Der Unterwerfungs-Wahn

 In FEATURED, Gesundheit/Psyche, Politik

Die Ausübung destruktiver Macht setzt die Bereitschaft der Masse voraus, auch unsinnigen Befehlen zu gehorchen. Der Homo Sapiens ist eigentlich ein Homo Obidiens, ein gehorchender Mensch. Der Gehorsam gehört zu den unverwechselbarsten und zugleich rätselhaftesten Merkmalen dieser Spezies. Die menschliche Bereitschaft zum Gehorsam übertrifft die des Hundes oder des Pferdes insofern, als es keinerlei Grenzen bei der Anwendung zerstörerischer und selbstschädigender Verhaltensweisen zu geben scheint. Keine Hinrichtungsart, keine noch so grausame Foltermethode, kein Krieg, keine Massenvergewaltigung und kein Völkermord ist wohl je daran gescheitert, dass sich niemand bereit gefunden hätte, die entsprechenden Befehle auszuführen. Von der Opferung Isaaks durch Abraham bis zum berühmten Milgram-Experiment — überall fand sich mindestens ein Gehorsamer, jemand der Ja gesagt hat. Wollen wir künftige Kriege und Gewalttaten verhindern, müssen wir die moralische Widerstandskraft gegen den Zugriff der Macht stärken.  Wolfram Rost

„Der Schlüssel zum Verhalten von Personen liegt nicht in einem aufgestauten Ärger oder in Aggression, sondern in ihrer Beziehung zur Autorität“ (Stanley Milgram).

Bis in die heutige Zeit wird Abraham vom Judentum, Christentum und Islam als Stammvater betrachtet und als Vorbild für die Gläubigen gepriesen. Auf Grund dieser Gemeinsamkeit werden die drei großen monotheistischen Weltreligionen oftmals auch als abrahamitische Religionen bezeichnet.

Nach übereinstimmender Überlieferung der Bibel und des Korans wurde Abraham (Ibrahim) einstmals auf eine ungewöhnliche und in seiner Konsequenz äußerst grausame Glaubensprobe gestellt (1). Durch einen Befehl Gottes wurde er nämlich aufgefordert, seinen Sohn Isaak — „deinen einzigen, der dir ans Herz gewachsen ist“ — an einem vorher genau bestimmten Ort zu töten und ihm als Brandopfer darzubringen, ohne dass eine nähere Begründung für diese schreckliche Forderung gegeben wurde (2).

Nach der Schilderung des Alten Testaments zögerte Abraham bei der Ausführung dieses Befehls nicht, gehorchte und bereitete zielstrebig die Opferung des Sohnes vor. Doch erst als sich seine Tötungsabsicht eindeutig erkennen ließ, indem er den gefesselten Isaak auf den für das Brandopfer vorbereiteten Altar legte und nach dem Messer griff, rief im letzten Moment eine Stimme vom Himmel herunter:

„Halt ein! Tu dem Jungen nichts zuleide! Jetzt weiß ich, daß du Gott gehorsam bist. Du warst bereit, mir sogar deinen einzigen Sohn zu opfern“ (3).

Auch nach Aussage des Korans war Ibrahim (Abraham) sofort bereit, Allahs Willen zu erfüllen, und ihm seinen eigenen Sohn, das Wertvollste was er besaß, bereitwillig zu opfern (4).

Die „Abraham-Geschichte“ besitzt eine über den religiösen Bereich hinausgehende Bedeutung und weist auf ein grundlegendes Menschheitsproblem hin, das sich als Verhältnis von Autorität und Gehorsam oder als Zusammenhang von Machtausübung und der Bereitschaft des Menschen zu willfähriger Unterwerfung gegenüber den Ansprüchen einer Autorität beschreiben lässt.
Für den Schriftsteller Arthur Koestler liegt genau hier der Ausgangspunkt für eine bis heute andauernde Tragödie.

Autorität, Gehorsam und das Bedürfnis nach Gemeinschaft und Zugehörigkeit

Koestler erkannte das Opfern von Menschen als ein in der Geschichte der unterschiedlichsten Kulturen häufig anzutreffendes Ritual. Er charakterisierte es jedoch nicht als Äußerung irgendeines Aggressions- oder Grausamkeitstriebes des Menschen, sondern als generellen „Ausdruck einer wahnhaften Tendenz der menschlichen Psyche“ (5). Wie anders — als wahnhaft — sollte man denn das Verhalten von Abraham bezeichnen, der dazu bereit war, einem Gott, dem er den Befehl zur Schlachtung seines eigenen, geliebten Kindes tatsächlich zutraute, auch weiterhin bedingungslos zu gehorchen?

Da — nach Koestlers Auffassung — ein großer Teil der Gesellschaft schon immer bereit war, aus Ergebenheit gegenüber einem religiösen Glauben, gegenüber einer politischen Überzeugung, gegenüber einem Führer oder manchmal sogar gegenüber einer Fahne, zu töten und mitunter auch zu sterben, sei die Tragödie des Menschen eben „nicht in seiner Aggressivität, sondern in seiner Hingabe an überpersönliche Ideale“ begründet (6).

Unzählbar sind die Massen von Menschen, die im Laufe der Geschichte „zum höheren Ruhme von irgendetwas“ — einer „wahren Religion“, einer „großen Idee“ oder einer angeblich „gerechten Sache“ — massakriert und getötet wurden. Meist geschah das auch mit gutem Gewissen und ohne jegliches Schuldgefühl seitens der Täter.

Die Ursache für dieses Verhalten kann damit — nicht unbegründet — in der oft bereitwilligen Unterwerfung des Menschen gegenüber einer Autorität sowie in seiner bewussten Identifikation mit einer sozialen Gruppe und dem meist unkritischen Akzeptieren ihrer Glaubenssätze gesehen werden (7).

Während aggressiv-selbstbehauptendes Verhalten von der Gesellschaft vielfach missbilligt wird und die Betreffenden mitunter sogar außerhalb des Gesetzes stellt, wird dagegen ein streng Gläubiger, bei entsprechendem Verhalten, immer enger mit der Gemeinschaft seiner Kirche, Partei oder Nation verbunden, auch wenn er dafür viel von seiner persönlichen Identität aufgeben muss.

Für die überwiegende Mehrheit der Menschen lag deshalb auch „die einzige Befriedigung ihres Zugehörigkeitsbedürfnisses, die einzige Erfüllung ihrer Sehnsucht nach Gemeinschaft von jeher in der Identifizierung mit Sippe, Stammesgemeinschaft, Nation, Kirche oder Partei, in der Unterwerfung unter ihren Führer, in der Anbetung ihrer Symbole und im unkritischen, infantilen Akzeptieren ihres emotional gesättigten Glaubenssystems“ (8).

Die Aufgabe der persönlichen Identität führt aber — so Koestler — zu einem zunehmenden Verlust an Individualität sowie zu einem weitgehenden „Verzicht auf die kritischen Fähigkeiten und auf die persönliche Verantwortung“ (9).

Das Milgram-Experiment

Einige dieser Aussagen fanden später ihre praktische Bestätigung in einem von Stanley Milgram durchgeführten Experiment, das weltweit bekannt wurde und den programmatischen Untertitel „Zur Gehorsamsbereitschaft gegenüber Autorität“ trägt. Milgram griff in diesen Versuchsreihen, die an der psychologischen Fakultät der Yale University durchgeführt wurden, auf Personen zurück, die aus den verschiedensten Berufen kamen und die er zuvor über Zeitungsinserate kennengelernt hatte.

Im Laufe der Zeit waren mehr als tausend Teilnehmer an dem Experiment beteiligt. Später wurde es an mehreren Universitäten wiederholt (10). Die Grundkonzeption bestand darin, dass eine Versuchsperson Befehle erhält, deren Ausführung sie in wachsendem Maße in Gewissenskonflikte stürzen soll.

Die Kernfrage war, wie lange sich diese Person — unter dem Druck der Umstände — den Anordnungen der Autorität des Versuchsleiters fügen wird, und ab wann sie sich weigert, die geforderten Handlungen weiter auszuführen; ab wann sie also beschließt, nicht mehr zu gehorchen (11).

Konkret wurde den Versuchspersonen im Rahmen des Experiments befohlen, ihren eigentlich unschuldigen Opfern, im Interesse einer scheinbar guten Sache, zuerst geringe und dann immer stärker werdende Schmerzen, in Form zu verabreichender Elektroschocks, als Bestrafung für mangelhafte Lernleistungen zuzufügen.

Obwohl vorher befragte Wissenschaftler prophezeiten, dass sich nahezu alle Versuchspersonen weigern würden, den Anweisungen eines als Autorität auftretenden Versuchsleiters bis zuletzt zu folgen, sah das tatsächliche Ergebnis ganz anders aus. Die meisten von ihnen gehorchten, und es gelang ihnen scheinbar auch gut, sich über eigene Skrupel hinwegzusetzen.

Häufig entwickelte sich dabei ein Konflikt zwischen einer bereits in der Kindheit erworbenen Disposition, für die es eine schwere moralische Verfehlung darstellt, anderen Personen gegen ihren Willen Schmerzen zuzufügen, und der ebenfalls schon in der Kindheit tiefverwurzelten Tendenz, einer anderen, mit Autorität ausgestatteten Person, unbedingt Gehorsam leisten zu müssen. Für die Versuchspersonen ergab sich ein wahres Dilemma, deren hohe Gespanntheit bei diesem Experiment „auf eine beträchtliche Stärke der beiden gegensätzlichen Kräfte schließen“ lässt (12).

Die „vielleicht fundamentalste Erkenntnis“, die sich für Milgram aus den durchgeführten Untersuchungen ergab, lautet:

„Ganz gewöhnliche Menschen, die nur schlicht ihre Aufgabe erfüllen und keinerlei persönliche Feindseligkeit empfinden, können zu Handlungen in einem grausigen Vernichtungsprozeß veranlaßt werden. Schlimmer noch: selbst wenn ihnen die zerstörerischen Folgen ihres Handelns vor Augen geführt und klar bewußt gemacht werden und wenn man ihnen dann sagt, sie sollen Handlungen ausführen, die in krassem Widerspruch stehen zu ihren moralischen Grundüberzeugungen, so verfügen doch nur vereinzelte Menschen über genügend Standfestigkeit, um der Autorität wirksam Widerstand entgegenzusetzen. Eine Vielzahl von Hemmungen gegenüber dem Ungehorsam gegen Autorität spielt mit und sorgt erfolgreich dafür, daß einer nicht aufmuckt“ (13).

Konnten die Versuchspersonen — in einem parallel laufenden Experiment — jedoch die Intensität der Stromstöße selbst wählen, so zeigte sich, dass sie unter solchen Bedingungen weit weniger bereit waren, anderen Menschen körperliche Schmerzen zuzufügen. Der Grund, eine Person durch Verabreichung starker Elektroschocks zu bestrafen, kann somit nur schwer „mit einer autonom erzeugten Aggression“ oder einem tiefsitzenden Aggressionstrieb der menschlichen Natur beschrieben werden, sondern muss eher durch eine Umwandlung von Verhalten erklärt werden, die sich aus der tiefverankerten Gehorsamsbereitschaft vieler Menschen ergibt (14).

Im Verschwinden von Verantwortungsgefühl sieht Milgram zudem „die am weitesten reichende Konsequenz der Unterordnung unter eine Autorität“ (15), weshalb sich auch die meisten Versuchspersonen als nichtverantwortlich für ihre eigenen Handlungen begreifen konnten.

Auch sei die Behauptung unrichtig, dass ein Mensch, der nach den Befehlen einer Autorität handelt und dabei offensichtlich Gewissensnormen zu verletzen scheint, sein Moralgefühl zwangsläufig verlieren müsse.

Zutreffender sei dagegen die Annahme, dass sich die moralische Sorge eher auf andere Dinge verlagern wird, beispielsweise auf die Überlegung, inwieweit er selbst den Erwartungen entspricht, die die Autoritätsperson an ihn stellt (16). Die ihm übertragenen Aufgaben ordnungsgemäß zu erfüllen, wird dann zu einer moralischen Pflicht.

Moralisches Empfinden geht also nicht verloren, jedoch nimmt es eine ganz andere Richtung:

„Die untergeordnete Person empfindet Scham oder Stolz, je nachdem sie die von der Autorität verlangten Handlungen ausgeführt hat“ (17).

Bei den durchgeführten Versuchsreihen gab es immer wieder Teilnehmer mit festen Überzeugungen und völliger Kontrolle über ihr eigenes Verhalten, die zu einer Gehorsamsverweigerung gegenüber der Autorität des Versuchsleiters fähig waren und das Experiment aus eigener Entscheidung abbrachen. Die Mehrheit von ihnen tat dies jedoch nicht.

Eine der Versuchspersonen, die bei den zu verabreichenden Elektroschocks bis zum Äußersten gegangen waren, ist Mr. Gino, ein 43 Jahre alter Inspektor bei den Wasserwerken. Seine Aussagen zeigen in erschreckender Klarheit, wozu blinder Gehorsam sowie eine unterwürfige und gewissenlose Pflichterfüllung fähig sein können. So berichtete er den Wissenschaftlern von einem Gespräch mit seiner Frau, das er mit dieser nach Erhalt des Abschlussberichts über die durchgeführten Experimente geführt habe:

„‚Ich glaube, ich habe mich anständig und gehorsam verhalten und die Befehle ausgeführt, wie ich das immer tue‘. Also sagte ich zu meiner Frau: ‚Siehst du, das ist es. Und ich glaube, daß ich meine Sache gut gemacht habe‘. Sie sagte: ‚Ja, aber nimm mal an, der Mann wäre wirklich tot gewesen?‘ Mr. Gino hatte ihr geantwortet: ‚Dann wäre er eben tot gewesen. Ich habe nur meine Pflicht getan‘“ (18).

Milgram bezeichnet es schließlich als eine „bittere Ironie, daß die Tugenden der Loyalität, der Disziplin und der Selbstaufopferung, die wir am einzelnen so hoch schätzen“ und die für uns eine zutiefst moralische Bedeutung besitzen, auch „genau die Eigenschaften sind, die eine organisierte Kriegs- und Vernichtungsmaschinerie schaffen und Menschen an bösartige Autoritätssysteme binden“ (19).

Während es das Individuum meist gelernt habe, „die Äußerungen seiner aggressiven Triebe zu hemmen“, habe die menschliche Kultur „nahezu völlig darin versagt, innere Hemmungen für Handlungen einzubauen, deren Ursprung in einer Autorität liegt“ (20).

 

Quellen und Anmerkungen:

(1) 1 Mose 22,1-18; Sure 37:100-109. (Der Koran. Leipzig 1980).
(2) 1 Mose 22,1-2. Nach muslimischer Ansicht sollte jedoch nicht Isaak, sondern Abrahams ältester Sohn Ismael, der im Islam als Prophet gilt, geopfert werden.
(3) 1 Mose 22,12.
(4) Sure 37:101-106.
(5) Koestler, Arthur: Der Mensch — Irrläufer der Evolution. Die Kluft zwischen unserem Denken und Handeln — eine Anatomie menschlicher Vernunft und Unvernunft. München 1981, S. 15.
(6) Koestler, a.a.O., S. 94.
(7) Koestler, a.a.O., S. 96.
(8) Koestler, a.a.O., S. 112.
(9) Koestler, a.a.O., S. 112f.
(10) Milgram, Stanley: Das Milgram-Experiment. Zur Gehorsamsbereitschaft gegenüber Autorität. Reinbek bei Hamburg 2003, S. 18f.
(11) Milgram, a.a.O., S. 19f.
(12) Milgram, a.a.O., S. 58; S. 56.
(13) Milgram, a.a.O., S. 22.
(14) Milgram, a.a.O., S. 91.
(15) Milgram, a.a.O., S. 25.
(16) Ebd.
(17) Milgram, a.a.O., S. 170.
(18) Milgram, a.a.O., S. 108.
(19) Milgram, a.a.O., S. 216; S.170.
(20) Milgram, a.a.O., S. 171.

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Kommentare
  • heike
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    Ich glaube, dass Gehorsam dem Menschen antrainiert wird. Sich in vernünftige Abläufe einzufügen, ist ja notwendig und normal. Gehorsam aber wird trainiert, indem man dem Menschen Schmerzen zufügt oder verständlich macht, welche Schmerzen er zu erleiden hätte, sollte er den Gehorsam verweigern. Zur Gehorsamsverweigerung braucht man zunächst ein Bewusstsein darüber, also eine eigene Urteilsfähigkeit, ober der zu befolgende Befehl moralisch/ethisch/menschlich vertretbar ist oder nicht. Dann braucht man die Energie, dem Befehlsgeber widersprechen zu können. Notfalls kann man noch in Ohnmacht fallen, aber wenn man gelernt hat, dass danach mit Strafen zu rechnen ist, tut man das auch nicht.

    Am besten ist es, nicht in Hierarchien zu geraten, in denen über Machtstrukturen Gehorsam eingefordert wird.

    Menschen können so grausam zueinander sein, man fragt sich wirklich, wie solche ungesunden Verhaltensweisen überleben können – mit einer menschlichen Evolution hat das nichts zu tun.

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