Der Rüstungswahn

 In FEATURED, Politik

Wir müssen die Mächtigen davon abhalten, für unsere „Sicherheit“ zu sorgen. Die NATO ist auf Krawall gebürstet und lügt dass sich die Balken biegen. Die scheinheilig so genannten Verteidigungsminister der NATO-Länder sägen weiter fleißig an den Verträgen zur Kontrolle der Rüstung und scheinen völlig auszublenden, wie gefährlich ihr Spiel mit den Bomben ist. Wir selbst sind gefragt, etwas für unsere Sicherheit zu unternehmen, denn die Mächtigen werden es nicht tun.  Bernhard Trautvetter

Die NATO steuert gezielt auf Beschlüsse zu, die auf das Ende der Zivilisation nicht — nur in Europa — hinauslaufen. Der von Donald Trump eröffnete neue Streit über den über 30 Jahre alten großen Abrüstungsvertrag in und für Europa wird von der NATO mitgetragen.

Das macht unsere Zeit noch gefährlicher, als sie ohnehin schon war.

Die Sitzung der sogenannten „Verteidigungs“-Minister der NATO im Februar wird nach neuesten Ankündigungen das ohnehin schon sturmreif geschossene Rest-Rudiment internationaler Rüstungskontroll-Verträge weiter zerlegen (1). Das geschieht — wie wir sehen werden —, damit die NATO sich mit der Fähigkeit ausstattet, eigene strategische Interessen mit neuen nuklearen Marschflugkörpern noch druckvoller durchzusetzen. Die Dülmener Zeitung zitierte Jens Stoltenberg am 4. Januar 2019, er schließe „eine Diskussion über eine atomare Nachrüstung in Europa nicht mehr aus“ (2).
Welcome to the 80s

Das kennen jene bereits, die die Friedensbewegung der 1980er Jahre mitgetragen haben: Damals belog die NATO die Welt mit dem Begriff „Nachrüstung“ für die gleiche Waffenkategorie, um die es jetzt wieder geht. Sie zählte eigene Potentiale nicht mit und erfand die „Nachrüstung“, so als sei man zur Rüstung gezwungen, weil der Gegner das Gleichgewicht des Schreckens bereits zerstört habe. Damals war letztlich der Druck der Friedensbewegung auf die Militärs so groß, dass diese dem Vertrag über das Verbot landgestützter nuklearer Mittelstreckenraketen in Europa zustimmten und ihre Systeme aus Deutschland und weiteren europäischen NATO-Staaten abzogen.

Schon seit Jahren konnten Kenner/innen damit rechnen, dass die NATO einen erneuten Versuch starten wird, diesen damals unfreiwilligen Abzug ihrer Nuklearpotentiale aus Europa rückgängig zu machen. Diese Situation ist jetzt da. Jürgen Trittin von den Grünen twitterte kürzlich „Welcome to the 80s“ (3).

Damals erklärte der Aufruf zur ersten großen Friedensdemonstration, dies sei das gefährlichste Jahrzehnt der Geschichte. Schade nur, dass die Grünen nicht mehr die Friedenspartei sind, die sie damals mit Petra Kelly und Gert Bastian als führendes Duo waren. Auf jener ersten großen Friedensdemonstration mit fast einer halben Million Teilnehmer/innen sagte Petra Kelly am 10. Oktober 1981, „dass wir den Mächtigen (…) das Recht absprechen müssen unsere Sicherheit zu besorgen“ (4).

Vertragsbruchsvorwürfe gegen Russland werden durch Wiederholung nicht wahrer

Das gilt heute mehr denn je: NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg äußerte am 4. Januar 2019 in einem dpa-Interview:

„Wenn Russland nicht wieder vertragstreu wird, müssen wir uns auf eine Welt ohne den Eckpfeiler der Abrüstungsverträge vorbereiten, den Vertrag zum Verbot landgestützter nuklearer Mittelstreckenraketen“ (INF-Vertrag, 5).

Der Vorwurf gegen den „Feind“ im Osten, er begehe Vertragsbruch, wird durch Wiederholung nicht wahrer; er bedeutet allerdings, niemand wird sich noch an Verträge halten. Zitat Jens Stoltenberg:

„Die russische Verletzung des INF-Vertrags untergräbt die Grundlagen einer effektiven Waffenkontrolle und unterminiert die Sicherheit der Alliierten. Das ist ein Teil von Russlands breiterem Verhaltensmuster, das beabsichtigt, die ganze euro-atlantische Sicherheitsarchitektur zu schwächen. Es gibt keinen Zweifel daran, dass die USA vollständig den Vertrag erfüllen. Es gibt keine neuen US-Raketen in Europa. Aber es gibt neue russische Raketen in Europa“ (6).

Diesen Vorwurf bezeichnet das renommierte schwedische Friedensforschungsinstitut SIPRI als unbewiesen (7). Die Forscher kritisieren im Gegenteil, dass von den USA als Verteidigungssysteme deklarierte Potentiale mit wenig Aufwand in Systeme verwandelt werden können, die den INF-Vertrag verletzen (8). So invalide die Behauptungen der NATO auch — wieder einmal — sind, so wenig überraschen sie die Expert/innen. Das ist allerdings alles andere als eine Beruhigung.

Der Reihe nach: Waffensystem- und Strategie-Entwicklungen haben jahrelange Vorlaufzeiten. Der Mantel medialen Schweigens macht es den Militärs in dieser Zeit möglich, ungestört arbeiten zu können. Dann brauchen sie ein Narrativ, um ihre Pläne und Produkte, soweit sie doch veröffentlicht werden müssen, der Bevölkerung und ihren Volksvertretern mundgerecht verkaufen zu können, sodass es statt eines Widerstands eine möglichst breite Unterstützung für diese „Operationen“ der Militärs gibt.

Dies ist nicht ganz einfach: Es handelt sich um Systeme, die nicht nur teuer sind, die nicht nur volkswirtschaftlichen Reichtum verbrennen — Ressourcen, die in wichtigen Bereichen des Lebens wie Soziales, Infrastruktur, Umwelt, Bildung und Arbeitsmarkt dringend benötigt würden —, sondern die auch noch im Falle ihres bestimmungsgemäßen Einsatzes Tod, Genozid und sogar Homozid, die Auslöschung der Menschheit, mit sich bringen können.

Strategieentwicklung

Das erste aller sogenannten NATO-Centers of Excellence, das Joint Air Power Competence Centre, JAPCC in Kalkar hielt 2014 eine Jahreskonferenz unter dem Titel „Future Vector“ ab. Dort zweifelten die Militärs an, dass es keinen großen Krieg mehr in Europa geben werde (9).

Dies für möglich zu halten, bedeutet zugleich — wenn auch unausgesprochen —, den Untergang nicht nur dieses Erdteils für möglich zu halten. Die Konsequenz jeder vernünftigen verantwortlichen Instanz aus dieser Einschätzung wäre die absolute Priorität auf Konfliktlösung, Spannungs-De-Eskalation, Interessenausgleich in Verhandlungen im Rahmen kollektiver Sicherheitssysteme wie der UNO, der Organisation für Frieden und Zusammenarbeit in Europa, nukleare und allgemeine Abrüstung und das Ziel eines gemeinsamen „europäischen Hauses“ …

Die Militärs hatten auf der JAPCC-Konferenz eine andere Lösung parat: einen „angemessenen“ — appropriate — Mix aus konventionellen und nuklearen „Fähigkeiten“ — capabilities (10). An der Aufgabe, diesen Mix zur Verfügung zu stellen, arbeiten sie systematisch. Donald Trump hatte im Oktober 2018 den Ausstieg aus internationalen Abrüstungsverträgen, darunter aus dem INF-Vertrag (11) signalisiert, die in den 1980er Jahren durch Druck der Friedensbewegung zum Ärger des militärisch-industriellen Komplexes möglich und real geworden waren. Danach kündigte Jens Stoltenbergs die Aufkündigung des INF-Vertrages an, wie oben bereits — von Greenpeace dokumentiert — zitiert wurde (5).

Die NATO-Strategie der Militarisierung soll forciert werden. Was die Propaganda der NATO auslässt: Die Pläne, die man jetzt aktuell als neu kommuniziert, sind es nicht. Bereits 2014 diagnostizierte die JAPCC-Konferenz, die Geschichte Europas sei die von Kriegen und Teilung. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion habe die NATO „eine zentrale Rolle dabei gespielt, ein stabileres Europa zu entwickeln. Sie brachte Frieden auf den Balkan und zwölf neue Mitgliedsstaaten für die atlantische Allianz“ (12).

Einen sogenannten Frieden auf dem Balkan zu bejubeln — das rechnet mit der Blindheit und Vergesslichkeit der Menschen. Seitdem von Deutschland unter seiner damaligen rot-grünen Regierung mit exerzierten Völkerrechtsbruch 1999 ist der Balkan immer weiter in einem Zerfall, in Gewalt und Chaos versunken.

Ähnlich die Lage in Gesamteuropa: Die NATO steht unmittelbar an der russischen Westgrenze und baut nicht allzu weit davon entfernt Raketenstationen auf, die sie offiziell defensiv nennt, die allerdings im Handumdrehen in Offensivsysteme umgewandelt werden können — siehe Anmerkung 7. Dieser flagrante Bruch der Vereinbarungen aus der Zeit der Verhandlungen um die „Endgültige Regelung der Deutschen Frage“ stellt den wahren Ausgangspunkt der Kriegsgefahr in Europa dar. Auch ohne den Einsatz nuklearer Potentiale könnte jeder Krieg ein nukleares Inferno werden, schon wegen der circa 200 Atomreaktoren, die quer über diesen dicht besiedelten Kontinent verteilt sind.

Genscher: Eine NATO-Ausweitung nach Osten wird es nicht geben

Der Beweis für den von der NATO in Abrede gestellten Bruch der Vereinbarungen des Westens mit der Sowjetunion und ihrem Präsidenten Michail Gorbatschow ist leicht zu recherchieren. Es beginnt mit der Tutzinger Rede des damaligen Bundesaußenministers Hans-Dietrich Genscher. Zitat:

„Was immer im Warschauer Pakt geschieht, eine Ausdehnung des NATO-Territoriums nach Osten, das heißt, näher an die Grenzen der Sowjetunion heran, wird es nicht geben“ (13).

Alles, was seither damit brach — Beitritte oder Partnerschaften —, sei es im Baltikum, in der Ukraine, in Polen, … blendet die NATO-Propaganda aus, was beweist, dass die Wahrheit immer zu den ersten Opfern der Kriegstreiber gehört.

Wie leicht aus der Konfrontationspolitik aus Halbwahrheiten, Lügen, Sanktionen, Aufrüstung, Bruch von Vereinbarungen, Propaganda durch Fake News im Bereich der westlichen Staaten Konflikte oder auch ein nicht mehr nur kalter Krieg werden kann, das zeigte der kürzliche Konflikt an der Meerenge von Kertsch am Asowschen Meer: Ehe die Umstände letztendlich geklärt waren, bat die Ukraine um deutsche Kriegsschiffe, die Zeit schrieb am 28. November 2018: „Der Krieg zwischen Russland und der Ukraine meldet sich zurück“ und die Bildzeitung sprach am 27. November 2018 sogar von einem „großen Krieg gegen Russland“ (Seite 2).

In dieser Situation weiteres Öl ins Feuer zu kippen, zeigt: Die Politik der NATO ist mit den Lebensinteressen des Kontinents unvereinbar!

Quasi als Zuspitzung der Militarisierungsstrategie regte die Essener JAPCC-Konferenz 2017 in ihrem Auswertungsmanuskript nicht nur eine Absenkung der Schwelle zum Nuklearkrieg an, sondern gleich im selben Satz auch eine Renaissance nuklearer Mittelstreckenraketen — dies ein Jahr vor dem aktuellen Konflikt um den INF-Vertrag (14).

Was auch immer sie sagen, Petra Kellys Worte gelten, „dass wir den Mächtigen (…) das Recht absprechen müssen unsere Sicherheit zu besorgen.“ Das müssen wir selber tun! Es beginnt mit so unaufwendigen Handlungen wie einer Unterschrift unter den Appell „Abrüsten statt aufrüsten“ (15) und es wird nach außen hin sichtbar bei Aktionen wie dem Ostermarsch, den Demonstrationen in Büchel gegen die nukleare Teilhabe der Bundesrepublik, in Ramstein gegen die US-Air-Base, in Kalkar und immer vor Ort, da, wo wir l(i)eben, arbeiten, uns engagieren …

Quellen und Anmerkungen:

(1) https://www.morgenpost.de/politik/ausland/article216133815/Nato-droht-mit-Debatte-ueber-atomare-Nachruestung.html
(2) https://www..dzonline.de/Welt/Politik/3604569-Dialog-mit-Moskau-Nato-Staaten-droht-Debatte-ueber-atomare-Nachruestung
(3) https://twitter.com/JTrittin/status/1081130125268258816?ref_src=twsrc%5Etfw
(4) Aktion Sühnezeichen, 10.Oktober 1981, Berlin und Bornheim 1918 – Petra Kelly, S. 148
(5) https://www.greenpeace-magazin.de/ticker/stoltenberg-russland-hat-noch-eine-letzte-chance-interview-ansgar-haase-dpa
(6) http://www.neu-presse.de/nato-setzt-russland-ultimatum-telepolis/
(7) https://www.sipri.org/commentary/essay/2018/crumbling-architecture-arms-control
(8) ebenda
(9) “The two decade long assumption that there will not be a major war in Europe is in some doubt. ” – Quelle: Air and Space Power in NATO, Kalkar 2014: Future Vector – Part I, http://www.japcc.org/wp-content/uploads/Future_Vector_II_web.pdf , S. 141
(10) http://www.japcc.org/wp-content/uploads/Future_Vector_II_web.pdf , S. 70
(11) https://www.newsmax.com/newsfront/trump-exit-us-nuclear/2018/10/21/id/887225/
(12) Air and Space Power in NATO, Kalkar 2014: Future Vector – Part I, http://www.japcc.org/wp-content/uploads/Future_Vector_II_web.pdf , S. 39
(13) https://www.faz.net/aktuell/politik/ost-erweiterung-der-nato-was-versprach-genscher-12902411.html
(14) “a lowering of the nuclear threshold and the re-establishment of intermediate-range nuclear forces could be considered” – https://www.japcc.org/wp-content/uploads/JAPCC_Conf_2017_Proceedings_screen.pdf S. 13
(15) https://abruesten.jetzt/

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Dank an den Rubikon, www.rubikon.news, wo dieser Artikel zuerst erschienen ist.

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