Der Staat schafft sich ab
Die Diktatur ökonomischer Sachzwänge und der Todestrieb der demokratischen Institutionen. Nicht nur aus Griechenland, auch aus den vergleichsweise stabilen Ländern wie Deutschland kennen wir das Phänomen: Überall zeigen sich Mächtige als machtlos, vermeintliche „Macher“ als Getriebene. Der Staat wirkt bei seiner eigenen Demontage durch übernationale, demokratisch nicht gewählte „Institutionen“ dienstbeflissen mit. Was ihm bleibt, ist eine Funktion als Repressionsdienstleister im Sold der Besatzungsmächte aus Wirtschaft und Bankenwesen. Helfen könnte allenfalls eine erwachende Bevölkerung, die sich selbst als Subjekt geschichtlichen Handelns wiederentdeckt. (Roland Rottenfußer)
„Die fetten Jahre sind vorbei“, hieß vor Jahren ein Spielfilm. Die bequemen Jahr auch, wie es scheint. Die Euphorie der Nach-Wende-Jahre ist abgeklungen, in der Geschichte zum Positiven hin fast unbegrenzt geöffnet schien. Erstmals scheint eine Situation gegeben zu sein, in der wir definitiv nicht zurückkönnen zu der Bequemlichkeit der (für die meisten) satten Jahre. Wir haben nur die Wahl zwischen zweierlei Zumutungen: der Unbequemlichkeit der aktiven Rebellion oder der Unbequemlichkeit, von Politikern und Wirtschaftsvertretern immer wieder zu willfährigen Opfern gemacht zu werden, auf die die Folgekosten von Fehlleistungen abgewälzt werden.
Carl Amery entwirft in „Hitler als Vorläufer“ eine Zukunftswelt enger werdender Spielräume, schrumpfender Rohstoffvorkommen und eines abnehmenden Arbeitsvolumens, in der zunehmend zwischen „brauchbaren“ und „unbrauchbaren“ Menschen selektiert werden müsse. Amery hat was sich heute schon andeutet nur logisch weitergedacht: Wachstum kann naturgemäß nicht unendlich fortschreiten, unser System hat sich aber in eine strukturelle Abhängigkeit von ihm begeben. Gleichzeitig sind Ressourcen, menschliche Leistungsfähigkeit und die Duldsamkeit der Natur begrenzt. Wie also ließe sich eine kontinuierliche Aufwärtsbewegung beim Produktions- und Konsumvolumen bewerkstelligen, wenn nicht, indem es zyklische Zusammenbrüche gibt, die immer wieder einen Neuanfang erzwingen. In einer Welt, in der schon jeder einen Flachbildschirm hat, lassen sich nennenswerte Wachstumsraten nur noch realisieren, wenn die bisherigen Flachbildschirme in einem gewaltigen sozialen und militärischen Flächenbrand zerstört werden.
Der Staat – ein kastrierter „Vater“
Der momentan fortschreitende Demokratie-Abbau ist vielleicht nicht so sehr einem pathologischen „Willen zur Macht“ der Akteure geschuldet, sondern eher eine Folge systembedingter Sachzwänge. Eine in einer wahnhaften Vorstellungswelt befangene Gesinnungsgemeinschaft, die noch nicht bereit oder fähig ist, den Rückweg anzutreten, verteidigt ihre falschen Werte zunächst mit aggressiver Abwehr gegen jene, die ihr den Spiegel vorhalten. Die unter Rechtfertigungsdruck geratene „Führungselite“ beantwortet wachsende Kritik mit einer Propaganda-Gegenoffensive und, wenn es nicht mehr anders geht, mit einer Verstärkung der Repression. Für den zunehmend handlungsunfähigen Staat ist die Daseinsvorsorge zugunsten der sozial schwachen Bürger nicht mehr leistbar, die gewaltsame Aufrechterhaltung der „öffentlichen Ordnung“ jedoch gerade noch.
Diese Handlungsunfähigkeit wiederum rührt vom Abfließen seiner finanziellen Ressourcen in die Hände von wenigen Großvermögensbesitzern her. Auf rätselhafte Weise kommen wir nie aus der „Schuldenfalle“ heraus. Scheint irgendwo am Horizont Erleichterung in Sicht, „zwingt“ ein noch größerer Finanzbedarf den Staat zu immer unverantwortlicheren Anleihen bei unser aller Zukunft. Profiteure sind stets die Groß-Gläubiger, die sich damit das Erstzugriffsrecht auf einen wachsenden Anteil der Arbeitserträge künftiger Generationen sichern. Die Kinder der Geber (das sind fast alle von uns) sind den Kindern der Nehmer (den Erben der Gläubiger) pränatal tributpflichtig. Die Kriegsgeneration gab ihren Nachkommen eine Art Segen mit auf den Weg: „Ihr sollt es mal besser haben!“ Heute scheint es, als würden die Älteren ihren Kindern einen Fluch in die Wiege legen: „Ihr sollt es mal schlechter haben. Unser Geld haben wir mit Priorität dafür ausgegeben, das Wachstum der großen Vermögen zu sponsern und den Rüstungsetat zu steigern. Da uns also nun das Geld ausgeht, habt ihr sicher Verständnis dafür, dass wir stattdessen eures verpfänden mussten.“
Den „Rettern“ rettungslos ausgeliefert
Was hilft? Das Wort „Rettung“ wird ja – ähnlich wie „Reform“ – mittlerweile eher als Drohung wahrgenommen. Die kurzfristige „Lösung“ von heute, ob sie sich nun Konjunkturpaket oder Rettungsschirm nennt, ist die Keimzelle der Krise von morgen. Man kann das am aktuellen Beispiel Griechenland leicht erkennen, wo alle Sparmaßnahmen das Land bisher nur immer tiefer in den Sumpf geführt haben. Systematisch wird jede Hoffnungen auf Veränderungen zerschlagen, wie wir derzeit am Experiment einer linken Regierung im Süden Europas beobachten können. „Alternativlosigkeit“, dieser längst durchschaute, abgedroschene Slogan, zeigt am Beispiel Griechenlands ein besonders erbarmungsloses Gesicht – vor allem das Wolfgang Schäubles. Demokratiewidrig werden die Griechen in eine Situation der Aussichtslosigkeit gedrängt: „Wählt ihr eine neoliberale Regierung, machen wir euer Land platt; wählt ihr eine linke Regierung passiert dasselbe.“
Widerlegt sind humanistische Hoffnungen, das „Monster“ Kapitalismus würde vor dem Existenzminimum der Menschen halt machen, würde Gnade walten lassen, sobald es um Leben und Tod geht. Selbstmorde aus sozialer Verzweiflung häufen sich in den armen Ländern, und auch im „reichen“ Deutschland sind Menschen in der Folge des Hartz IV-Systems schon zu Tode gekommen. Zunichte gemacht auch die Hoffnung, die „Essentials“ der Bürgerrechte würden nicht angetastet. In Spanien ist das Demonstrationsrecht jetzt de facto abgeschafft. Und flächendeckende Überwachung unserer Kommunikationskanäle entlockt den dickfelligen deutschen Spitzenpolitikern kaum mehr ein Achselzucken.
Der Terror der Ökonomie
Unsere Epoche ist vor allem gekennzeichnet durch das Absterben jeglicher Perspektive und Betrachtungsweise abseits der ökonomischen. So erscheint der Staat teilweise selbst eher wie ein Wirtschaftsunternehmen denn wie eine am Gemeinwohl orientierte Organisation. Sein Handeln unterwirft der „Apparat“ vor allem dem Sparzwang, so dass die in der Verfassung geschützte Menschenwürde zunehmend unter Finanzierungsvorbehalt steht. Die Frage ist nicht mehr in “Braucht ein Hilfsbedürftiger das Geld?”, sondern “Können wir uns das leisten?” Geld, das im Übrigen da wäre, würde es nicht in dramatischem Umfang immer dorthin geschaufelt, wo es schon im Überfluss vorhanden ist.
Anders betrachtet, wirft der Staat jedoch auch jegliche ökonomische Vernunft über Bord. Würde ein Wirtschaftsunternehmen angesichts der immensen Kosten eines solchen Unternehmens in Übersee einen Krieg lostreten? Der Unterschied ist, dass in einem Unternehmen Gewinne und Verluste von derselben „juristischen Person“ verbucht werden. In einer Wirtschaft-Staat-Megamaschine bleiben die Gewinne jedoch privat, während die Verluste auf die Gemeinschaft abgewälzt werden. So kann auch ein Krieg als ökonomisch rationale Entscheidung erscheinen Denn die Verluste bei einem solchen Gemetzel sind einerseits nicht monetärer, sondern „nur“ humanitärer Natur, andererseits müssen sie ja nicht von den gleichen Institutionen verkraftet werden, die den finanziellen Rahm abschöpfen.
Die ideologiefreie Megamaschine
Der Neoliberalismus ist in ein Ideologien-Vakuum gestoßen, das nach dem Scheitern des Ostblock-Kommunismus und infolge erlahmter Demokratie-Treue der satten westlichen Nachkriegsbürger entstanden ist. Neoliberalismus ist eine nicht-ideologische Wirtschaftsideologie, eine nicht an Werte gebundene Profitmaschine, deren Schwerpunkt nicht auf irgendeinem Ziel, sondern auf den Prozessen und Techniken der Bereicherung liegt. Der Staat in diesem Konstrukt ist unauflösbar verflochten mit den Großkonzernen, Banken, Finanzmärkten, Militär- und Geheimdiensthierarchien. Diese gleichen schmarotzenden Ranken im Garten, die sich um gesunde Pflanzen schlingen, so dass man sie kaum weg reißen kann, ohne zugleich die „Wirtspflanze“ zu zerstören. Der Staat verhält sich gegenüber seinen Bürgern zunehmend herrisch, indem er sie bis ins Alltagsverhaltens hinein gängelt; er agiert zugleich devot gegenüber der Privatwirtschaft, der er sich teilweise bis zur Selbstabschaffung unterwirft. Der Staat gibt fast widerstandslos Macht ab, etwa bei den Verhandlungen zu den TTIP-Verträgen, denen zufolge nicht demokratisch gewählte Schiedsgerichte darüber entscheiden werden, was gewählte Volksvertreter entscheiden „dürfen.“
Wir nähern uns, wenn sich bestimmte Entwicklungen nicht umkehren, globalen Katastrophen von ungeahntem Ausmaß – und zwar sowohl ökologischer als auch humaner und sozialer Natur. Schließlich droht der Zusammenbruch der Demokratie und seiner freiheitlich-pluralistischen Werte insgesamt. Die Weltgeschichte schreitet erfahrungsgemäß nicht voran, indem Fehlentwicklungen frühzeitig erkannt und korrigiert werden. Vielmehr wird jede Schnapsidee von den Trägergruppen einer historischen Strömung bis zum äußersten Exzess ausagiert. Dies war so bei der Idee des sozialdarwinistisch inspirierten Rassismus im 20. Jahrhundert. Es war so beim nach innen totalitär-repressiv agierenden Staatssozialismus. Nichts deutet darauf hin, dass dies beim radikalen Marktkapitalismus und seiner Ideologie der Welt als Ware anders sein sollte. Nichts außer einem Funken Hoffnung in den Herzen der „Naiven“, der im günstigsten Fall zur verändernden Tat werden kann.
Wäre eine Revolution möglich?
Wie aber sollte eine solche Revolution aussehen? Zweifellos wünscht kein human empfindender Mensch eine Neuauflage der Guillotine oder der Taten der RAF. Andererseits wird es mit bloßen Reförmchen nicht getan sein in einem System, das nicht nur krankt, sondern selbst die Krankheit ist. „Systemabschaffende Reform“ ist Rudi Dutschkes Zauberformel, die noch heute als Leitbild geeignet ist. Für ihn beschreibt dieser Begriff eine zügig (nicht jedoch explosionsartig) sich vollziehende, gewaltfreie Revolution, die von einem Bewusstseinswandel breiter Bevölkerungsschichten getragen. Ich bin nicht so naiv, anzunehmen, dass eine solche Entwicklung in naher Zukunft wahrscheinlich wäre. Es gibt aber historische Parallelen, die zeigen, dass eine scheinbar lethargische Gesellschaft in einem erstaunlich kurzen Zeitraum „aufgewacht ist“, wenn die unter der Decke gehaltene Wut in noch einigermaßen geregelten Bahnen ausbricht.
Wohin aber geht der Weg, wenn er – was heute unabweisbar scheint – weg vom Kapitalismus führt. Nach dem Untergang des Staatskommunismus konnten sich die geistig heimatlos Gewordenen in das Netz des damals leidlich funktionierenden westlichen Systems fallen lassen. Heute haben wir nicht nur keinen ausländischen Staat, in dem ein alternatives System funktionieren würde, wir haben nicht einmal einen alle Politikbereiche umfassenden Entwurf eines solchen Systems. Es ist aber gefährlich, wenn die Bedrohten vom stürzenden Turm des Finanzkapitalismus ins Leere springen. Rettungsboote können nicht erst dann gezimmert werden, wenn das Schiff schon gesunken ist. Wir brauchen realisierbare Utopien, die einerseits gründlich ausgearbeitet sein müssen, andererseits schnell verfügbar, da die Zeit drängt. Da rächt sich der jahrzehntelange Dämmerschlaf der zufriedenen Mehrheit wie auch der qualifizierten Eliten. Die Akteure der gegenwärtigen Fehlentwicklungen haben auf geniale Weise vorausschauend agiert, während „wir“ den von ihnen geschaffenen Sachzwängen stets staunend, nörgelnd, schließlich resignierend hinterher hinken.
Der schwere Abschied von der Macht
„Die Revolution wäre eine große Sache, wenn sie die Achtung vor dem anderen bewahrte“, sagte der große Mahler Marc Chagall. Das Bunte und Nicht-Linientreue, die Würde des Andersdenkenden – wenn künftige Revolutionäre dies nicht respektieren wollen, verdienen sie nicht, die verbrauchten Eliten der alten Zeit abzulösen. Was wir letzteren jedoch werden zumuten müssen, ist der geordnete Abschied von lieb gewordenen Privilegien, die auf der geschickt verschleierten Ausbeutung fremder Arbeitskraft beruhen. Wenn wir nicht willens oder fähig sind, den heute Mächtigen diesen für sie offenbar schweren Abschied abzuverlangen, dann steuern wir vermutlich auf eine wirklich dunkle Epoche zu. Statt ihnen zu nehmen, was sie in ihrem Überfluss längst nicht mehr verwerten können, lassen wir uns auch noch das Wenige wegnehmen, das wir dringend zum Leben brauchen. Hilflos, staunend werden wird unserer zunehmenden Beraubung und Entrechtung zusehen, bis wir – wenn wir endlich verstanden haben – schon viel zu entkräftet sind, um noch zu kämpfen. Deshalb ist der optimale Zeitpunkt, um aufzustehen, immer jetzt.