Der Terror der Übergröße
Der Zerfall Europas könnte bevorstehen. Besser, wir sind darauf vorbereitet. Diese Entwicklung birgt wegen des Erpressungspotenzials der Banken Gefahren; für die Demokratie könnte sie aber vorteilhaft sein. Mit der Größe eines Staatsgebildes wächst auch das Gefühl der Machtlosigkeit. Bürger werden für immer mehr haftbar gemacht, haben aber immer weniger Einfluss. Die eigentliche Domäne der Freiheit ist deshalb das Kleine, Überschaubare. Roland Rottenfußer
Zugegeben, Größe hat auch Vorteile. „Riesenstaaten“ vermindern das Risiko, dass seine Teile gegeneinander Krieg führen. Helmut Kohl hat uns die EU immer mit diesem Argument schmackhaft gemacht. Falsch ist es nicht, waren doch grausame Kriege zwischen Frankreich und Deutschland früher die Regel. Heute müssen wir Kriege kaum mehr befürchten. Dafür beschleicht uns das Gefühl, dass nur deshalb Frieden herrscht, weil sich die Mächtigen fast überall auf das Falsche geeinigt haben. Wir spüren unterschwellig die Schattenseiten der Übergröße. Nehmen wir an, die EU würde sich schrittweise in eine Diktatur verwandeln. Ansätze dazu gibt es. In Ungarn wurde unverblümt die Pressezensur eingeführt. In Spanien wurden Fluglotsen, die streiken wollten unter Militärrecht gestellt. Und der Lissabon-Vertrag erlaubt es Staatsorganen, bei Aufständen in die Menschenmenge schießen zu lassen. Nehmen wir an, das wird schlimmer – wohin sollten Widerstandskämpfer fliehen?
Die Kleinstaaterei im Mitteleuropa des 19. Jahrhunderts war beschwerlich. Es gab überall Zollgrenzen, aber für unschuldig Verfolgte konnten sie auch Gnade bedeuten. Wurde man in einem Land wegen eines Delikts gesucht, floh man ein paar Kilometer über die Grenze und war in Sicherheit. Wer mit der Bundesrepublik nicht klar kam, konnte vor 25 Jahren in der DDR Asyl suchen, und umgekehrt. Das Überwinden der Grenze von Ost nach West war schwer, aber die Option bedeutete für viele Hoffung. Heute gibt es kein „gegnerisches Staatssystem“, das einem Widerstandskämpfer gegen den autoritären Kapitalismus Zuflucht bieten würde. Das Prinzip Staatlichkeit (und damit der „Strafanspruch“ des Staates) überwindet alle Landesgrenzen. Überträgt man das Prinzip auf politisch motivierte Regelverstöße, macht es Angst.
Transnationale Repression
In einem Kleinstaat können hunderttausend entschlossene Bürger ein Unrechtsregime stürzen. In einem Monsterstaat wie der EU werden sich dagegen die Polizeikräfte mehrerer Länder zusammenschalten. Ein Großereignis, z.B. ein Wirtschaftsgipfel, weiß das vereinigte Repressionspotenzial von 10 oder 20 Teilstaaten hinter sich. Ein „Repressionstourismus“ ausländischer Polizeieinheiten kommt in Mode, etwa in Heiligendamm 2008 oder Stuttgart 2010. In großen Staatsgebilden wächst auch das Missverhältnis zwischen den wenigen, die die Regeln machen, und den vielen, die ihnen zu gehorchen haben. Die Tatsache, dass die Gesetzgeber „demokratisch legitimiert“ sind, tröstet dabei nur wenig. Repräsentative Demokratie heißt faktisch, dass wir diejenigen wählen, die uns nachher ihren Willen aufzwingen. Die Staatsgewalt geht vom Volk aus – um dann nicht mehr zu ihm zurückzukehren.
Schon Leo Tolstoj empfand deshalb ein Unbehagen gegen jegliche Herrschaft. Die Völker lassen sich Zügel anlegen, die an zentraler Stelle zusammenlaufen, argumentierte der Schriftsteller. Es müsse also nur noch ein besonders perfides Individuum diese Zügel ergreifen, und die Tyrannei nehme ihren Lauf. Dies ist die große Gefahr, die von Riesengebilden wie der EU oder der Nato ausgeht. Ihre Strukturen sind beängstigend perfekt. Ein Hüsteln in Brüssel, und Millionen Menschen von Grönland bis Kreta müssen strammstehen. In den vergangenen Jahren wurde die Infrastruktur für Überwachung und Repression stark ausgebaut, während man die Menschenrechte weitgehend achtete. Das Volk wiegte sich so in Sicherheit. Es muss sich jedoch nur der politische Wind drehen, dann erwacht die Repression wie ein schlafender Hofhund.
Ära des Abstiegs
Ein wichtiges Argument gegen übergroße Staaten ist wirtschaftlicher Natur. Die mit der Dynamik der Exponentialkurve wachsende Staatsverschuldung zwingt heute ganzen Völkern ein Lebensgefühl der Ausweglosigkeit auf. Politische Auseinandersetzungen drehen sich nur noch darum, angeblich alternativlose Verschlechterungen zu verlangsamen. „Es kann nur schlimmer werden“ – diese Stimmung erzeugt Depression bei vielen und ungerichtete Aggression bei wenigen. Der Kabarettist und Liedermacher Prinz Chaos II. kritisierte die Tatenlosigkeit der Gewerkschaften: „Sie sind wie der Depressive, der durch zu viel Schlaf immer noch müder wird.“ Das trifft den Kern. Der Bürger fühlt sich von einem Abwärtssog ergriffen, dem er nichts entgegensetzen kann. Es scheint kein Zusammenhang zu bestehen zwischen dem, was er subjektiv leistet und dem, was er objektiv erleidet.
Objektiv verantwortlich für das Ausbluten der öffentlichen und privaten Haushalte ist natürlich die Zinsdynamik. Gestützt auf eine groteske Rechtslogik, nehmen Gläubiger immer mehr Menschen in Haftung, die mit dem Entstehen der Schulden nichts zu tun haben. Brechen viele Einzelschuldner unter der Last zusammen, wird die Gemeinschaft in Haftung genommen. Funktioniert auch das nicht mehr, sind die Steuerzahler anderer Länder dran. Alles scheint erlaubt, selbst die Preisgabe des Sozialstaats; nur das nahe Liegende bleibt tabu: ein Verzicht der Gläubiger auf überhöhte Zinsforderungen. In einem Mosaik kleiner, voneinander unabhängiger Staaten wäre es leichter, dass jeder für sich wirtschaftet. Bräche eine Volkswirtschaft zusammen, könnte ein Insolvenzverfahren eingeleitet werden. Ein Neuanfang oder Systemwechsel wäre leichter möglich.
„Alternativlosigkeit“ – der Tod der Demokratie
In großen, gleichgeschalteten Staatsgebilden ist es leichter, den Menschen Alternativlosigkeit einzureden. Diese wird den Menschen ja drastisch vor Augen geführt, wenn in allen Nachbarstaaten ähnliche (oder schlimmere) Zustände herrschen. Der Blick auf benachbarte Kleinstaaten, von denen zumindest einige mit alternativen Wirtschaftsformen experimentieren, würde den Menschen Mut machen. Die Politik der Alternativlosigkeit bedeutet dagegen eine Demütigung für den Bürger – und das faktische Ende der Demokratie. Volksherrschaft beruht auf dem Prinzip, wählen zu können. In dem Masse wie diese Möglichkeit schrumpft, stirbt die Demokratie. Der Wähler, der nur verschiedene Schattierungen des Prinzips Neoliberalismus vorgesetzt bekommt, fühlt sich verschaukelt. So wie die deutschen Fernsehzuschauer, die vor Jahren ihren Beitrag zum Eurovision Song Contest aus zwölf verschiedenen Titeln von Lena Meyer-Landruth auswählen durften.
Abgesehen von politischen Inhalten, fördert aber schon die Globalisierung selbst das Gefühl von Machtlosigkeit. Die Prozesse, denen Bürger auf europäischer und globaler Ebene unterworfen werden, sind zu gewaltig, um darauf spürbar Einfluss zu nehmen. Es fühlt sich an, als wolle man sich als Ameise gegen einen Lastwagen stemmen. Die vielen Appelle wohlmeinender Aktivisten, „wir“ müssten doch endlich etwas tun, werden dann eher als ermüdend empfunden. Während wir zunehmend erkennen, dass wir etwas tun „müssten“, beschleicht uns gleichzeitig das Gefühl, dass wir immer weniger tun können. Politischer Aktivismus wird so zur verzweifelten Abwehr gegen die gefühlte Machtlosigkeit.
Vernetzung bedeutet Überforderung
Immer wieder wird in Büchern die globale Vernetzung, die Verbundenheit allen Seins beschworen. Dies ist spirituell weise, ökologisch korrekt und politisch realistisch. Aber es ist ein zweischneidiges Schwert, weil es uns überfordert. Warum muss ich als Bürger im oberbayerischen Pfaffenwinkel bangen, wen die US-Bevölkerung zum Präsidenten wählt? Warum sollte es mich interessieren, was in den Köpfen chinesischer Währungsspekulanten vorgeht? Warum muss ich mir Gedanken um die agrarpolitischen Entscheidungen der EU machen, obwohl es in meiner Gegend genug fruchtbaren Ackerboden gibt?
Wir leiden unter einem Terror der Komplexität. Diese grenzenlose Vernetzung raubt uns das Gefühl, Mitgestalter unserer Wirklichkeit zu sein. Das Bewusstsein von Würde erwächst doch vor allem aus dem Überschaubaren – aus der Familie, dem Dorf, der Region, vielleicht noch der (kleineren) Nation. Dort „bin ich wer“. Viele wünschen sich deshalb eine schützende Membran um die eigene Person, die eigene Wohnung, das eigene Dorf, das eigene Land. So zu fühlen, ist weder korrekt noch vernünftig – aber es ist eine psychologische Realität. Wir sind alle eins, aber das Fehlen jeglichen Geborgenheitsgefühls macht krank. Die labileren von uns entwickeln daraus eine Abwehr gegen alles „Fremde“. Ausländerfeindlichkeit ist in jedem Fall falsch, wird aber durch die skizzierte Dynamik begünstigt.
Rückbau von Übergrössen
Übergrosse Strukturen stellen ein Problem für die Demokratie dar – selbst wenn sich keine diktatorischen Tendenzen zeigen. Das Gefühl, dass das Gewicht der eigenen Stimme gegen Null geht, wirkt lähmend. Vielleicht wird unsere Epoche nicht nur vom tragischen Zusammenbruch zweier Hochhäuser geprägt sein, sondern auch vom Zerfall transnationaler Strukturen wie der EU oder der Nato. Wo Überdehnung nicht erkannt wird, kann es zu einer gewaltsamen Explosion kommen. Der freiwillige Rückbau von Übergrößen ist die beste Vorbeugung, um Gewalt zu verhindern. Die Besinnung auf kleinere Räume hat nichts mit Patriotismus zu tun. Ein Patriot meint z.B., das oberbayerische Volk sei dem niederbayerischen genetisch überlegen. Regionalismus dagegen sagt: Niemand ist überlegen, aber was hauptsächlich Oberbayern betrifft, sollte auch in Oberbayern entschieden werden.
Es muss für Regionen einen Schutz vor negativen globalen Einflüssen geben, gleichzeitig aber die Möglichkeit, aus dem Heimatraum positive Impulse in die Welt zu senden. Im Sinn der Ethik Kants sollten sich Regionen so verhalten, dass dieses Verhalten auf die ganze Welt übertragbar wäre, ohne dass Schaden entsteht. Wenn ihnen das gelingt, können sie durch ihr positives Beispiel auf das Umfeld wirken. Jede Region sollte offen für die „Best Practices“ aus anderen Ländern sein. Wir sollten neugierig auf das Fremde bleiben und das Eigene tatkräftig voranbringen. Internationale Kooperation bleibt nach wie vor wünschenswert.
Zu groß, um nicht zu scheitern
„To big to fail“ – man hörte dieses Argument im Zusammenhang mit „Not leidenden Banken“. Riesenstaaten wie die EU sind zu groß, um nicht zu scheitern. Die Sowjetunion ist zerfallen, der Sudan zerbrach in zwei Teile. Der Brexis wird Großbritannien von der EU abspalten. Das amerikanische Imperium zerfällt von innen, ohne dass die Größe seines Staatsgebiets vorerst zur Disposition steht. Ich will nicht leichtfertig den Zerfall der EU in Teilstaaten und Einzelwährungen propagieren. Die Folgen einer solchen Entscheidung sind schwer zu übersehen. Wir müssen uns aber darauf vorbereiten, dass dieses Auseinanderbrechen geschehen kann – schon bald. Wir können nachspüren, wie wir emotional dazu stehen. Und überlegen, wie wir die wenigen Entscheidungen treffen wollen, die wir werden treffen müssen: Lassen wir uns von den Medien gegen Abweichlerstaaten aufhetzen? Wählen wir pro oder contra Europa? Schließen wir uns Demonstrationen oder Bürgerbewegungen an?
Die Panikmache von Banken, die um die Solvenz ihrer Schuldnerstaaten bangen, sollte unsere Gemütslage nicht allein beherrschen. Politiker, die behaupten, die Währungsunion sei „unumkehrbar“, sind Bauchrednerpuppern von Bankeninteressen. Meine Überlegungen haben gezeigt, dass ein Zerfall auch Chancen beinhaltet: für die Demokratie und für das Lebensgefühl der Menschen. Es kann z.B. nicht angehen, dass für das Ökosystem lebenswichtige Vorschläge mit dem Argument abgeschmettert werden, so etwas könne nur auf der europäischen Ebene entschieden werden. Ein Argument für die staatliche Einheit wäre, dass die Menschrechte zentral festgeschrieben werden können. Diesbezüglich hat Europa jedoch versagt. Die EU besitzt kein Immunsystem, um die faschistoiden Experimente eines Berlusconi und Orbán oder die Verfolgung der Roma in Frankreich abzuwehren. Sie ist jedoch entsetzlich effizient darin, kreative Konzepte jenseits des Neoliberalismus zu unterdrücken und den Freiheitswillen eigenwilliger Völker wie Irland und Griechenland zu brechen.
Der Zerfall der EU
Der Zerfall der EU könnte das „nächste große Ding“ auf der politischen Tagesordnung sein. Es liegt in der Natur von Übergrößen. Ausgehen wird der Zerfall kaum von den „zentralen“ Nationen wie Deutschland, sondern von der Peripherie: von Ländern, die es satt haben, dass man ihnen für ihre Armut Geldstrafen auferlegt. Zunächst wird die Währungsunion den Nimbus der Alternativlosigkeit verlieren – und zwar in dem Maße wie Merkel und Co. sie verzweifelt beschwören. Das Beispiel der Schweiz zeigt, wie man als kleinerer Staat ohne Kriege und mit einem eigenen Demokratieverständnis existieren kann. Mit Frankreich in Frieden zu leben muss nicht bedeuten, mit ihm eine staatliche Einheit zu bilden. Auch Deutschland muss keine Angst haben vor „Kleinstaaterei“ – nur vor der Übergröße transnationaler Konzerne und Banken.
Und auch die Freiheit muss unter „Alleingängen“ nicht leiden – es sei denn man versteht darunter die Freiheit der Finanzmärkte. Wir wünschen uns ja nicht nur, frei zu sein von Gängelung, sondern auch die Freiheit, etwas zu tun, was spürbare Wirkung zeigt. Das ist eher im kleinen Rahmen möglich. Daher ist die eigentliche Domäne der Freiheit das Überschaubare.