Der Preis der Lohnarbeit

 In FEATURED, Umwelt/Natur, Wirtschaft

Der zunehmende Zerfall der Gesellschaft gefährdet unsere Zukunft. Soll die Natur für Arbeitsplätze weiter zerstört werden? Im Hambacher Forst spitzt sich dieser Widerspruch zu. Gewerkschaften und Umweltschützer stehen sich feindlich gegenüber. Deutlich wird: Mit einer am kapitalistischen Lohnarbeitsmodell klammernden Sozialdemokratie sind aktuelle Probleme nicht zu lösen. (Susan Bonath)

Endlos erstrecken sich Mondlandschaften am Niederrhein nahe Köln. Der Energieriese RWE fördert dort seine Braunkohle. Mehr als 3.500 Hektar Urwald sind dem Tagebau bereits zum Opfer gefallen. Nun sollen die letzten 200 Hektar Wald, der Hambacher Forst, den Baggern weichen – trotz geplantem Kohleausstieg. Denn laut einer von der Bundesregierung eingesetzten Kommission soll – und könnte – das letzte Kraftwerk 2038 vom Netz gehen. Doch RWE will in den kommenden 20 Jahren alles herausholen. Es geht um Profite.
Von der Miniaktion zum Massenprotest

Umweltschützer wehren sich seit vielen Jahren gegen die Umweltzerstörung durch den Konzern. Lange blieb der Protest klein. Die Boulevardpresse interessierte das nicht. Und wenn doch, tat sie die Waldbesetzer in ihren Baumhäusern als Spinner ab. Doch nun will RWE ernst machen, den Wald für die Kohle roden, und dies ausgerechnet zu einer Zeit, in der es dank alternativer Energiegewinnung kaum jemandem schlüssig erscheint.

Der Widerstand ist zum Massenprotest angewachsen. Der Hambacher Forst ist zum Symbol des Kampfes gegen Umweltzerstörung und die Übermacht des Kapitals geworden.

Was ist passiert? Nach einem Deal mit der nordrhein-westfälischen Landesregierung und einer zunächst positiven Gerichtsentscheidung in erster Instanz wollte RWE im Oktober mit dem Abholzen beginnen. Die Aktivisten gerieten in den Focus. Immer mehr Menschen sammelten sich bei Protesten, zu denen sie aufriefen. Während das Land die Baumhäuser von der Polizei räumen und die Erbauer verfolgen ließ. Vor einigen Wochen demonstrierten rund 50.000 Menschen gegen die Rodung – mitten in der Pampa.

Am letzten Oktoberwochenende folgte die nächste Großaktion: Tausende Umweltschützer reisten an, besetzten ein Haus, errichteten ein Camp, durchbrachen Polizeiketten, besetzten einen Bagger, blockierten die Tagebau-Bahn. Auf einem Front-Transparent hieß es: „Kapitalismus ist keine Naturgewalt“. Der Kohleausstieg sei möglich, und zwar sofort. Die Polizei setzte Wasserwerfer ein, steckte „Aufrührer“ in Gefangenen-Sammelstellen. Die Demonstranten nahmen hunderte Anzeigen gegen sich selbst in Kauf.

Derweil ätzte die rechte Presse aus allen Rohren. Focus online titelt beispielsweise: „Kapitalismus-Kritik statt Umweltschutz“. Linksradikale Gruppen würden den Protest für „ihren Kampf gegen das System missbrauchen“, findet das Blatt. Es jammert über besorgte Staatsschützer, warnt vor „Gewaltpotential“ und „Krawalltouristen“. Kein Wort über den Zusammenhang zwischen kapitalistischem Profitstreben und Umweltzerstörung, man weiß die „Law & Order“-Fraktion anzuheizen. Die tobt sich darunter aus.

Klimarat warnt vor Kollaps

Immerhin haben auch Focus und Co erkannt: Längst geht es um mehr als das kleine Waldstück. Es geht um nichts weniger, als Lebensgrundlagen für die Nachwelt zu erhalten. Sogar der Klimarat warnte Anfang Oktober vor einem drohenden ökologischen Kollaps. Schreite die Erderwärmung mit der aktuellen Beschleunigung voran, könne das Klima schon in zwölf Jahren kippen, heißt es in seinem Bericht.

Laut Forschern bedeutet das: Der Meeresspiegel steigt rasant, Dürreperioden und Überschwemmungen häufen sich, Wüsten breiten sich aus, immer mehr Gebiete der Erde werden unbewohnbar. „Der Klimawandel wird zur wichtigsten Fluchtursache“, konstatiert das Gremium in dem Bericht.

Sein Rezept: Die Massentierhaltung müsse beendet, der CO2-Ausstoß massiv eingedämmt, die Energie aus Sonne, Wind und Wasser gewonnen und deren Verbrauch drastisch eingeschränkt werden. Der Verkehr sei zu begrenzen und der Raubbau an Rohstoffen, inklusive massiver Überproduktion, müsse umgehend aufhören. Kurzum: All das, worauf die kapitalistische Produktionsweise basiert, ist nicht mehr tragbar.

Die Angst der Arbeiter

Ganz anders sehen es die Gewerkschaften. Auch sie brachten Massen auf die Beine. Im Schlepptau der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie (IG BCE) und der Vereinigten Dienstleistungsgewerkschaft (Verdi) protestierten kürzlich 20.000 Bergleute und RWE-Angestellte – und zwar für das Weiterbaggern des Konzerns, gegen den Kohleausstieg und gegen die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts (OVG) Münster für einen vorläufigen Rodungsstopp. RWE drohte bereits damit, Arbeitsplätze abzubauen.

Auch die Beschäftigten sind nicht zimperlich. Eine Woche vor der Großdemo im Hambacher Forst waren etwa 150 wütende Mitglieder der IG BCE vor dem Wohnhaus von Antje Grothus aufmarschiert. Grothus ist Mitglied der Kohlekommission und bekennende Waldschützerin. Erst als Teilnehmer gegen ihr Fenster schlugen, griff die Polizei ein. Die NRW-Grünen sprachen von Psychoterror. IG-BCE-Chef Michael Vassiliadis entschuldigte sich. Der Betriebsratsvorsitzende von RWE Köln, Walter Butterweck, bestritt eine Bedrohung.

Die Angst der Bergleute ist verständlich. Denn am Ende droht Hartz IV, inklusive Totalenteignung und Dauerarmut. Armutsfalle.

Das bekundeten sie deutlich: „Nehmt dem Papa den Job nicht weg“, hieß es auf dem Plakat eines Teilnehmers. Man stellte sich, gleich einem „Stockholm-Syndrom“, ganz offen auf die Seite des Großkonzerns. „I love RWE“, lautete der Slogan auf vielen Schildern. „Ohne gute Arbeit kein gutes Klima“, mahnten die Gewerkschaften. Und: „Seit wann ist ein Baum mehr wert als ein Mensch!“, tönte es vom Rednerpult.

Falsche Fronten

Die erbitterten Fronten, die hier aufeinander treffen, muten nicht ohne Grund irrational an. Niemand kann ernsthaft Arbeitsplätze erhalten wollen zum Preis einer ökologischen Apokalypse, die alle heutigen bewaffneten und unbewaffneten Verteilungskämpfe, oft getarnt als religiös oder ethnisch begründete Konflikte, in den Schatten stellen dürfte.

Doch dahinter steckt mehr als nur Angst auf beiden Seiten. Ein Grundproblem ist der Pakt der Gewerkschaften mit der modernen Sozialdemokratie. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges ging letztere im Mythos der „Sozialen Marktwirtschaft“ auf. Die Mär ist schlicht: Durch eine Sozialpartnerschaft zwischen Kapitaleigentümern und Lohnabhängigen könne man die Widersprüche zwischen den Interessen beider Klassen minimieren. Man müsse nur miteinander reden und sich einigen, so der Glaube.

In diesem Zuge wurde der politische Streik verboten. Gemeint sind Arbeitskämpfe, wie etwa ein Generalstreik, zum Zweck größerer politischer Umwälzungen. Zum vermeintlichen Ausgleich machten die Regierenden Zugeständnisse an die Arbeiter. Doch die angebliche Mitbestimmung von Beschäftigten endet dort, wo das Eigentum beginnt. Gesetzliche Schlupflöcher haben ihren Sinn.

Das Festhalten am sozialdemokratischen Hirngespinst selektiert indes jeden Streik zu einem partiellen Einzelkampf und manifestiert ihn in das bestehende System. Es hindert am Weiterdenken und reißt den Arbeitskampf aus dem Zusammenhang ökonomischer und ökologischer Bedingungen, welche doch die gesamte Menschheit betreffen. Es fördert die Selbstabrichtung Lohnabhängiger in den Warencharakter der eigenen Arbeitskraft.

Dieser Prozess ist im Zuge der Geschichte des Kapitalismus so weit fortgeschritten, dass Tausende dafür demonstrieren, weiterhin in Lohnarbeit zu verharren, die sie und die ganze Gesellschaft nachhaltig schädigt. Arbeiter unterstützen ihre Peiniger – es entstehen falsche Fronten.

Ewiges Wachstum als Profitquelle

Kurzum: Der Lohnarbeiter denkt nicht mehr über seine Abhängigkeiten innerhalb bestehender Macht- und Eigentumsverhältnisse nach. Vielmehr beschränkt er sich auf Bettelei um ein paar Cent mehr Stundenlohn, drei Tage mehr Urlaub oder kürzere Arbeitszeiten. Streikt eine Branche und gerät eine von ihr abhängige Industrie ins Wanken, führt dies so zur Spaltung der jeweiligen Beschäftigten. So verschleiert die herrschende Klasse den im Kapitalismus unlösbaren Hauptwiderspruch zwischen Kapital und Arbeit.

Kapitaleigentümer leben vom Abschöpfen des Mehrwerts aus produktiver menschlicher Arbeit. Wird letztere durch Technologie überflüssig, sinkt die Profitrate. Maschinen und Computer können keinen Mehrwert erzeugen. Sie geben lediglich ihren Kaufwert in die produzierten Waren ab. Je mehr Massenproduktion Maschinen ermöglichen, desto billiger werden die Waren. Das geschieht zwangsläufig. Denn die Kapitalisten konkurrieren untereinander. Sie unterbieten sich, um Marktanteile zu erobern.

Ergo: Nur von Menschen können Unternehmer kostenlose Mehrarbeit abpressen. Dies geschieht für den Arbeiter unbemerkt, da das Abschöpfen des generierten Profits bereits in den Lohn einkalkuliert wird. Der Dienstleistungssektor schafft keinen eigenen Mehrwert. Er realisiert ihn nur und wird beteiligt.

Die Profitrate muss gesamtwirtschaftlich betrachtet werden. Sinkt sie, schließt das Einzelprofite hier und da nicht aus. Doch führt dies, zusammen mit der Kapitalkonzentration, nicht nur zum Schwinden neuer Anlagemöglichkeiten und Wertverlust von Kapital, sondern auch zu Spekulationen. Die Banken spekulieren dabei auf zukünftigen Mehrwert, also auf zukünftige Arbeit, so, wie es von den Wechselgeschäften bekannt ist. Doch heute wird ein Großteil davon nie eingelöst werden können. Die berühmten Finanzblasen platzen, immer heftigere Krisen erschüttern die Wirtschaft. Dass der Leitzins der Europäischen Zentralbank seit 2016 auf null gehalten wird, ist ein ziemlich sicheres Zeichen für eine extrem niedrige, weiter fallende Profitrate.

Das bedeutet zusammengefasst: Arbeitskraft ist die Profitquelle der Unternehmer. Je weniger letztere davon benötigen, desto weniger können sie abschöpfen. Es sei denn, die Wirtschaft wächst exzessiv. Wie man erahnen kann, ist das auf einem begrenzten Planeten mit begrenzten Ressourcen nicht endlos möglich.

Katastrophale Spirale

So strebt das Großkapital nicht nur danach, etwa durch Unterbietungswettbewerbe Konkurrenten auszuschalten und auf diese Weise immer mehr Vermögen anzuhäufen. Es versucht ebenso, seine Profite immer neu zu investieren, um noch mehr Profit zu generieren und weiter zu wachsen. Die Folgen erleben wir aktuell: Riesige, global agierende Finanzkonzerne beherrschen die Wirtschaft. Die Märkte sind weitgehend unter wenigen Kapitaleigentümern aufgeteilt. Neueinsteiger haben kaum noch eine Chance, Fuß zu fassen.

Zwangsläufig hat dies mehrere Folgen: Immer größere, für das Kapital nicht mehr verwertbare Menschenmassen verelenden. Ihre Kaufkraft schwindet. Die Überproduktion wächst, wird aber vernichtet, um die Preise nicht purzeln zu lassen. Aktuell beklagen zahlreiche Branchen massive Überproduktion bei gleichzeitig drohendem Preisverfall: Die Milchindustrie, die Backwarenhersteller, die Stahl- und die Textilbranche. Zugleich schreitet die Zerstörung der Umwelt voran. Das Elend wächst. Derweil benötigt eine immer schneller wachsende Massenproduktion immer mehr Rohstoffe.

Sozialdemokratische Scheinlösungen

Die Tendenz ist klar: Das System beruht darauf, Profit von Lohnarbeit abzuschöpfen. Dies ist der irrationale Selbstzweck jeglicher Produktion und Innovation im Kapitalismus. Doch Lohnarbeit wird dank Technologie immer weniger benötigt. So vernichtet der Kapitalismus seine eigene Profitquelle. Das versucht er mit Wachstum zu kompensieren. Diese Megamaschine stößt unweigerlich an ihre Grenzen. Zugleich aber bleibt der Lohnarbeiter auf Lohn angewiesen, da er kein eigenes Kapital besitzt.

Dieses Dilemma erleben wir aktuell. Es zeigt: Sozialdemokratische Forderungen nach mehr Lohn, höheren Renten und Sozialleistungen helfen an diesem Punkt nicht weiter.

Der drohende Umweltkollaps betrifft die gesamte Menschheit – die Armen wieder einmal zuerst. Das Dilemma zwingt uns, über Bestehendes hinaus zu denken. Das Lohnarbeitsmodell der vergangenen Jahrhunderte gehört auf den Müllhaufen der Geschichte.

Das müssen auch die Gewerkschaften realisieren und ihre Mär von der Sozialpartnerschaft zwischen den Klassen begraben. Warnstreiks, Wattebäusche und Partys mit Unternehmerverbänden ringen den Profiteuren nur ein müdes Lächeln ab. Es kann nur noch um Eigentums- und Machtverhältnisse gehen.

Und die Zeit eilt: Stellen wir das profitgetriebene Wirtschaftssystem nicht schleunigst auf bedarfsgerechte und ökologisch nachhaltige Produktion um, werden wir bald eins zu spüren bekommen: Aktuelle Kriege, Naturkatastrophen und Fluchtbewegungen sind nur die warnenden Vorboten für ein Gewaltinferno unvorstellbaren Ausmaßes. Dieses wird keine Grenzen, keine Nationen, keine Religionen kennen.

 

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Dank für den Tipp an den Rubikon, www.rubikon.news, wo dieser Artikel zuvor erschienen ist.

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