Der Mensch nach Corona

 In FEATURED, Politik

Eine zu stark regulierte und vereinheitlichte Gesellschaft führt unweigerlich zur Auflösung des Menschen. Die „offene Gesellschaft“ — sie war der ganze Stolz westlicher Länder in der alten Normalität. Jeder konnte sein Leben nach eigenem Gusto gestalten, Gesetze zogen allenfalls ein paar Leitplanken ein. Rechte waren Schutzrechte des Individuums gegenüber dem Staat. Dieser war dem Einzelnen rechenschaftspflichtig, nicht umgekehrt. Aber schleichend — seit dem Beginn der Corona-Krise beschleunigt — kehrte sich dieses Verhältnis zwischen Individuum und Kollektiv um. Die Größe der Krisen, die die Menschheit als Ganzes bedrohen und die verbesserten technischen Möglichkeiten stellen die liberale Gesellschaft auf eine harte Probe. Wer neuere transhumanistische Tendenzen als unmenschlich brandmarkt, wird oft recht kaltschnäuzig abgefertigt. Wenn der Mensch nicht zu den neuen technischen und biopolitischen Erfordernissen passe, müsse er eben so lange verändert werden, bis er passt. Der politische Umgang mit dem Corona-Thema lässt tief in den Geisteszustand unserer Zeit blicken. Es geht um viel mehr als um ein angebliches Killervirus — nämlich um eine fundamentale Transformation der Paradigmen, betreffend Mensch und Gesellschaft. Armin Stalder

 

Der Beginn des Jahres 2020 offenbarte einen gesellschaftlichen Paradigmenwechsel. Regierungen weltweit instrumentalisierten ein Virus als Legitimationsfigur für eine Schocktherapie, um verfassungsgarantierte Grund- und Freiheitsrechte auszuhöhlen. Die Radikalität und die Geschwindigkeit dieser Entsagung politisch etablierter Prinzipien erlaubt es zu behaupten, dass sich die größte gesellschaftliche Krise seit dem Zweiten Weltkrieg ereignet.

Krisen und Extremsituationen markieren Konfliktlinien und können Umwälzungen ankündigen, da sie historisch betrachtet häufig ein Momentum potenzieller Machtübergänge darstellen.

Was zum Vorschein gelangt, ist eine sich in ihrer komplementären Dialektik entfaltende Neukonzeption von Gesellschaft und einer darauf zurechtgebogenen philosophischen Anthropologie bzw. des Menschenbildes — ein elitäres Verständnis politischer Philosophie, in dem sich die Staatlichkeit szientistisch legitimiert und einem nunmehr entmündigten Bürger paternalistisch aufoktroyiert. Diese gegenwärtige Staatlichkeit droht, die noch offene Gesellschaft in eine geschlossene zu transformieren.

Im Folgenden wird versucht, einige Anzeichen dieses Übergangprozesses analytisch zu beleuchten und die charakteristischen Unterschiede zu beschreiben, um die damit verknüpften politischen Implikationen zu verdeutlichen. Dazu ist es hilfreich, den kolportierten Paradigmenwechsel teleologisch weiterzudenken und dann aus einer imaginierten Retrospektive eine kritische Position einzunehmen.

Intensive Menschenhaltung

Was seit zwei Jahren zu beobachten ist, entspricht nahezu kongruent einem biopolitischen Regierungsprogramm, so wie es vom französischen Denker Michel Foucault (1926 bis 1984) analysiert worden war: Gesundheit wird das oberste Regierungsprimat, und diese Fokussierung des politischen Handelns auf ein einziges Ziel erzwingt die Usurpierung aller anderen gesellschaftlichen und individuellen Bedürfnisse.

Diese Totalität wird ideologisch aufgeladen und suggeriert, im Interesse des Guten und Richtigen zu handeln, wodurch abweichendes Verhalten und geäußerte Kritik — der offiziellen propagandistischen Doktrin folgend — geächtet und geschmäht werden dürfen, sollen, ja müssen.

Diese Einseifung stellt das disziplinarische Seelendressurprogramm einer postmodernen Regierungstechnologie dar, mit dem Macht heute durchgesetzt wird. Und dieser Vorgang, die Ausschaltung einer kritischen Debatte, war ein festes Element der Herrschaft in den europäischen Totalitarismen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts — allerdings mit einem anderen Feindobjekt.

Die Corona-Biopolitik führt dazu, was der niederländische Philosoph Ad Verbrugge „intensive Menschenhaltung“ nennt.

Im Rahmen einer biologisch-virologischen Ideologie müsse eine permanente biometrisch-digitale Überwachung der Bürger errichtet werden. Diese werden fortlaufend hygienischen Ritualen und präventiven medizinischen Eingriffen unterworfen: Impfkampagnen, Desinfektionen, Abstandsregeln, Gesichtsmasken.

Der österreichische Psychologe, Politikwissenschaftler und Autor Alexander Meschnig verglich in einem Text Corona gar mit der Symbolik einer Religion, in der Pharmakonzerne, Medien und Politik die Verkünder des neuen Glaubens seien. Die Impfung erscheine wie eine heilige Kommunion, ein Sakrament, wobei die Erlösung durch eine chemisch-biologische Substanz erfolge.

Verfechter dieser Ideologie treten in einen energischen Kampf mit dem Hassobjekt: Virus, Maskenlose, Maßnahmenkritiker, Ungeimpfte. Sie entwickeln ein eingeschränktes Wahrnehmungsfeld und sind sehr sensibel für die Opfer des Virus, währenddessen sie jedoch Betroffene von Regierungsmaßnahmen (zum Beispiel Kinder wegen Schulschließungen, Hungertote wegen zusammengebrochener Lieferketten) kaum wahrnehmen.

Zur Enthumanisierung dieses Hygiene-Regimes trägt bei, dass auf eine Reflexion der phänomenalen Ästhetik verzichtet wird: Das Gesicht ist ein Abbild der menschlichen Seele, heißt es beim römischen Rhetoriker Cicero. Wer es verdeckt, tötet sich selbst. Durch die Verdeckung des Gesichtes werden Menschen daran gehindert, sich im Gegenüber zu erkennen — laut dem französischen Philosophen Emmanuel Levinas (1906 bis 1995), der Familienangehörige im Holocaust verlor, eine Voraussetzung dafür, warum Menschen anderen Menschen helfen.

Vielleicht hatte Michel Foucault recht, als er 1966 in „Die Ordnung der Dinge“ schrieb, dass der Mensch dereinst verschwinden werde „wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand“. Der Mensch als Subjekt verschwindet und hat dementsprechend die Gestaltung seiner Geschichte verlassen, ja er ist ganz gleichgültig erloschen. Man könnte annehmen, dass dies 2020 eingetreten ist — nur, dass des Menschen Gesicht statt im Sand hinter der Maske verschwunden ist.

Das Leitmotiv der Coronapolitik ist transhumanistisch geprägt und von einem mechanistisch-materialistischen Weltbild okkupiert, dessen Ideal die Verschmelzung von Mensch und Maschine ist, sodass naturgegebene Ur-Ängste der menschlichen Existenz wie Tod oder Krankheit „überwunden“ würden.

An der Impfung lässt sich dies exemplifizieren: Die Natur, das heißt das Immunsystem des menschlichen Körpers, ist schwach, physisch limitiert, unvollkommen, und muss deshalb überwunden werden, kybernetisch, pharmazeutisch, artifiziell: Booster, später das Booster-Update, es braucht eine kontinuierliche Leistungsverbesserung des Organismus, wie bei einem Computersystem oder einer Software, die in der Beta-Version auf den Markt kommt und ständige Nachbesserungen benötigt.

Die Impfung ist in diesem Kontext das innovative Produkt einer mentalen Ordnung, des Transhumanismus, das als praktisches Problem zukünftig Irritationen und Schäden verursachen könnte, dessen Folgen heute nicht abschätzbar sind.

Es ist die Ausgeburt des Denkens des modernen „Techno Sapiens“, in einem Modus der megalomanen Manie alle Probleme durch Technologie beheben zu wollen bzw. der Glaube daran, Probleme mittels Technologie auch wirklich lösen zu können, bevor überhaupt eingeschätzt werden kann, ob die Innovation zu einer Lösung beiträgt oder lediglich neue Probleme schafft.

Die Entrechtung des eigenen Körpers ist die ultimative Schwelle, die ein Totalitarismus noch überschreiten kann. Mit seiner Bemächtigung reduziert die Biologie das menschliche Leben auf ein chemophysikalisches Ereignis und entstellt den Menschen zum Tier. Das Leben wird hier auf eine bloße instrumentelle Formel abgewertet, fernab jeder Kulturgeschichte und Seele.

Solche eugenische Fantasien sind aus den Vernichtungslagern des 20. Jahrhunderts bekannt und schwirren kulturpsychologisch mit, wenn sich Pandemie-Prediger zu Schöpfern des Universums erheben und die Hand an das Schicksal schmiegen. „Herrschen heißt, die Macht eines Gottes zu besitzen“, hieß es beim römischen Kaiser Augustus.

Der Übergang des verbalen Hasses hin zur existenziellen Ausrottung der angeblichen Sündenbockgruppe, den Ungeimpften, war im Winter 2021/22 noch die letzte verbliebene Eskalationsstufe im Drehbuch jedes totalitären Systems, zu dessen Umsetzung es (glücklicherweise) nicht gekommen ist.

Die technokratisch-transhumanistischen Vorstellungen des Corona-Regimes, den Menschen mittels Künstlicher Intelligenz zu überwachen, zu steuern, zu manipulieren und sein Verhalten algorithmisch berechnen zu wollen, zeugen von einer misanthropischen Grundeinstellung.

Daher soll alles Lebendige und potenziell Unberechenbare getilgt werden, zum Beispiel durch Lockdowns, aus der puren Verzweiflung resultierend, die aus der Uneinsichtigkeit besteht, menschliches Verhalten nicht mit Computermodellen prognostizieren zu können, worauf konsequenterweise mit absolutem Kontroll- und Überwachungswahn reagiert wird.

Eine Gesellschaft isolierter, vereinsamter Individuen implodiert. Doch es ist just diese Atomisierung der Menschen, begünstigt durch die zurückliegenden vier Jahrzehnte der neoliberalen Politik — samt Kaputtsparung unter anderem des Bildungs- und Gesundheitswesens und der Anwendung des Profitmaximierungsgebots in eigentlich unökonomischen Gesellschaftsbereichen — welche zu Sinnlosigkeit und Angst führt und laut dem Professor für klinische Psychologie, Mattias Desmet, eine Bedingung für ein totalitäres Massen-Narrativ darstellt. Desmet baut dabei auf einen Klassiker der Totalitarismusforschung auf: „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ der politischen Philosophin Hannah Arendt (1906 bis 1975). Desmets Buch „The Psychology of Totalitarianism“ erscheint diesen Juni.

Die Existenz von vitalen menschlichen Bedürfnissen, nach Reziprozität, wird grundlegend verleugnet. Das Spontane, Humane, Unberechenbare der menschlichen Natur wird zur Gefahr für den politischen Körper potenziert. Der Mensch wird auf seine nackte biologische Existenz reduziert (wie es der italienische Philosoph Giorgio Agamben nennt), wo er auf die technokratische Totalerfassung zurückgeworfen bleibt.

Diese Menschen glauben an nichts mehr — außer an ihr Überleben, das um jeden Preis gesichert werden muss. In der Angst, ihr Leben zu verlieren, geht frei nach dem römischen Stoiker Juvenal genau das verloren, wofür es sich zu leben lohnt.

Doch gerade in Angst und Panik würde es sich lohnen, die Werte des Lebens zu zelebrieren, so wie es die jungen Menschen in Giovanni Boccaccios (1313 bis 1375) „Dekameron“ taten, die sich 1348 während der Pest in Florenz zur Feier des Lebens Geschichten über die Liebe erzählten.

Der Homo Corona dagegen bleibt ein degradierter Mensch, beschränkt auf seine Rolle des Datenlieferanten — Daten, die politisch und kapitalistisch zweckentfremdet werden. Dieser Mensch ist eine verwaltete Entität und ein tragisches Genie, das die Instrumente seiner eigenen Unterjochung erfunden hat. Dieser Mensch ist ein „gehorsamer Demokrat“ (Friedrich Dürrenmatt) — ein Mensch, der autoritätshörig und willfährig jedes präsentierte Narrativ inhaliert, das natürlich nur zu seinem Besten ist.

Die latente Affirmation der Massen zur Coronapolitik und der Virusideologie, die sich die Regierungen dank einer Politik des billigen Geldes erkauft haben, entpuppt sich als Wiederkehr eines Kollektivismus, der eine tiefe Sehnsucht nach gemeinsamer Identifikation erfüllt, nachdem eine Politik des Marktradikalismus und der Glorifizierung des Individualismus unter neoliberaler Hegemonie in den vergangenen 40 Jahren die Erzählgemeinschaft fragmentiert hat.

Die Identifikation mit diesem Kollektivismus — in der elitären Diskurshoheit als „Solidarität“ verbrämt — schließt das metaphysische Vakuum der postmodernen Orientierungslosigkeit, das der einzelne Bürger in den vergangenen Jahren — historisch betrachtet — beispiellosen Wohlstands nicht sinnstiftend zu besetzen vermochte. Vom gepriesenen Individualismus und alternativen Sinnangeboten bleibt nach der Selbstkonsumation lediglich eine Pseudo-Befreiung und innere Leere übrig.

Die biopolitische Menschenhaltung widerspricht den Prinzipien einer offenen Gesellschaft. Nun soll auf die Weichenstellung eingegangen werden, an der viele Gesellschaften stehen, wobei es mit der offenen und der geschlossenen Gesellschaft im Wesentlichen zwei potenzielle Zukunftsszenarien gibt.

Die geschlossene Gesellschaft

Die geschlossene Gesellschaft klammert sich an ein willkürlich rekonfiguriertes Menschenbild: Der Bürger verfügt über keine naturrechtsbasierten Grundrechte als Errungenschaften des aufklärerischen Zeitalters mehr. Die Würde des Menschen, die auch durch rechtsphilosophische Überlegungen des Philosophen Immanuel Kant (1724 bis 1804) Eingang in die Grundrechte gefunden hat, ist damit unterminiert. Die geschlossene Gesellschaft ist eine Gesellschaft der konstanten Erpressung. Die Teilnahme am sozialen Leben wird nur noch als Gegenleistung für die Aufgabe der politischen Mündigkeit gewährt.

Dabei wird die Bedeutung von Recht umgedeutet bzw. ein zentrales Rechtsstaatsprinzip aufgegeben — Recht heißt nicht mehr, dass der Bürger über gewisse freie Handlungsoptionen verfügt, sondern sich generalverdächtig macht, andere zu schädigen.

So wird die juristische Beweislast auf den Kopf gestellt: Recht gewährt nicht mehr Entfaltungsmöglichkeiten, sondern lädt dem Bürger eine Sünde auf. Nun soll er beweisen, dass er keine Gefahr darstellt. Davon kann er sich befreien, wenn er sich einem technokratisch-digitalen Regime von Impf- und anderen Pässen unterordnet.

Spätestens hier sind Parallelen im übertragenen Sinn zum kirchlichen Ablasshandel mittelalterlicher Prägung unübersehbar. Statt eines Ablassbriefes erhält der Begnadigte nun einen QR-Code auf das Smartphone, womit er elektronisch überwachbar wird, was zukünftig freilich mit weiteren Bedingungen verknüpft werden kann.

Indien bietet diesbezüglich einen Vorgeschmack: ein nationales, biometrisch gestütztes Digitalisierungsprojekt erfasst Menschen mittels Fingerabdruck und Iris. Nur wer in der Datenbank registriert ist, kann ein Bankkonto eröffnen, eine Telefonnummer erhalten oder Sozialleistungen beanspruchen.

Bei Zugtickets, Stadioneintritten oder Kinobesuchen mag das für viele Menschen noch nicht so gravierend sein, doch bei Geldversorgung, Krankenversicherung, Steuernachteilen, Arbeitsmarktchancen usw. betrifft es die gegenseitige existenzielle Abhängigkeit der Menschen von der Gesellschaft, wo das staatliche Handeln in Zwang mündet, der von den behavioristisch zurechtgekneteten Marketingschreiberlingen der Regierung mit virtuos-ridiküler Sprachverwurstung übertüncht wird: „Impfen ist Solidarität“ oder „Abstand ist Nächstenliebe“. Die Klimax der linguistischen Perversion erreicht „social distancing“. „Socialis“ steht für gesellschaftlich oder gemeinsam. Offenbar kann man distanziert miteinander zusammenleben.

Eine solche Regierungspraktik verlässt den rechtsstaatlichen Rahmen und tritt in einer autoritären Attitüde auf. Dieser Staat wird nicht mehr von der Freiheit des Menschen ausgehend gedacht und legitimiert, sondern bedient sich etwa der Philosophie eines Thomas Hobbes (1588 bis 1679) negativer Prägung (Krieg aller gegen alle), in der sich die Staatsgewalt mittels Berufung auf die Sicherheit jeden Instrumentariums zur Aufrechterhaltung der Ordnung bedienen darf, was nichts anderes bedeutet, als die demokratischen Rechte auf den Müllhaufen der Geschichte zu kippen.

Die Kraft der Bedrohung durch die geschlossene Gesellschaft schöpft sich aus der gegenwärtigen historischen Konstellation. Die rasante technologische Entwicklung schafft Rechenkapazitäten für Big Data und Künstliche Intelligenz, was nie dagewesene Möglichkeiten zur elektronischen und automatischen Überwachung und damit zur Beeinflussung von Denken und Verhalten (Nudging, Social Engineering, Gamification et cetera) eröffnet.

In einigen Provinzen Chinas wird dieses gesellschaftliche Steuerungsmodell — euphemistisch Sozialkreditsystem genannt — seit Jahren zum Zweck der politischen Kontrolle und ökonomischen Profitsteigerung getestet. Mit einem prämienbasierten Belohnungssystem ließe sich gewünschtes Verhalten konditionieren. Ganze Heerscharen von ökonomistischen Psychologen haben sich in den vergangenen Jahrzehnten diesem Thema gewidmet.

Die Risiken dieses „Überwachungskapitalismus“ (Shoshana Zuboff, Harvard-Ökonomin) liegen darin, dass diese Gestalt der Herrschaft formlos ist — die Strukturen digitaler Ausbeutung und algorithmischer Zensur verlaufen virtuell und größtenteils opak im Cyberspace. Dieser Rückzug der Sichtbarkeit der Staatsgewalt hin zu einer „smarten“ Machtausübung stellt ein charakteristisches Novum dieses Regierungsdispositivs dar, das im Corona-Regime fundiert.

Hier gilt zu erwähnen, dass es zwischen Regierungsapparaten, Technologie- und Pharmakonzernen sowie den supranationalen Organisationen und Gremien, in denen diese Akteure ihre Interessen bündeln und wo niemand politisch legitimiert ist, Interessenkonvergenzen bezüglich Global Governance gibt.

In der Schweiz zum Beispiel gibt es im Corona-Regime, wie in den meisten Staaten, eine Macht-Triade bestehend aus Regierung — ihre Beraterkreise aus technokratischen Corona-Experten eingeschlossen — Parlament und Medien, wie es während der gesamten Nachkriegszeit nicht zu beobachten war. Die Gewaltenteilung ist dysfunktional, und die Gerichte halten dem politischen Druck allzu oft nicht stand.

Die letzteren Institutionen sollten die Regierung beaufsichtigen und kontrollieren, denn ihre korrektive Funktion ist ihre Raison d’être. Stattdessen handeln die demokratischen Kontrollorganisationen in gütiger Eintracht mit einer kompetenzübergreifenden Exekutive. Diese faktische Feststellung ist für den aufmerksamen Bürger mittlerweile eigentlich trivial, doch sie birgt ernsthafte Gefahren für das gesellschaftliche Immunsystem.

Die offene Gesellschaft

Die liberale Demokratie stellt eine Institutionalisierungsform einer offenen Gesellschaft innerhalb eines republikanischen Staatsverständnisses dar, das bis auf den antiken griechischen Philosophen Aristoteles zurückgeht und im heutigen Verständnis als wesentliche Bausteine den Rechtsstaat (zur Machtbegrenzung) und die Menschenrechte (zur Anerkennung der Würde jedes Menschen) umfasst. Wobei gewisse Prinzipien (zum Beispiel Grundrechte) nicht durch demokratische Mehrheitsentscheidungen beseitigt werden können. Grundrechte in diesem Zusammenhang sind Abwehrrechte des Einzelnen gegenüber einem autoritären Staat, der in die eigene Lebensgestaltung eingreift.

Die Bedrohung für die liberale Demokratie kommt heute von innen. Zum Beispiel durch eine Verwahrlosung der Sprache der Moral.

So schreibt der Philosoph Alasdair MacIntyre in seinem Werk „Der Verlust der Tugend“, dass „die Barbaren“ diesmal nicht jenseits der Grenzen warten würden; sie würden uns schon seit einer ganzen Weile beherrschen. Im Kontext der Coronakrise kann man „die Barbaren“ als diejenigen Akteure identifizieren, die mit aktivistischem Szientismus die liberale Demokratie filetieren.

Der Wissenschaftsphilosoph Michael Esfeld von der Universität Lausanne ist der Ansicht, dass Exponenten aus Wissenschaft, Politik, Wirtschaft und Massenmedien in einer Phalanx die Herausforderungen durch das Virus zu einer existenziellen Menschheitskrise hochstilisieren, damit im Schatten der erzeugten Angst die gesellschaftlichen Grundwerte ausgehöhlt werden können. Mit dieser politisch konstruierten Ächtung beziehungsweise Ausgrenzung von Meinungen und Menschen sind die Gesellschaften heute wieder konfrontiert.

Die zentrale Frage bei der offenen Gesellschaft dreht sich darum, ob sie alle Menschen bedingungslos akzeptiert oder ob sie Grundrechte an Bedingungen knüpft, was sie de facto zu Privilegien umwandelt. Letzteres widerspricht der Natur von Grundrechten, denn sie sind verfassungsmässig jedem Menschen garantiert und können weder entzogen noch gewährt werden.

Im Grunde stehen in der Coronakrise die intellektuellen Fundamente der gesellschaftlichen Nachkriegsordnung auf dem Spiel, die auf Menschenrechten und Rechtsstaat aufbauen. Indem der Bundesrat — und mit ihm gleichzeitig nahezu alle Staatsführungen weltweit — die Grundrechte und im weiteren Sinne die Menschenrechte durch die Implementierung diverser Hygienemaßnahmen verletzt, missachtet er deren Grundlagen: Freiheit und Menschenwürde. Doch ein moralischer Wert, der über dieser Würde stehe, könne es nicht geben, so Esfeld.

So wird die Bestimmung über die Existenz von Grundrechten einer Expertokratie übergeben, die szientistisch beanspruche, ein moralisch-normatives „gutes“ Wissen zur Steuerung der Gesellschaft zu besitzen. Da es dies nicht geben kann, müssen Maßnahmen im Umgang mit dem Virus willkürlich sein — mal abgesehen von der Evidenzlosigkeit und ergo zweifelhaften Nützlichkeit der meisten Maßnahmen oder den verursachten kollektiven Schäden. Die Bedrohung durch diese Willkürlichkeit besteht darin, dass die Legitimationsfigur für technokratische Maßnahmen unabhängig von einer allfälligen konkreten Gefahr beliebig modifiziert werden kann: Gesundheit, Klima, Sicherheit, Religion et cetera.

Wer oder was als gesund und krank gilt, definiert das im vermeintlich wertneutralen Gewand auftretende Expertentum, das eine Zwangsideologie mit wissenschaftlicher Anmut ummantelt, und behauptet, zu diesem oder jenen Zweck müsse der Mensch in seiner Totalität erfasst und überwacht werden. Daten sind das neue Öl und liefern eine Begründung für die ubiquitäre pandemistische Kontrollobsession.

Diese „Epistemisierung des Politischen“ (Alexander Bogner) führt dazu, dass politische Handlungsoptionen kaum diskutiert werden. Ambiguitäten werden nicht geduldet. Was zählt, sind scheinbar überlegene Erkenntnisse, aus denen dann Lösungen abgeleitet und durch ergebene Presselautsprecher als alternativlos rausposaunt werden. Und es sind diejenigen Erkenntnisse, die eine politische Ideologie angeblich rechtfertigen und Politiker in „der“ Wissenschaft ihre Verantwortungsabsolution finden.

Diese Entwicklung, wo die freie Debatte und das Ideal des mündigen Bürgers durch das des empörungsgemanagten, apathischen Konsumenten abgelöst wird, hat freilich bereits vor Corona eingesetzt und zum Beispiel in Publikationen des Psychologie-Professors Rainer Mausfeld Eingang gefunden.

Die offene Gesellschaft wird von lebendigen Menschen bevölkert. Der Philosoph Martin Heidegger (1889 bis 1976) nannte das lebendige Sein „Dasein“.

Wie der Mensch leben will oder soll, darauf kann keine Wissenschaft und keine Politik eine Antwort geben. Im Dasein wird der Mensch erst zum Menschen, das Menschliche wird so überhaupt erst möglich.

Zum guten Leben im aristotelischen Sinne gehört Autarkie, sodass jeder Mensch für sich allein sein Leben lebendig gestalten kann — im Idealfall in der Gemeinschaft mit anderen Menschen.

Das nackte Leben — eigentlich bloßes Überleben — der geschlossenen Gesellschaft dagegen ist kein zum Glück befähigendes Leben. Der Begriff der Autarkie, so Giorgio Agamben, geht über den rein biologischen Begriff hinaus, der als bios keinerlei Form oder Freiheit hat — und den Menschen zum Sklaven macht. Der Mensch kann sich zum Menschsein entschließen — oder sich seiner Lebendigkeit berauben lassen und das Leben selbst ad absurdum führen, indem man es der pathologischen Fremdüberwachung überlässt, deren einziges Ziel ist, im Leben das Lebendige auszumerzen. Oder: Die Freiheit bewahren, indem man sie abschafft, und das Leben schützen, indem man es zu Tode rettet.

Redaktionelle Anmerkung: Dieser Beitrag erschien zuerst unter dem Titel „Homo Corona: Die geschlossene Gesellschaft und die Auflösung des Menschen“ bei transition news.

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Dank an den Rubikon, www.rubikon.news, wo dieser Artikel zuvor erschienen ist.

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