Der Staat und sein „Wohl“
Der Bundestagsabgeordnete Konstantin von Notz (Grüne) hat Erfahrung in der Arbeit von parlamentarischen Kontrollgremien. Er beklagt die Praxis der Bundesregierung, unter Verweis auf das „Staatswohl“ Auskünfte zu verweigern: „Die Offenlegung der erfragten Informationen würde das Staatswohl in besonders hohem Maß beeinträchtigen.“ So verhindern von der Bevölkerung bezahlte Funktionäre der Exekutive die Aufklärung von Staatsaffären. Den Abgeordneten wird so eine wirksame Kontrolle von Regierung und Geheimdiensten unmöglich gemacht. Georg Rammer
Verweigert wurden und werden etwa Auskünfte zur Überwachung durch den US-amerikanischen Geheimdienst NSA, die 2013 von Edward Snowden aufgedeckt wurde. Während sich die deutsche Regierung zum Opfer stilisierte, sickerte nach und nach durch, dass auch der deutsche Bundesnachrichtendienst BND aktiv daran beteiligt war. Was die deutsche Öffentlichkeit erfahren durfte, bestimmten die betroffenen Geheimdienste; unzählige Seiten wurden aus den Akten entfernt. Wer kontrolliert den Geheimdienst? Offensichtlich agiert der Dienst frei von allen demokratischen Fesseln.
In aller Klarheit hatte der damalige Staatssekretär im Bundesinnenministerium, Klaus-Dieter Fritsche, die Grundlage dieser Praxis formuliert: „Es dürfen keine Staatsgeheimnisse bekannt werden, die ein Regierungshandeln unterminieren.“ Nach diesem Verständnis legen die Geheimdienste selbst fest, was dem Staatswohl dient – und etablieren damit hinter einer formaldemokratischen Fassade einen „tiefen Staat“. Untersucht man weitere klandestine Aktionen staatlicher Institutionen, lässt sich der Verdacht erhärten.
Besonders eklatant war die koordinierte, mit allen Tricks und illegalen Akten staatlicher Stellen betriebene Vertuschung und Vernebelung rund um die Morde der rassistischen Terrorgruppe NSU. Inzwischen ist bekannt, dass die Täter engen Kontakt zu V-Leuten des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV) pflegten. Was sie aber an Informationen geliefert hatten, wurde direkt nach der Enttarnung der Mörder im BfV geschreddert. Die Morde hätten wahrscheinlich verhindert werden können, wenn die staatlichen Instanzen das gewollt hätten. Stattdessen wurde von ihnen alles getan – Akten vernichten, Nazi-Netzwerke begünstigen, Nachrichtensperre für 120 Jahre verhängen –, um Spuren zu verwischen, Aufklärung zu erschweren, das Netzwerk abzuschirmen und eine juristische Aufarbeitung zu verhindern. Auch hier hat sich das BfV besonders hervorgetan. Wohlgemerkt: Es handelt sich nicht um »Staatsversagen«, wie häufig kritisiert wird, sondern um das konzertierte Zusammenwirken staatlicher Institutionen zur Vertuschung von Verbrechen.
Auch der Untersuchungsausschuss zum Berliner Terroranschlag am Breitscheidplatz bemüht sich vergeblich um Aufklärung. Hier muss die „Funktionsfähigkeit der Nachrichtendienste als Belang des Staatswohls“ herhalten, um sachdienliche Aussagen zu verhindern. Da wird aber gewiss das Bundesverfassungsgericht einschreiten, denkt der demokratisch gesinnte Staatsbürger und die -bürgerin – und werden sogleich enttäuscht: Dieses bestätigte nämlich vor wenigen Wochen, dass das parlamentarische Aufklärungsinteresse hinter dem Staatswohl zurücktreten muss. Schon 2017 hatte es in einem Urteil zum Oktoberfestattentat 37 Jahre zuvor geurteilt: Die Bundesregierung darf „Auskünfte zum Einsatz verdeckt handelnder Personen in der Regel mit dem Hinweis auf eine Gefährdung des Staatswohls (…) verweigern“.
Glaubt jetzt noch jemand, dass der Fall des von deutschen Geheimdiensten geschützten russischen Putin-Kritikers und Opfers eines Giftanschlages Nawalny, der im Schwarzwald mit finanzieller Unterstützung aus den USA einen Propagandafilm gegen den russischen Präsidenten drehen konnte, aufgeklärt werden darf? Alle Anfragen dazu wurden in wesentlichen Punkten abgebügelt: „Gefährdung des Staatswohls, Risiko des Bekanntwerdens nicht hinnehmbar, sicherheitsrelevante Informationen, berechtigte Geheimhaltungsinteressen“ – alles Zitate aus regierungsamtlichen Antworten. Befremdlich, wenn man bedenkt, dass genau solche Methoden dem System Putin unterstellt werden.
Gutgläubige könnten einwenden: Der demokratische Staat hat nun mal Feinde, die vor Gewalt und Terror nicht zurückschrecken. Die planen und operieren im Geheimen und können nur mit geheimdienstlichen Mitteln an ihrem verbrecherischen Tun gehindert werden. Jede Information über das Vorgehen der V-Leute könnte diese wie auch ihre Abwehraktionen generell gefährden.
Selbst Auskünfte über Jahrzehnte zurückliegende Geheimdienstaktivitäten werden mit diesem Argument verweigert. Ein Bundestagsabgeordneter der Linkspartei hatte 2018 nach der Zusammenarbeit des BND mit der Obristendiktatur in Griechenland (1967-1974) gefragt. Ergebnis: Keine Auskunft wegen Staatswohl, sie könnte den Interessen der Bundesrepublik schaden. Auch zur Pinochet-Diktatur und zu den BND-Kontakten zum chilenischen Geheimdienst wurde jede Auskunft verweigert. Zum bereits erwähnten Oktoberfestattentat hatte die Bundesregierung 35 Jahre lang Akten geheim gehalten, Aufklärung verhindert, die Vernichtung wichtiger Indizien gedeckt – um die Verwicklung der Geheimdienste und der Politik in rechtsextreme Terrorgruppen (Wehrsportgruppe Hoffmann und NATO-Geheimarmee Gladio) zu verheimlichen.
Hier wird offensichtlich: Die Leugnung von rechtem Terror in Deutschland dient ebenso dem Staatswohl wie die Unterstützung für rechten Terror im Ausland. Es geht also nicht (nur) um Gefährdung der aktuellen Operationen. Gedeckt werden vielmehr antidemokratische, rechte Aktionen, die nicht bekannt werden dürfen. Welchen Zielen also dienen eigentlich die Geheimdienste? Ein Blick zurück mag dies offenbaren. Zur selben Zeit, als die KPD, also die Partei, die den Faschismus von Anfang an am heftigsten bekämpft hatte, verboten wurde (1956), sind die Geheimdienste aufgebaut worden: Der BND von Reinhard Gehlen, einem Generalmajor der Wehrmacht und als Chef der Nazi-Abteilung Fremde Heere Ost für größte Verbrechen verantwortlich. Er führte den BND zwölf Jahre lang und sorgte für die Rekrutierung weiterer Nazis – ebenso wie Hubert Schrübbers, von 1955 bis 1972 Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, davor Karriere in SA und SS und als Nazi-Oberstaatsanwalt. Und auch Gerhard Wessel passt optimal in die Faschistenriege. Er hatte gegen Kriegsende die Führung der Fremde Heere Ost von Gehlen übernommen, baute dann die Bundeswehr mit auf und übernahm die Leitung des Militärischen Abschirmdienstes MAD. Erwähnt werden muss in diesem Zusammenhang, dass zahlreiche hochrangige Nazis nach dem Krieg dem US-Geheimdienst CIA dienten, wie etwa der Gestapo-Chef Franz Josef Huber, der als SS-General und Komplize von Adolf Eichmann Zehntausende Juden in den Tod geschickt hat, um dann 20 Jahre lang der CIA und dem BND zu dienen – gegen den Kommunismus. Bis zu seinem Tod lebte er unbehelligt in München und bezog Rente (Report München berichtete am 6.4.21).
Doch hat sich daran über die Jahrzehnte nicht doch etwas geändert? Zweifel tauchen auf, wenn man weiß, dass etwa Hans-Georg Maaßen, der Ex-Präsident des BfV, sich nicht nur stramm rechts äußert und gegen Presse und Parlament hetzt („Sicherheitsrisiko“), sondern nachweislich auch Rechtsextreme begünstigt hat (vgl. die Auflistung kritischer Vorfälle bei Wikipedia). Oder Klaus-Dieter Fritsche, der eine erfolgreiche Karriere hingelegt hat als Vizepräsident des BfV (1996-2005), Koordinator der Geheimdienste im Bundeskanzleramt (bis 2009), dann Staatssekretär im Bundesinnenministerium. Danach betätigte er sich als Berater des rechten FPÖ-Innenministers in Österreich und als Lobbyist des kriminellen Wirecard-Finanzkonzerns. Den NSU-Untersuchungsausschuss bezichtigte er des „Skandalisierungswettbewerbs“ und verweigerte jede Kooperation.
Zahlreiche ParlamentarierInnen ziehen eine bittere Bilanz aus den Geheimdienstskandalen NSA, NSU und Berlin-Attentat (B.-I. Hoff, H. Kleffner, M. Pichl, M. Renner (Hrsg.): Rückhaltlose Aufklärung? NSU, NSA, BND – Geheimdienste und Untersuchungsausschüsse zwischen Staatsversagen und Staatswohl. VSA 2019). Bundesnachrichtendienst, Bundesamt und Landesämter für Verfassungsschutz können nicht kontrolliert werden. Sie stellen sich über Verfassung und Gesetze und werden dabei von staatlichen Institutionen gedeckt. Die Liste allein ihrer aufgedeckten Taten ist einer kriminellen Vereinigung würdig: Anstiftung zu Straftaten, Geheimnisverrat, Strafvereitelung, Unterdrückung von Beweismitteln; sie missachten Menschenrechte, täuschen und belügen die Öffentlichkeit und das Parlament. Sie behindern die Aufdeckung, vernichten und schwärzen massenweise Akten. Die Bundesanwaltschaft hilft beim Vertuschen, das Bundesinnenministerium blockt die Aufklärung von Morden, und das BfV gibt Politikern Handreichungen, um das „Hochkochen der Thematik“ (Skandale) zu unterbinden.
Die Verweigerung der Aufklärung, das Belügen des Parlaments und der Öffentlichkeit wie das Negieren des Rechtsterrors gelten als Staatsräson. Wie ist es möglich, dass staatliche Institutionen über V-Leute Beihilfe zu schwersten Straftaten leisten und die Aufklärung auch noch Jahrzehnte später mit allen Mitteln boykottieren? Die Rechenschaftsberichte aus den Untersuchungsausschüssen lassen keinen anderen Schluss zu: Geheimdienste sind Instrumente politischer Herrschaft. Die erwähnten Fälle lassen die Überschneidungen zwischen der politischen Ideologie von Rechtsterroristen und einer rechtskonservativen Machtelite erkennen. Was bedeutet denn der perverse Euphemismus „Staatswohl“ anderes, als dass die Würde des Menschen und die Gesetze nichts gelten, wenn es um „höherwertige“ Interessen geht?
Es scheint überflüssig zu betonen: „Staatswohl“ ist keine Verfassungsnorm, sondern ähnlich wie die „freiheitlich demokratische Grundordnung“ ein politischer Kampfbegriff, der von der Regierung mit dem Anschein von Verfassungsrang nach politischer Opportunität genutzt wird. Die höchste Norm des Grundgesetzes, die Würde des Menschen, wird durch den „Wert“ Staatswohl ersetzt. So mutiert der „Staat des Kapitals“ (Johannes Agnoli) zum höchsten schützenswerten Gut. Damit wird der Geist der Verfassung in sein Gegenteil verkehrt. Sie ist, als Reaktion auf die Katastrophe des Faschismus, in erster Linie erdacht worden, um die Menschen vor dem Staat zu schützen. Nicht umgekehrt.
In einem System aber, in dem Geheimdienste das Staatswohl bestimmen und sich gegen Kontrolle und Kritik abschirmen, ist nicht der Staat für die Menschen da, sondern diese für den Staat, dessen Machtelite und deren Interessen. Und auch die Kritik an den Vorgängen führte nicht zu einer Demokratisierung, im Gegenteil. Nach allen großen Skandalen folgte eine Ausweitung des Personals und der Befugnisse der Geheimdienste, ihre Straftaten wurden teilweise legalisiert. Dagegen muss aus einem demokratischen Verständnis die Abschaffung der Geheimdienste gefordert werden. Wenn enthemmte Geheimdienste Feinde ins Visier nehmen und für ein selbst definiertes Staatswohl arbeiten, wird es für die Menschen gefährlich.