut zu Kreuze buckelt: Covid-Träger, gehalten unter Masken, Kontaktverbot zu Ihresgleichen. Bleibt zu hause, betet und füllet Klingelbeutel.

    Für die Jüngeren: KP war auch mal die Abkürzung von Kommunistischer Partei.

    Danke für’s jünger machen ++glucks++

    Welcher Häftling hat den Stein aus dem Berg herausgebrochen und behauen?

    Keine Ahnung. Ich ahne allerdings, dass in Bad Camberg 1 Euro-Häftlinge Zwangsarbeiten verrichten, für kommunale Wichtigkeiten. Dafür bekommen sie einen Euro-Stundenlohn zu Hartz 4 obendrauf geschenkt, quasi in deren Hintern geblasen, damit Wichtigs ihre SUVs nicht im Dreck parken müssen, auf dem Weg zum Bioladen.

    Kaum hatte ich geschrieben, dass auch dieses Jahr weit und breit wieder kein Kuckuck zu hören sei, ließ sich prompt einer vernehmen.

    Obwohl man heutzutach nicht sicher sein kann, ob’s KI-Gesteuerte sind. Selbst Bienen werden darauf abgerichtet uns zu beschnüffeln, mit leichten Stromstößen auf Linie gebracht, um Drogenhunde zu entlasten, die beim Erschnüffeln eines Deosprays schon knülle werden.
    Demnächst bekomme ich zu meinem Leistungsbescheid einen Kuckuck noch angehängt, mit dem Hinweis, Brot, Butter und Senf zu pfänden, da als Pfandflasche erkannt.

  • Gerold Flock
    Antworten
    Wo kann man diesen Hund bestellen? – Mit was für einer App?
  • am Hals
    Antworten
    …und plötzlich hatten die Eltern ihre eigenen Kinder ständig am Hals –  das ist ja furchtbar

    oder

    …und plötzlich hatten die Kinder ihre eigenen Eltern ständig am Hals – noch schlimmer

     

     

     

  • ert_ertrus
    Antworten

    Später fiel mir ein, dass es einen berühmten Bewohner eines anderen Königsberg gegeben hat, der ebenfalls kaum je die Mauern seiner Heimatstadt verlassen hat und feste Gewohnheiten hatte: Immanuel Kant.

    Und den eines anderen Königsberg in Schwaben: Johannes Müller, genannt Regiomontanus, großer Mathematiker der Renaissance und Namenslieferant für einen der größten Mondkrater. Ob der ein Nesthocker war wie der mit Abstand berühmtere Ostpreuße entzieht sich meiner Kenntnis.

Schreibe einen Kommentar zu am Hals Antworten abbrechen

Beginnen Sie mit der Eingabe und drücken Sie Enter, um zu suchen