Der reiche Mann aus Richmond

 In FEATURED, Kultur

Ein Lied über die Arbeiterklasse, dekadente Eliten und Jeffrey Epstein stürmt die US-Charts. Solch pointierte Sozialkritik wird medial als „rechts“ gebrandmarkt. Es gab eine Zeit, in der hießen Männer mit Gitarre, die in ihren Liedtexten die Regierung kritisierten, Hippies. Diese Zeit gehört der Vergangenheit an, wie aktuell das Beispiel eines amerikanischen Country-Sängers zeigt. In seinem Song „Rich Men North of Richmond“ stellt Oliver Anthony soziale Ungleichheit, Überwachung und kriminelle Eliten an den Pranger. Für die Medien ist er damit kein Hippie mehr, sondern „rechts“. Bei den Menschen jedoch trifft das Lied einen Nerv, der lange nicht stimuliert worden ist. Mit seiner simplen Ehrlichkeit verhilft es den US-Charts, die sonst von den immer gleichen Künstlern dominiert werden, zu etwas Abwechslung. Madita Hampe

 

Kennen Sie Oliver Anthony? Nein? Dann waren Sie damit bis vor wenigen Tagen nicht allein. Wenn doch, so sind Sie es seit circa zwei Wochen auch nicht mehr. Genauer gesagt sind Sie dann womöglich einer von 40 Millionen Menschen, die das neue Musikvideo zu „Rich Men North of Richmond“ des vorher weitgehend unbekannten US-amerikanischen Musikers gesehen haben. Es ist ein Lied über soziale Ungleichheit, unbezahlte Überstunden, ein trostloses, mit Alkohol betäubtes Leben und reiche Männer, die die totale Kontrolle haben wollen.

Vor ein paar Jahrzehnten wäre ein solcher Song vielleicht nichts Besonderes gewesen, als Regierungskritik noch zum guten Ton von Folk, Rock und Hip-Hop gehörte. Heute ist er es. So besonders, dass er innerhalb der ersten Tage nach Veröffentlichung auf Platz 1 der amerikanischen Billboard Charts landete (1) und Oliver Anthony praktisch über Nacht nicht nur weltbekannt, sondern auch zur politischen Reizfigur der USA machte. Als ein bis dato nahezu unbekannter Musiker, der noch nie in irgendeiner Billboard-Hitparade aufgetaucht war, gelang es Anthony, auf Anhieb den ersten Platz zu erobern. In der ersten Woche wurde der Song bereits 18 Millionen Mal gestreamt und selbst verwackelte Handyvideos neuer Auftritte erreichen in kürzester Zeit mehrere Millionen Klicks.

Ein Lied für die Verkauften

Während ihn ein großer Teil der amerikanischen Gesellschaft für seine pointierte, von Wortspielen durchzogene Sozialkritik feiert, kommt Anthony in der medialen Bewertung weniger gut weg. Er sei „erfolgreich mit rechter Unterstützung“, titelt beispielsweise die Süddeutsche Zeitung (2). Man liest von einem „Wahlkampfsong für Trump“ (3), einer „Hymne der Republikaner“ (4), rechts, rassistisch und sexistisch. Das Urteil ist gefallen. Das Label „rechts“ haftet Anthony nun genauso an wie der Vorwurf der Leitmedien, einen reaktionären Mob anzuführen. Aber stimmt das?

In „Rich Men North of Richmond“ geht es um ein Thema, das sowohl Politiker als auch Medien gerne ausblenden: die Lebensrealität der arbeitenden Unterschicht. Anthony singt:

„Well, I’ve been selling my soul
Working all day
Overtime hours
For bullshit pay
So I can sit out here
And waste my life away
Drag back home
And drown my troubles away
It’s a damn shame
What the world’s gotten to
For people like me
And people like you
Wish I could just wake up
And it not be true
But it is
Oh, it is
Livin‘ in the new world
With an old soul.
These rich men north of Richmond
Lord, knows they all
Just wanna have total control
Wanna know what you think
Wanna know what you do
And they don’t think you know
But I know that you do“

Auf deutsch:

„Ich habe meine Seele verkauft,
arbeite den ganzen Tag,
mache Überstunden
für beschissene Bezahlung,
nur damit ich hier sitzen
und mein Leben verschwenden kann.
Schleppe mich nach Hause
und ertränke meine Sorgen.
Es ist eine verdammte Schande,
was aus der Welt geworden ist
für Menschen wie mich
und Menschen wie dich.
Wünschte, ich könnte aufwachen
und es wäre nicht wahr.
Aber das ist es.
Oh, das ist es.
Leben in einer neuen Welt,
mit einer alten Seele.
Diese reichen Männer nördlich von Richmond
Gott weiß, sie alle
wollen nur die totale Kontrolle.
Wollen wissen, was du denkst,
wollen wissen, was du tust,
und sie denken, dass du das nicht weißt,
aber ich weiß, dass du es tust.“

Anthony beschreibt hier die Abgründe einer amerikanischen Gesellschaft, die auf der einen Seite, auch im übertragenen Sinne, vor dekadenter Fettleibigkeit nicht mehr weiß, wo oben und unten ist, und die sich auf der anderen Seite, nicht im übertragenen Sinne, totschuftet.

Die USA sind eine enorm ungleiche Gesellschaft, in der es — entgegen der Annahme vieler Nicht-Amerikaner und im Gegensatz zu anderen westlichen Staaten — immer noch so etwas wie ein echtes Prekariat gibt. Damit sind nicht nur Menschen gemeint, die zwar ohne große Perspektiven und finanzielle Möglichkeiten mehr oder weniger trostlos und halbwegs sozial abgesichert vor sich „hinvegetieren“, sondern auch solche, denen wirklich das Allernötigste fehlt. Nein, die USA sind nicht nur das Land des Silicon Valley, sondern auch das Land der Zeltstädte von Obdachlosen, in dem man einen Arztbesuch oft nicht unverschuldet übersteht.

Die Zustände, die er besingt, sind real und vor allem ist der Akt, diese zu thematisieren, traditionell links.

Aber Anthony singt nicht nur über Ungleichheit und die harte Lebensrealität der Menschen am untersten Ende des Kapitalismus. Das wäre vielleicht gerade noch tolerierbar gewesen, ist diese Geschichte schließlich so alt wie der Wald. Der Grund, warum „Rich Men North of Richmond“ eine solche Wirkung entfaltet, ist ein anderer: Er besingt auch die Oberschicht, reiche Männer, die die totale Kontrolle haben wollen, wissen möchten, was jeder Einzelne tut und denkt. Er thematisiert damit, dass Kapitalismus heutzutage vor allem Überwachungskapitalismus ist und dass die arbeitende Bevölkerung nicht nur ihre Zeit und ihre Arbeitskraft verkauft, sondern auch ihre intimste Privatsphäre und persönliche Freiheit verliert.
Eine Insel für Missbrauch

Und dann wird es noch heikler. Anthony singt über Jeffrey Epstein und sein System zur sexuellen Ausbeutung Minderjähriger:

„I wish politicians
Would look out for miners
And not just minors on an island somewhere“

„Ich wünschte, Politiker
würden sich um Bergarbeiter kümmern,
und nicht nur um Minderjährige irgendwo auf einer Insel.“

Gemeint ist hier sehr wahrscheinlich Jeffrey Epsteins Privatinsel „Little Saint James“ in der Karibik, wo der Investment-Banker mehrere dutzend minderjähriger Mädchen gefangen gehalten, vergewaltigt und zur Prostitution gezwungen haben soll (5). Epstein pflegte enge Kontakte zu hochrangigen Persönlichkeiten weltweit, darunter Prinz Andrew, Bill Gates, Bill Clinton und Donald Trump (6). Allein diese Zeile spricht also nicht dafür, dass es Anthonys Ziel gewesen ist, einen Wahlkampfsong für Trump zu komponieren.

Die Geschichte um das System Epstein ist so grausam und widerlich wie unglaublich: Ein reicher Mann aus Palm Beach, der ein Schneeballsystem zum sexuellen Missbrauch minderjähriger Mädchen entwickelt, von unzähligen Frauen der Vergewaltigung bezichtigt, schließlich aber nur in einem einzigen Fall der Prostitution, nicht der Vergewaltigung, schuldig gesprochen wird. Ein Mann, bei dem das Who is Who der amerikanischen Gesellschaft ein- und ausgeht und der schließlich unter ungeklärten Umständen in seiner Zelle stirbt.

Die Existenz des Epstein-Rings ist zwar gut belegt, wird aber dennoch gerne mit dem Totschlagargument „Verschwörungstheorie“ in Zweifel gezogen. Vielleicht auch, weil das, was hier passierte, sich so abseits jeder sozialen Norm abspielt, dass man es am liebsten verdrängen möchte. Wer sich diesem starken Tobak dennoch widmen will, dem sei die Netflix-Dokumentation „Jeffrey Epstein: Stinkreich“ empfohlen.

Wenn links elitär ist, wird Widerstand rechts

Aber zurück zu Oliver Anthony. Was sich seither an Medienecho über ihn ergießt, zeigt wieder einmal, welcher sozialen Schicht sich Medienvertreter verpflichtet fühlen und vor allem welcher nicht. So ist im Deutschlandfunk Kultur zu lesen, es handele sich um einen „Song für abgehängte weiße Männer“ (3). Ein Titel, der an Zynismus nicht zu überbieten ist. Allein schon zu suggerieren, harte körperliche Arbeit sei etwas, das ausgerechnet in den USA vor allem Weiße betreffe, entbehrt jeglichen Realitätsbezugs, politischen Feingefühls und ist durchaus an der Grenze zum Rassismus zu verorten.

Und an der Tatsache, dass auch Frauen in schlecht bezahlten Jobs schuften und nur schwer über die Runden kommen, insbesondere wenn sie alleinerziehend sind, hat auch die Gleichberechtigung in Amerika nichts geändert.

Nur in einem Punkt könnte man tatsächlich sagen, das Lied verbreite Ressentiments. An den Pranger stellt Anthony an einer Stelle das Bild eines fetten Sozialhilfeempfängers, dem der Staat seine Cookies bezahlt. Ein Klischee, das in den USA weit verbreitet ist.

Dennoch, in erster Linie wird dem Typus des hart arbeitenden Bürgers der des dekadenten und kontrollsüchtigen reichen Mannes gegenübergestellt.

Die Tatsache, dass „Rich Men North of Richmond“ zum Wahlkampfsong der Republikaner stilisiert wird, ist kein Zeichen für die mangelnde Qualität des Liedes, sondern ein Armutszeugnis der Demokraten. Wie rechts muss eine Linke geworden sein, die ein Lied über die Arbeiterklasse, schlechte Löhne und soziale Ungleichheit als rechts einstuft?

Tatsächlich entsprechen die Menschen, die auf den Konzerten Anthonys zu sehen sind, einem gewissen republikanischen Klischee: Sonnenbrille, bärtig, etwas korpulenter und ein Bier in der Hand. Typische Hinterwäldler, Hillbillys, Südstaatler eben, so könnte man sagen. Aber Überraschung: So sieht die untere Schicht der Bevölkerung in einem bestimmten Teil der USA eben aus. Eine Linke, die sich hiervon abgestoßen fühlt und am liebsten Politik für ein intellektuelles Großstadtmilieu machen würde, darf sich nicht wundern, wenn ihr vernachlässigtes und geschlagenes Kind zur anderen Seite überläuft.

„Rich Men North of Richmond“ hat einen amerikanischen Nerv getroffen und eine soziale Debatte losgetreten, die man auch dadurch nicht mehr ersticken kann, dass man Anthony Olivers roten Bart oder die Bierdosen in den Händen seiner Zuhörer zum Politikum erhebt. Denn für viele Amerikaner ist die soziale Frage zu drängend, als dass es sie interessiert, wenn Elitenkritik und die Forderung nach besseren Arbeitsbedingungen plötzlich als „rechts“ gelten.

Oliver Anthony – Rich Men North Of Richmond

Quellen und Anmerkungen:

(1) https://www.billboard.com/charts/hot-100/
(2) https://www.sueddeutsche.de/kultur/oliver-anthony-rich-men-north-of-richmond-bedeutung-rechte-unterstuetzung-1.6152364?reduced=true
(3) https://www.deutschlandfunkkultur.de/usa-oliver-anthony-song-charts-102.html
(4) https://www.fr.de/politik/rich-men-north-of-richmond-oliver-anthonys-hymne-fuer-die-republikaner-92479757.html
(5) https://www.nzz.ch/panorama/neue-vorwuerfe-ueber-menschenhandel-und-und-missbrauch-auf-epsteins-privatinsel-15-jaehrige-versuchte-wegzuschwimmen-ld.1534304
(6) https://www.nzz.ch/meinung/clinton-trump-bill-gates-was-ist-mit-jeffrey-epsteins-beruehmten-freunden-die-amerikanische-justiz-hat-im-missbrauchsskandal-auf-ganzer-linie-versagt-ld.1664545?reduced=true

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