Der letzte seiner Art

 In FEATURED, Filmtipp, Kultur

Der 83-jährige Regisseur Ken Loach (»The wind that shakes the barley”, »Ich, Daniel Blake«) ist das Urgestein des engagierten und dezidiert linken britischen Kinos. In gewisser Weise ein Bernie Sanders der Filmkunst. Man wundert sich, dass es »so jemanden« überhaupt noch gibt und dass er so lange durchhält. Wie so oft, ergreift Loach bedingungslos Partei für Menschen am unteren Rand der Gesellschaft, für Arme und Entrechtete, und legt die Finger auf die Wunden der selbstgerechten »christlich-abendländischen« Gesellschaften. Zwischen undurchsichtigem »Freelancing« als Paketlieferant und den prekären Arbeitsbedingungen einer Krankenpflegerin etabliert Ken Loachs neuester Film »Sorry we missed you« das Narrativ einer Familie in Bedrängnis und doch in Beständigkeit. Ania Gleich, www.skug.at

»Sorry we missed you«, der Nachfolger von »I, Daniel Blake« des Regisseurs Kevin Loach und Drehbuchautors Paul Laverty, setzt mit seiner Thematisierung von prekären Scheinselbstständigkeiten im größeren Kontext von Amazon und Co. thematisch gewissermaßen noch einen drauf. Nach Loachs Vorgänger, der die problematischen Zustände rund um Arbeitslosenunterstützung im heutigen England behandelt, zeigt uns der 83-jährige Brite in seinem aktuellen Film, wie weit eine Familie zusammenhalten kann, wenn Arbeit eine existentielle Grundlage ist und zugleich an eben diesen Grundfesten rüttelt.

Blurred Lines
Anstatt sich nur eines der problematischen Arbeitsfelder anzunehmen, macht Loach den Spagat, indem er eine Familiensituation schildert, in der beide Elternteile gleichermaßen dazu gezwungen sind, sich mit ausbeuterischen Arbeitsbedingungen herumzuschlagen. Ricky (Kris Hitchen) muss sich als ehemaliger Bauarbeiter in Newcastle nach dem Verlust seines Jobs nach einer neuen Arbeit umsehen. Über einen Freund kommt er dazu, sich als »Freelancer« bei einem Paketauslieferungsunternehmen zu bewerben. Es wird schnell klar, dass diese scheinbare Selbstständigkeit durchsetzt ist von Stolperfallen, die ihm von seinem Arbeitgeber fast schon täglich vor die Füße gelegt werden. Schnell realisiert er, wie unfrei er eigentlich ist.

Gleichermaßen prekär ist die Situation seiner Frau Abbie (Debbie Honeywood), die, als häusliche Pflegerin beschäftigt, in ihren ebenfalls inoffiziellen 12-und-mehr-Stunden-Diensten an die Grenzen ihrer psychischen Kapazitäten getrieben wird. In diesem schweren thematischen Umfeld erzählt Ken Loach gleichzeitig auch die Geschichte einer Familie, die wie eine ständig spontan reagierende Projektionsfläche für die Eltern aufscheint.

Ein Universum in der Nussschale
Was den Film besonders auszeichnet, ist jedoch nicht nur das absolut direkte Vor-Augen-Halten dieser noch heutzutage meist »übersehenen« Lebensrealitäten, sondern vielmehr, was er im Subtext erzählt: wieviel es bedeutet, wenn Menschen zu »bloßen Mitteln« reduziert werden und doch zugleich die Mittel aufbringen müssen, um eine familiäre Existenz aufrechtzuerhalten. Die Ambiguität, die die Hauptcharaktere in dieser Weise in sich tragen, wird wundervoll durch die beiden Kinder Seb (Rhys Stone) und Liza Jane (Katie Proctor) konterkariert, die in gleichen Maßen die Frustration in dieser Aussichtslosigkeit auffangen müssen und dennoch auf ihre Weise abprallen lassen. Immer wenn der*die Zuschauer*in glaubt, die Familie würde an die Grenzen ihrer Widerstandsfähigkeit geraten, folgt eine Sequenz, in der klar wird, wie essenziell diese Familie gerade durch die vielen äußeren Konfrontationen zusammengehalten wird.

Es ist absolut gerechtfertigt, Loachs Film als pessimistische Kritik an einem unmenschlichen »liberalen« Kapitalismus zu betrachten. Dennoch soll hier herausgestrichen werden, dass diese Lesart die andere Seite vernachlässigt, in der der Film etwas sehr viel Fundamentaleres über unseren Umgang miteinander und füreinander erzählt – ausgehend vom Mikrokosmos einer Familie. Der Titel »Sorry we missed you«, der auf die übliche Meldung des Zustellers verweist, wenn man zur Ankunft des erwünschten Pakets nicht zu Hause war, suggeriert in diesem Sinne doch auch etwas anderes: nämlich die Abwesenheit, die entsteht, wenn die Leere eines entmenschlichten Systems übergreift und nichts anderes übrig lässt als dumpfe Erschöpfung. Dann erst kommt der Punkt, an dem wir uns umdrehen und fragen, wo wir uns als Menschen verloren haben.

 

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